9punkt - Die Debattenrundschau

Grüner, kühler und gesünder

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.10.2022. Warum interessiert sich der hiesige Kulturbetrieb, sonst vehement für Geschlechtergerechtigkeit, so gar nicht für den Aufstand im Iran, fragt in der Zeit Navid Kermani. In der Welt erinnert Daniel Haas daran, was ein Suizid für die Zurückbleibenden bedeutet. Die SZ fürchtet, dass die linke Besetzung des Klimaschutzes eher verschreckt als ermuntert. FAZ und SZ stellen außerdem zwei stadtplanerische Klimaprojekte in Rotterdam und in Paris vor. Aber ob das die Zukunft des Wohnungsbaus für die Massen sein kann? Netzpolitik ruft der EU entgegen: Stop scanning me.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.10.2022 finden Sie hier

Europa

Der Aufstand im Iran geht ungebrochen in die fünfte Woche. Aber in Deutschland scheint er nur wenig zu interessieren, ärgert sich Navid Kermani in der Zeit. "Nicht einmal im Kulturbetrieb, wo sonst resolut für Geschlechtergerechtigkeit und gegen jedwede Diskriminierung gestritten wird, hört man etwas zu den Protesten im Iran: keine Theater, die ihr Programm ändern, ausschließlich Autoren mit iranischem Hintergrund, die die Bundesregierung für ihre Iranpolitik anklagen, keine Kinos, die an die verhafteten Berlinale-Gewinner im Iran erinnern. Der Sport? Frauen dürfen keine Fußballstadien betreten, Sportlerinnen sind bei internationalen Wettkämpfen durch ihre Zwangskleidung gehandicapt, und Fußballprofis sitzen wegen ihrer regierungskritischen Tweets im Evin-Gefängnis ein. Aber nicht einmal in Dortmund hat die Ermordung der 16-jährigen Demonstrantin Sarina Esmailzadeh, die eine treue Anhängerin des BVB war, für eine Trauerminute genügt. Nur einige beherzte Fans erinnerten mit einem Plakat an sie. Und die Politik? Annalena Baerbock wird auf dem Parteitag der Grünen frenetisch gefeiert, obwohl sie mit ihrem langen Schweigen zu den Protesten den Offenbarungseid ihrer feministischen Außenpolitik geleistet hat."
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Gesellschaft

Der Klimaschutz als gesamtgesellschaftliches Projekt könnte so viel weiter sein, wenn er nicht so von links besetzt wäre, seufzt Philipp Bovermann in der SZ. Es gibt auch bei Konservativen viele Naturschützer, aber die, meint er, werden von der linken Rhetorik abgeschreckt: "Umfragen belegen regelmäßig, wie wichtig der Schutz der Natur und des Klimas vielen Menschen ist. Sie scheinen nur denen nicht zu vertrauen, die ihn auf ihre Demo-Transparente schreiben, gleich neben 'System Change' (statt 'Climate Change'). Sie fürchten diese Rettung mehr als die Gefahr, wenn es Klimaschutz nur mit Genderstern und einem bunten Strauß weiterer Anliegen gibt. Greta Thunberg teilte Anfang des Monats einen Tweet von 'Fridays for Future', der einen Boykott der 'israelischen Apartheid' forderte."

Daniel Haas schaltet sich in der Welt aus sehr persönlicher Perspektive in die Debatte um Sterbehilfe ein. Seine beiden Eltern haben sich das Leben genommen, sein Vater weil er als Unternehmer die Schmach des Bankrotts nicht ertragen wollte, seine Mutter viele Jahre später, weil sie unter Depressionen litt. Wer sich das Leben nimmt, habe die Nachkommen nicht im Blick, schreibt Haas: "Er ist konzentriert auf sein eigenes Befinden und erklärt erschöpft wie Godard den Kindern und Kindeskindern, dass bei ihm nichts mehr zu holen sei. Selbstmörder 'drehen sich heim', wie die Österreicher sagen. Ihr Zuhause liegt im Jenseits. Im Diesseits sind sie unbehaust geblieben, und dort lassen sie dann ihr Leben und alle anderen zurück. Für Aussprachen, Korrekturen, Debatten stehen sie nicht mehr zur Verfügung. 'Der Suizidäre beansprucht eine Verfügungsgewalt über sich, die Welt und auch über den Schmerz der Zurückbleibenden', schreibt Roger Willemsen in seinem Buch 'Der Knacks'. Sehr gut kann man diese Anmaßung bei Heinrich von Kleist studieren. Wie er heiter, mit viel rhetorischem Elan, seiner Schwester schreibt, dass ihn 'ein Strudel nie empfundener Seligkeit' ergriffen habe und dass das Grab jener Frau, die er zum Suizid überredet hatte, ihm 'lieber ist als die Betten aller Kaiserinnen der Welt', das verschlägt mir beim Lesen jedes Mal die Sprache. Und genau das soll wohl der Effekt solcher Abschiedsprosa sein: die Hinterbliebenen mundtot zu machen. Klarzustellen, dass im Angesicht der eigenen Todessehnsucht keine Argumente mehr zählen, auch jenes nicht, man liebe den Selbstmörder und wolle ihm helfen.
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Kulturpolitik

Wie der Klimakrise begegnen, das fragt sich auch die Stadt Rotterdam und will mehr Natur, samt Igeltreppen und zirkulärem Wassersystem in die Stadt bringen will, erzählt Laura Weißmüller in der SZ. "Die Stadtverwaltung hat 'naturinklusive'-Planung zum Credo für ihre Entwicklung gemacht. 'Stärker durch 7 Projekte' heißt der 364 Millionen Euro teure Plan, der die Hafenstadt in den nächsten Jahren grüner, kühler und gesünder machen soll. Das ambitionierte Programm ergänzt die Pläne Rotterdams, sich - wie viele Metropolen weltweit - zu einer sogenannten Schwammstadt umzubauen. Zu den sieben Plätzen, Straßenzügen und Parks in Rotterdam gehört auch der 'Hofbogenpark', den van Peijpe und sein Team zusammen mit DS Landschapsarchitecten und De Dakdokters entwickelt haben und dessen Bau 2023 beginnen soll. Es ist Rotterdams Antwort auf die High Line in New York, jene zum Park umfunktionierte ehemalige Hochbahntrasse, die das Versprechen nach Natur in der Stadt mit ihrer Eröffnung 2009 scheinbar so spektakulär eingelöst hat."

In Paris blickt FAZ-Kritiker Niklas Maak auf ein ähnliches Projekt: die "Ferme du Rail" im 19. Arrondissement, die an den stillgelegten Gleisen liegt, die einst als Stadtbahn die Pariser Bezirke verbunden hat. Entstanden ist hier "ein innerstädtischer Bauernhof mit Gewächshaus, Permakulturgarten, Pilzzucht und einem öffentlichen Restaurant, in dem unter anderem die Ernte aus dem Garten serviert wird. Vor Ort wird kompostiert, die Kreislaufwirtschaft soll Ressourcenverbrauch und Energieaufwand auf ein Minimum reduzieren: Der Innenstadtbauernhof lässt organische Abfälle aus dem ganzen Viertel abholen. Zur 'Ferme du Rail' gehört ein Haus mit 15 Sozialwohnungen und fünf Wohnungen für Studenten, in denen vor allem Menschen untergebracht werden, die unter psychischen Problemen wie Depressionen litten und darüber Arbeit und Wohnung verloren haben." Ein schönes Projekt, aber Maak stellt sich doch die Frage, ob das in Zeiten der Wohnungsnot wirklich die Zukunft des Bauens sein kann.
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Politik

Lobby ist nicht gleich Lobby, meint in der SZ Gesine Schwan, die - anders als Jan Böhmermann und ein Zeit-Artikel - schon einen Unterschied machen möchte zwischen Abgeordneten, die etwa in die Pharmaindustrie wechseln und solchen, die zu Greenpeace gehen. Um aber Machtmissbrauch zu verhindern, sei vor allem Transparenz nötig, ein Lobbyregister, wie es der Bundestag vor einiger Zeit beschlossen hat. Und auch da zeige sich der Unterschied: Wirtschaftslobbyisten agieren gern im Dunkeln, meint sie, Greenpeace hingegen "kann für sein gemeinwohlorientiertes Ziel einer intakten Natur nur öffentlich Vertrauen gewinnen und in der Öffentlichkeit wirksam dafür eintreten. Sobald die Organisation hingegen ihre Partikularinteressen im Dunkeln verfolgt, verliert sie ihre Macht, die auf Vertrauen beruht. Anders als privaten Wirtschaftsinteressen helfen den an Gemeinwohl und Gerechtigkeit orientierten Lobby-Organisationen heimliche Kontakte zu Ministerien oder Parlamenten nicht weiter. Inhaltlich, wenn auch nicht rechtlich, gibt es daher sehr wohl erkennbare Unterschiede in Bezug auf die Frage, ob eine Lobby dem Gemeinwohl oder versteckten Privatinteressen dient."

Apropos Transparenz: Transparent sollten eigentlich auch die Nebeneinkünfte unserer Abgeordneten sein, aber daraus wird vorläufig nichts. In der SZ weiß Robert Rossmann, warum: "Die Fragebögen, die die 736 Abgeordneten zu ihren Nebentätigkeiten erhalten haben, sind jeweils 23 Seiten lang. Weil es mit der Digitalisierung im Parlament nicht weit her ist, müssen die knapp 17 000 Seiten Papier im zuständigen Referat der Bundestagsverwaltung mühsam händisch in eine Datenbank eingegeben werden. In der Bundestagsverwaltung haben sie aber erst vor wenigen Tagen zwei zusätzliche Stellen dafür besetzt bekommen. Es ist absurd: Transparenz im Bundestag, unverzichtbar für die Akzeptanz der parlamentarischen Demokratie, scheitert bisher auch am Zustand der Digitalisierung und an zwei Stellen."

In der Welt polemisiert Anna Schneider mit Verve gegen den von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey ins Spiel gebrachten begriff des "Libertären Autoritarismus", ohne eine Unterscheidung von liberal und libertär gelten zu lassen: "Wenn allein unsere Grund und Menschenrechte sich ausdrücklich auf das Individuum beziehen, wieso sollte es dann verwerflich sein, das auch zu leben, also am Ich, das sich selbst besitzt, festzuhalten? Was ist daran neu oder gar verwerflich, sich 'grollend gegen übergeordnete Instanzen' zu richten, namentlich den Staat und seine Repräsentanten, also Politiker? Wäre das nicht im ureigensten Sinne liberal - oder eben libertär? Was ist an dieser nicht von Zerstörungswillen beflügelten Staatsfeindschaft falsch? Wäre das im Sinne von Herrschaftskritik nicht eigentlich auch ein linkes Anliegen?"
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Überwachung

Das Netzwerk European Digital Rights (EDRi) hat zusammen mit einer Reihe weiterer Bürgerrechtsorganisationen in Europa die Kampagne "Stop scanning me" gestartet, berichtet Emilia Ferrarese bei netzpolitik. Ihr Ziel ist es, die von der EU-Kommission geplante Chatkontrolle zu stoppen. "Darüber hinaus hat das Bündnis eine Analyse des Verordnungsvorschlags der Kommission veröffentlicht. In dem 52-seitigen Dokument legen die Autor:innen dar, warum die unter dem Namen Chatkontrolle bekannte Gesetzesinitiative gegen europäisches Recht verstößt und obendrein das Ziel des Kinderschutzes verfehlt. Die Analyse stellt zudem die Ergebnisse einer Anfrage des Irish Council for Civil Liberties (ICCL) bei der irischen Polizei vor. Die Anfrage ergab, dass das automatisierte Scannen von Nachrichten auf Darstellungen sexualisierter Gewalt gegen Kinder zu zahlreichen Falschmeldungen führt. Diese würden nicht nur die Behörden überlasten, sondern vor allem das eigentliche Ziel des Kinderschutzes aushebeln, weil tatsächlich strafbare Inhalte dann nur unzureichend verfolgt werden können. Dem Kampagnenbündnis zufolge enthielten in Irland im Jahr 2020 lediglich 20,3 Prozent der Meldungen Darstellungen sexualisierter Gewalt gegen Kinder, nur ein Drittel davon wurde verfolgt."
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