9punkt - Die Debattenrundschau

En passant mal

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.10.2022. Die Berliner Zeitung und Cicero entblödeten sich nicht, dem Eurotroll Viktor Orban eine große Bühne zu geben. Heute stellt die Berliner Zeitung die Nachfrage: Sollte man Orban eine derartige Bühne geben?  Auch der Fußballclub 1. FC Union, eine weitere Institution des Berliner Ostens, schmückte sich mit dem Autokraten, berichtet die taz. Russland verliert nicht zum ersten Mal seinen Verstand: Viktor Jerofejew erinnert an das "Philosophenschiff", mit dem vor genau hundert Jahren Lenin jene Intellektuelle, die er nicht erschoss, in den Westen schickte. Die FAZ fragt außerdem: Wem gehört die Rabbiner-Ausbildung in Deutschland?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.10.2022 finden Sie hier

Europa

Berliner Zeitung-Verleger Holger Friedrich und Cicero-Verleger Alexander Marguier entblödeten sich nicht, dem Eurotroll Viktor Orban Anfang der Woche eine große Bühne zu geben. Das Gespräch mit Orban soll Auftakt einer Serie von Verlegergesprächen mit dem Titel  "Sturm über Europa - der Ukrainekrieg, die Energiekrise und geopolitische Herausforderungen" sein. Heute fragt die Berliner Zeitung: Darf man das? "Man muss sogar", behauptet Chefredakteur Tomasz Kurianowicz: "Wir leben in einem Klima, in dem Journalismus von vielen als Mittel dafür verstanden wird, sich dem Zweck einer Agenda zu verschreiben, ja, im Sinne des Guten selbst Politik zu betreiben. Und nicht dafür, vor allem der Informationsvermittlung zu dienen." Man muss also Protofaschisten eine Bühne geben, um das Publikum zu informieren!

Die Information sah so aus: Im Gespräch mit dem Besitzer des Blattes, dem Millionär und ehemaligen Stasi-IM Holger Friedrich, plädierte Orban für eine Feuerpause zwischen Russland und der Ukraine, kritisierte die EU, die Kriegsparolen für die Ukraine wiederhole, "'die ihnen von den US-Medien' eingetrichtert würden" und ließ verlauten, die "Hoffnung für den Frieden" heiße Donald Trump, so liest sich das Resümee des Gesprächs, von dem man einen 6-minütigen Ausschnitt auf Youtube hören kann.

Im Interview mit Hanno Hauenstein, das die Berliner Zeitung heute online nachreicht, vielleicht um keinen falschen Eindruck zu erwecken, findet die in den USA lehrende Politologin Jelena Subotić deutliche Worte gegenüber Orban. Orban wolle die "totale Kontrolle über das Leben aller Menschen, um seine Macht zu sichern", sagt sie, plädiert aber dafür, dass Ungarn in der EU bleiben müsse, sonst könne zu "einem zweiten Russland" werden. Der Revisionismus habe mit dem Ende des Kommunismus 1989 begonnen, fährt Subotic fort: "Die neuen Eliten mussten zeigen, dass sie ganz anders sind als der Kommunismus. Und so stellten sie den Kommunismus als linksextreme Ideologie dar, von der man sich entfernte, indem man sich rechtsextremer Ideologie zuwandte. Die neuen Regierungen beschlossen, ethnischen Stolz, Religion, Christentum und alles, was der Kommunismus verboten hatte, wieder stark zu machen."

Die Berliner Zeitung war nicht die einzige Institution des Berliner Ostens, die sich mit Viktor Orban schmückte. Auch der Stolz der Stadt, der Bundesliga-Tabellenführer 1. FC Union, schickte rührende Selfies, berichtet Gareth Joswig in der taz: "Der Club hat am Dienstag en passant mal eben einen rassistischen Autokraten hofiert: In gemütlich wirkender Runde saß der nationalistische Ministerpräsident Ungarns zusammen mit dem ungarischen Union-Spieler András Schäfer und dem Vereins-Sprecher Christian Arbeit in einer Loge auf der Haupttribüne des Stadions an der Alten Försterei. Und zwar nicht in irgendeiner Loge, sondern in der mit der Nummer 78, die dem Vereinspräsidenten Dirk Zingler gehört."

Die jüngsten russischen Raketenangriffe haben in der Ukraine Energie-Infrastrukturen getroffen. Die Ukrainer müssen Strom sparen, bis die Schäden behoben sind, berichtet ein Reporterteam in der FAZ: "Bis der Strom wieder stabil und ohne bedeutende Einschränkungen verfügbar ist, werden nach Angaben des Netzbetreibers Ukrenergo wenigstens noch einige Tage vergehen - unter der Voraussetzung, dass weitere Angriffe dieser Größenordnung ausbleiben. Im russischen Fernsehen überschlagen sich derweil die Teilnehmer von Talkshows mit der Forderung, die Energieinfrastruktur der Ukraine mit wochenlangen täglichen Angriffen vollständig zu zerstören und das Land in Kälte und Dunkelheit versinken zu lassen." Die russische Kriegsführung  fassen die Autoren so zusammen: "Das Hauptziel waren Wärmekraftwerke."

Im Interview mit der Zeit überlegt der ukrainische Historiker Serhii Plokhy, dessen Geschichte der Ukraine, "Das Tor Europas", gerade auf Deutsch erschienen ist, was uns die Kubakrise 1962 über den Umgang mit Putins Atomkriegs-Drohungen lehren kann: Putin verhalte sich "wie Chruschtschow vor dem 28. Oktober 1962: Er droht unverhohlen mit nuklearen Waffen. Was Chruschtschow zur Deeskalation zwang, war die Erkenntnis, dass die amerikanische Reaktion verheerend sein würde, dass der Preis unvorstellbar hoch wäre. Ich denke, das gilt es auch heute unmissverständlich klarzustellen."
Archiv: Europa

Kulturmarkt

Die SZ widmet ihren Feuilleton-Aufmacher der Papierknappheit und den damit verbundenen steigenden Preisen, die auch vor der Buchbranche nicht halt machen wird. Lothar Müller hat mit Vertretern der Branche gesprochen, darunter mit Hanser-Verleger Jo Lendle: "Buchverlage haben es versäumt, die Preise mit der Inflation Schritt halten zu lassen. Das lag an der Angst, irgendjemanden zu verlieren. Inzwischen steht der Buchhandel vor uns und fordert: Macht unsere Bücher teurer!" Manfred Metzner vom Verlag das Wunderhorn, wendet allerdings ein: "'Wir können (…) die Verkaufspreise nicht so weit erhöhen, wie wir eigentlich müssten, um kostendeckend zu werden.' Und fügt eine eher bittere Bemerkung hinzu: 'Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung ist eine strukturelle Förderung von unabhängigen Verlagen festgeschrieben worden. Davon haben wir nichts mehr gehört.'" Der Anteil der E-Books an den Gesamtverkäufen hat sich bei den Publikumsverlagen bei zehn, elf Prozent eingependelt, bei einigen liegt er höher, informiert Müller. Vielleicht würde sich das ändern, wenn E-Books nicht fast so teuer wären wie gebundene Bücher?
Archiv: Kulturmarkt

Geschichte

"Wieder einmal verliert Russland den Verstand", konstatiert der große Viktor Jerofejew und meint das wörtlich: Jeder junge Mann, der einigermaßen bis drei zählen kann, sucht augenblicklich Fluchtwege aus Russland. Jerofejew nutzt den Exodus, um an die Episode des "Philosophenschiffs" vor genau hundert Jahren zu erinnern. Lenin und Trotzki bewiesen ihren "Humanismus", indem sie einige missliebige Intellektuelle nicht einfach erschossen oder nach Sibirien schickten, sondern in ein Schiff Richtung Westen verfrachteten, darunter etwa den Philosophen Nikolai Berdjajew. "In dieser Liste fand sich auch Putins Lieblingsphilosoph Iwan Iljin, antisowjetisch bis zu einem Grad, dass er später Hitler als Kämpfer gegen den Kommunismus guthieß. Auf Putins Anordnung hin wurde die Asche Iljins aus der Schweiz nach Moskau überführt und feierlich beigesetzt. Die Asche Berdjajews verblieb auf einem Friedhof bei Paris." In Jerofejews Text finden sich zwei weitere Sätze, die so traurig schön sind, dass wir sie zitieren müssen: "Die Hoffnung ist der Feind jedes Emigranten. Sie saugt alle Kraft aus ihm."

Von 1949 bis 1990 zündete die Sowjetunion 715 Atomsprengsätze, erinnert der Historiker Stefan B. Kirmse in der NZZ. Kritische Stimmen wurden verschwiegen, die Gefahr von Atomkraft verharmlost: "Bei allen Sprengungen täuschte die verniedlichende Bezeichnung der friedlichen nuklearen Explosionen darüber hinweg, dass letztlich Atombomben gezündet wurden, zum Teil mit der zehnfachen Sprengkraft von jener von Hiroshima. Die Bomben zeigten das utopische Denken und die Rücksichtslosigkeit nicht nur der politischen Führung, sondern auch der sowjetischen Natur- und Ingenieurwissenschaft, die vom System in großem Maße profitierte. Wenn die Sowjetunion ein Imperium war, dann war sie auch ein Imperium der Ingenieure."
Archiv: Geschichte

Medien

"Wir sind schließlich kein Club von reinen Schöngeistern und kein Eliteverein", erklärt Deniz Yücel den Einsatz des PENs für Julian Assange. Wenn es um die Freilassung von Assange geht, heuchelt der Westen, fährt er im FR-Gespräch mit Bascha Mika fort: "Das Versprechen von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit muss vor dem Hintergrund von Folterlagern wie Abu Ghraib und Guantánamo betrachtet werden. Assange hat über diese Verbrechen berichtet, was die Glaubwürdigkeit des Westens untergraben hat. Und wie dann mit ihm umgegangen wurde, hat die Glaubwürdigkeit noch weiter beschädigt. Klar kann Putin jetzt sagen: Was regt ihr euch über meinen Umgang mit dem Schriftsteller Dmitri Glukhowsky auf, ihr macht es doch genau so! Es ist nicht nur Assange, der für die westliche Heuchelei mit seiner Unfreiheit bezahlt. Auch der Westen zahlt einen Preis. Schon deshalb muss Julian Assange endlich freikommen!"
Archiv: Medien

Religion

In einem interessanten Hintergrund erzählt Christoph Schulte in der FAZ, wie sich der Rabbiner Walter Homolka mit seinem Potsdamer Abraham Geiger Kolleg (AGK) eine nicht legitimierte Machtposition innerhalb des deutschen Judentums aufgebaut hatte. Ins Gerede kam das AKG zunächst wegen Vorwürfen sexueller Belästigung gegen Homolkas Ehemann. Schulte zeigt auf, dass das AKG rechtlich keine Hochschule oder Ähnliches ist, sondern schlicht eine gemeinnützige GmbH, die allein Homolka gehört. Dennoch wurde das AKG in Zusammenarbeit mit der Uni Potsdam zu einem maßgeblichen Institut liberaler Rabbiner-Ausbildung. Nur dass niemand außer Homolka Homolka kontrollierte: "Das AGK war von 1999 bis 2022 seine Firma. Er muss sich für die Personalentscheidungen, die er im AGK trifft, vor niemandem verantworten. Umgekehrt heißt das: Der Geschäftsführer und 'Rektor' des AGK hatte und hat qua Amt keine jüdisch-institutionelle Legitimation, gegenüber Universität und Ministerium für die jüdische Religionsgemeinschaft oder das liberale Judentum zu sprechen. 'Rektor' Homolka repräsentiert nur seine Firma. Darüber haben sich Politik, Ministerien und Universität zwei Jahrzehnte lang getäuscht."
Archiv: Religion

Ideen

Gendersensibilität führt zu einer Inflation der Sonderzeichen, denen eine große Bedeutung aufgepropft wird, beobachtet die Literaturwissenschaftlerin Dagmar Lorenz in der FAZ. Sie liest und verwirft universitäre Leitlinien für Gendergerechtigkeit in der Sprache: "Ebenso wie das 'Binnen-I' oder der in die Wortmitte eingefügte Doppelpunkt soll das 'Sternchen' für moralische Werte, subjektive Emotionen ('wertschätzend') und gesellschaftspolitische Konzepte ('Gleichberechtigung') stehen. Sein Gebrauch, so wird suggeriert, ist dazu geeignet, erwünschte Gedanken und Gefühle bei Autoren und ihren Lesern hervorzurufen. Diese Überfrachtung banaler Satzzeichen, Buchstaben und Schreibweisen mit geradezu hybriden Ansprüchen weist Züge eines fast schon sprachmagischen Wunschdenkens auf."
Archiv: Ideen
Stichwörter: Gleichberechtigung, Inflation