9punkt - Die Debattenrundschau

Das Zentrum von der Peripherie her bearbeiten

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.10.2022. Heinrich August Winkler macht in der FR klar, warum Verhandlungen im Ukraine-Krieg zum jetzigen Zeitpunkt unmöglich sind: Putin will nicht einlenken. Und ein "Einlenken" der Ukraine schüfe eine extrem gefährliche Situation. Verschiedene Medien schildern, wie schwer es Putin mit der Mobilisierung hat. Arnd Pohlmann fragt in Dlf Kultur, warum die hiesige Linke bei der Unterstützung der iranischen Frauen so zahnlos ist. Die FAZ erzählt, wie Frankreich dem Problem des Dschihadismus begegnet.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.10.2022 finden Sie hier

Europa

Um Verhandlungen mit Putin wird die Welt nicht herumkommen, meint Gereon Asmuth in der taz, und fordert sie im Sinne des Artikels 33 der UN-Charta: "Streitigkeiten, deren Fortdauer geeignet ist, die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu gefährden, heißt es dort, sollen durch Vermittlung, Vergleich, Schiedsspruch beigelegt werden." Die Einwände nimmt Asmuth auch in den Blick: "Aber, wird an dieser Stelle gern eingewandt, mit Hitler wurde zum Glück auch nicht verhandelt. Stimmt. Aber das Deutsche Reich verfügte auch nicht über Atomwaffen und konnte in einem konventionellen Krieg besiegt werden. Aber, sagen andere, Putin will doch gar nicht verhandeln. Stimmt, wenn auch nicht ganz. Es gab schon erfolgreiche Gespräche über einen Gefangenenaustausch. Das ist nicht mehr als ein Anfang, aber immerhin. Aber, werfen Dritte ein, muss man Putin nicht etwas anbieten und kann die Ukraine dazu gezwungen werden? Ohne Zustimmung der Ukraine geht selbstverständlich gar nichts. Ohne Kompromiss aber auch nicht."

Der Historiker Heinrich August Winkler benennt im FR-Gespräch mit Michael Hesse das Dilemma der jetzigen Situation, das Verhandlungen ausschließt. Dies hier ist keine "Kubakrise", meint er: "Das Russland Putins ist keine Macht des territorialen Status quo, sondern eine revisionistische Macht". Chruschschow sei  noch in der Lage gewesen, vernünftig zu handeln. "In dem Augenblick, in dem Chruschtschow zu erkennen gab, dass er eine solche Konfrontation nicht wollte, wurde der Ausgleich möglich. Dieser Moment ist im Augenblick nicht gegeben. Es gibt keinerlei Anzeichen für ein Einlenken Putins. Ein 'Einlenken' der Ukraine, also ihre Kapitulation vor der russischen Aggression, schüfe für den gesamten Westen eine extrem gefährliche Situation. Deshalb gilt es weiterhin, die Kampfstärke der Ukrainer zu stärken."

Über Verhandlungen würden sich sicher die jetzt in Russland Eingezogenen freuen - Friedrich Schmidt schildert in der FAZ regelrechte Jagdszenen, auch in Moskau oder Sankt Petersburg: "In Betrieben, Obdachlosenunterkünften oder vor U-Bahn-Stationen würden Einberufungsbescheide verteilt. Auf Telegram werden Bilder von Polizisten verbreitet, die junge Leute stoppen. Manche würden gleich im Polizeiwagen weggefahren. Polizisten begleiten auch manche Männer zum Einberufungspunkt im Roman-Wiktjuk-Theater."

Putin lässt bekanntlich gern Angehörige ethnischer Minderheiten wie etwa die Burjaten einziehen, die sich allerdings ebenfalls immer öfter entziehen. Putins Imperialismus nach innen verändert auch die Beziehungen Russlands zu seinen Nachbarländern im näheren und ferneren Osten, schreibt Emily Couch in Foreign Policy: "Die Mongolei - ein ehemaliger Satellitenstaat der Sowjetunion - hat für ihre Unterstützung von Russen, die vor der Wehrpflicht fliehen, viel Lob geerntet, insbesondere von indigenen Völkern aus dem Fernen Osten. 'Wir fühlen uns dem Volk der Burjaten sehr verbunden', sagt der mongolische Journalist Anand Tumurtogoo, der die kulturellen Ähnlichkeiten und die grenzüberschreitenden familiären Bindungen zwischen der Mongolei und der sibirischen Republik hervorhebt."

Ein weiterer Beleg für diese These:

Zwei Artikel befassen sich im FAZ-Feuilleton mit der Frage, wie Frankreich zwei Jahre nach dem Mord an Samuel Paty mit sich radikalisierenden Schülern und Schülerinnen und mit Dschihadisten im Gefängnis zurechtkommt: Niklas Bender erzählt vom Kampf gegen "sittsame Kleidung". Während im Iran Frauen für die Befreiung vom Kopftuch ihr Leben riskieren, gibt es in Frankreich eine ganze Szene von Influencerinnen, die bei Tiktok oder Instagram das Kopftuch als Zeichen des Widerstands inszenieren: "Mädchen in der Pubertät zeigen Techniken, verschleiert zu bleiben, oder erklären, wie man den Schleier sittsam ablegt; das Ganze ist mit Rapmusik unterlegt. Der Böse ist eindeutig der laizistische Staat. Die Like-Zahlen der Influencerinnen, die Hunderttausende erreichen, lassen auf eine enorme Resonanz schließen."

Marc Zitzmann erzählt im zweiten Artikel, wie sich Frankreich vom strafenden Zentralstaaat hin zu einem Modell der Sozialarbeit entwickelt hat, mit dem Dschihadisten im Gefängnis der Hass abgewöhnt werden soll. "Es gibt Ausflüge ins Museum oder in den Zoo, man spielt Basketball oder flaniert am Ärmelkanalstrand, immer in Begleitung eines oder zweier Mentoren. Manchmal bearbeiten diese 'das Zentrum von der Peripherie her', sprechen über Hobbys und geben Persönliches preis. Manchmal gehen sie Inhalte der dschihadistischen Weltanschauung frontal an."
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Ideen

Warum ist die hiesige Linke so zahnlos in der Unterstützung der iranischen Frauen, wo bleibt Annalena Baerbocks "feministische Außenpolitik", fragt der Philosoph Arnd Pollmann in einem Denkstück für Dlf Kultur. Zwei Maximen der Aufklärung geraten für ihn bei der Linken in Widerspruch: einerseits das Plädoyer des Aufklärung für universelle Werte, andererseits die Skepsis aller Aufklärung gegen absolute Wahrheiten, die in Relativismus führen kann: "Die Herausforderung liegt darin, skeptisch zu bleiben und sich doch zugleich ein Plädoyer für universelle Wertansprüche zuzutrauen. An diesem Punkt muss sich die Aufklärung über sich selbst aufklären, sonst bleibt sie auf halbem Wege in Platons Höhle stecken." Wo anscheinend auch die neuen Feministinnen zu schmoren scheinen.
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Medien

Russische und belarussische Exilmedien wie Zerkalo (Nachfolger der belarussischen Plattform tut.by) und Nowaja.Europa würden sehr gern viel stärker von Berlin aus agieren - bisher haben sie vor allem in baltischen Ländern Asyl gefunden, schreiben Katja Gloger und Georg Mascolo in der SZ. Verschiedene Stellen der Bundesregierung haben auch ihre Offenheit proklamiert. In der Praxis aber klappt es nicht: "Für die eingetretenen Verzögerungen machen sich die beteiligten Ministerien und Behörden wechselseitig verantwortlich. Es entsteht der Eindruck, dass politische Versprechen und behördliche Praxis auseinanderklaffen - wieder einmal, wie im Fall der afghanischen Ortskräfte. Und sollte die moralische Lektion aus diesem Versagen schon vergessen sein: Unabhängige russische Medien zu unterstützen, Journalistinnen und Journalisten willkommen zu heißen, ist in der nun wohl lange dauernden Auseinandersetzung mit Russland von herausragender Bedeutung."

Adieu Print in Sozialen Medien. Facebook wird seine "Instant Articles" einstellen, ein Format, das es Medien erlaubte, sich auf  Facebook besonders prominent darzustellen, berichtet Sara Fischer bei axios.com. Auch Google "erklärte letztes Jahr, dass es Nachrichtenartikel, die das AMP-Format (Accelerated Mobile Pages) verwenden, in der Rangliste nicht mehr bevorzugen würde, was das Aus für dieses Format bedeutet. Zwischen den Zeilen: Da immer mehr soziale Plattformen wie Meta auf vertikale Kurzvideos setzen, investieren die meisten Verleger ohnehin in Videoinhalte für diese Plattformen."
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Politik

Xi Jinping möchte sich an diesem Wochenende für eine dritte Amtszeit krönen lassen. Aber der Aufschwung Chinas ist gebremst, das Ansehen des Landes gesunken, beobachtet die FAZ-Korrespondentin Friederike Böge. Und "am Horizont zeichnet sich bereits die nächste Krise ab. Dem Land steht eine rasante Schrumpfung der Bevölkerung bevor. Eine Prognose der Schanghaier Akademie der Sozialwissenschaften geht davon aus, dass die Einwohnerzahl von derzeit 1,4 Milliarden bis zum Jahr 2100 auf 587 Millionen Menschen sinken könnte. Auf die Privathaushalte kommen immense Kosten zu, weil das Rentensystem und die Krankenversicherung bisher nur rudimentär entwickelt sind. In Teilen der Mittelschicht machen sich schon Abstiegssorgen breit."
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Kulturmarkt

Die steigenden Preise machen auch vor der Buchbranche nicht Halt. Die Produktionskosten dürften im kommenden Jahr rund um ein Drittel höher ausfallen, schreibt Richard Kämmerlings im Aufmacher der Literarischen Welt, die morgen der WamS beliegt. "Die Verlagsbranche, die in den letzten Jahren auf die Digitalisierung und E-Bookisierung gestarrt hat wie das Kaninchen auf die Schlange, wird in diesen Monaten von der Materie eingeholt. 'Papier ist ein energieintensives Material, das lernen wir gerade deutlicher als wir es jemals wollten', sagt Jo Lendle, der Verleger des Hanser Verlags." Hinter den Kulissen wird gerade händeringend nach Möglichkeiten gesucht, die Preise nicht allzu schmerzhaft an die Kunden weiterzugeben. "Einen Grund für die lange Zurückhaltung bei den Preisen sieht Lendle im 'Sendungsbewusstsein' der Branche. 'Wir wollen niemanden ausschließen, der es sich nicht leisten kann.'" Im englischsprachigen Raum ist im übrigen zu beobachten, dass E-Books in der Regel deutlich günstiger sind als die Printbücher - während sie in Deutschland meist marginale Preisunterschiede aufweisen.

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