9punkt - Die Debattenrundschau

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Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.10.2022. Die taz geißelt die "geistige Brandstiftung", die Anschläge wie den auf eine Flüchtlingsunterkunft in Wismar erst möglich mache. Alexander Lukaschenka hat Belarus zur Geisel gleich zweier Diktatoren gemacht, diagnostiziert der Historiker Felix Ackermann in der NZZ. Mehr Länder könnten sich Atomwaffen zulegen, wenn Putin mit seiner nuklearen Erpressung Erfolg hat, fürchtet in der SZ der Politologe Matthew Fuhrmann. Tagesspiegel und taz berichten von einer iranischen IT-Firma, die unbehelligt in Deutschland dem Iran bei der Abschottung im Internet hilft.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.10.2022 finden Sie hier

Gesellschaft

Bei Wismar ist eine Unterkunft für ukrainische Flüchtlinge abgebrannt. Die Polizei geht von Brandstiftung aus. Politiker (fast) aller Couleur zeigen sich entsetzt, der Staatsschutz ermittelt. Aber dies "ist nicht der erste Vorfall", erinnert Konrad Litschko in der taz. "So zählte das Bundeskriminalamt allein im ersten Halbjahr 2022 bundesweit 43 Straftaten auf Geflüchtetenunterkünfte - Sachbeschädigungen, Schmierereien oder Hausfriedensbrüche. Etliche auch in westdeutschen Bundesländern. Wie viele sich davon gegen ukrainische Geflüchtete richteten, wurde nicht gesondert erhoben. Der Flüchtlingsrat Mecklenburg-Vorpommern berichtet von einer 'sehr schlechten Stimmung' in den vergangenen Wochen. Politik und Verwaltung hätten zunehmend von 'Belastung' oder 'hohem Migrationsdruck' gesprochen, Geflüchtete anonym oder offen Hassbotschaften erhalten, auch aus den Montagsdemos gegen die Regierungspolitik heraus. Flüchtlingsratvorsitzende Ulrike Seemann-Katz kritisiert deshalb auch die 'geistige Brandstiftung': Lasse man diese zu, 'können wir bald alle nicht mehr sicher leben'."
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Stichwörter: Brandanschlag bei Wismar

Europa

Alexander Lukaschenka hat Belarussland zur Geisel gleich zweier Diktatoren gemacht, schreibt der Historiker Felix Ackermann in der NZZ, aber allen Repressionen und hunderttausend Verhaftungen zum Trotz bleiben die Belarussen aktiv in der Opposition: "Auf Telegram und in den anderen Netzwerken, in deren Kanälen trotz allen Widrigkeiten so etwas wie gesellschaftliche Wirklichkeit nachvollziehbar wird, ist zu sehen, dass Lukaschenko auch nach der Niederschlagung der Revolution nicht einer passiven Masse gegenübersteht. Die Bewegungen von Kolonnen mit russischem Militärgerät werden im Projekt Hajun anonym aus den südlichen und östlichen Gebieten entlang der russischen und ukrainischen Grenze gemeldet und von Aktivisten zu größeren Karten zusammengefasst. Eisenbahner organisierten sich im März als Schienenpartisanen, um die Nachschublinien der nördlichen Front mithilfe von Sabotage am Eisenbahnnetz abzuschneiden. Die ins Ausland geflüchteten Weißrussen sind deutlich besser vernetzt als etwa nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen des Jahres 2010. Sie verfügen über eigene Ressourcen und arbeiten derzeit an einem digitalen Staat namens Belarus 2.0, der im Exil weißrussische Strukturen aufbaut, die nach einem Ende des Lukaschenko-Regimes direkt nach Minsk übertragen werden können. Dieser Staat der Zukunft hat bereits über 500.000 reale Bürger."

Das Internet ist auch für Oppositionelle im Iran wichtig. Eine iranische IT-Firma in Meerbusch, Deutschland namens Softqloud, Ableger des iranischen IT-Dienstleisters Arvancloud, soll der Regierung in Teheran - unter Umgehung der EU-Sanktionen - jedoch gerade dabei helfen, eine eigene nationale Internet-Struktur aufzubauen und das Land so nach außen abzuschotten, berichtet in der taz  Jean-Philipp Baeck nach einer gemeinsamen Recherche mit Correctiv und Netzpolitik: "Der Blick nach Meerbusch, auf die Firma Softqloud, ihre Verbindungen und die beteiligten Personen offenbart: In dem Düsseldorfer Nobelvorort und seiner Umgebung sitzt ein Geflecht aus Unternehmen und Tarnfirmen, die mindestens indirekt mit dem islamistischen Regime in Teheran, den Revolutionsgarden und dem iranischen Geheimdienst verbunden sind. Von hieraus umgehen sie US-Sanktionen. Sie sind verstrickt in den Aufbau eines abgeschotteten nationalen Internets im Iran. Und: Sie agieren bis heute unbehelligt in Deutschland." Auch der Tagesspiegel berichtet.

Andrian Kreye und Georg Mascolo versuchen im SZ-Gespräch mit dem Politologe Matthew Fuhrmann zu klären, ob Putin Atombomben-Drohungen ernst gemeint oder eher ein Bluff sein könnten. Fuhrmann hat zusammen mit Todd Sechser eine Geschichte der nuklearen Erpressungen geschrieben. In die Glaskugel gucken kann er auch nicht, aber eins steht für ihn fest: "Viele Akteure auf der ganzen Welt beobachten, was Russland mit den nuklearen Drohungen erreicht oder eben auch nicht. Das wird Auswirkungen darauf haben, wie Regierungen in Zukunft über den Einsatz von Atomwaffen nachdenken. Und das könnte einige Länder einschließen, die derzeit keine Atomwaffen besitzen und versuchen, sie in Zukunft zu bekommen. Viele sagen schon heute: Wenn die Ukraine ihre Atomwaffen nicht aufgegeben hätte, hätte Putin das Risiko dieses Krieges nicht gewagt. ... Und so wie sich die Dinge entwickelt haben, sehen die Verhandlungen in den Neunzigerjahren aus Sicht der Ukraine nicht so toll aus, auch wenn dieses Abkommen damals als Fortschritt für die atomare Abrüstung gefeiert wurde. Es ist wichtig, die weitere Verbreitung von Atomwaffen in anderen Ländern zu begrenzen. Wenn Putin Erfolg hat, wird das die weltweite Nachfrage nach Atomwaffen nur noch steigern."

Man sollte meinen, die Folgen der Abhängigkeit von russischem Gas hätte der SPD zu denken gegeben. Auch in der Beziehung Deutschlands zu China. Aber jetzt will Bundeskanzler Olaf Scholz gegen den Rat aller Experten zulassen, dass ein Teil des Hamburger Hafens an die chinesische Cosco-Reederei verkauft wird. Cosco will "Anteile des Hafenbetreibers HHLA übernehmen und sich mit mehr als einem Drittel am Hamburger Containerterminal Tollerort beteiligen. Weil es sich dabei um sogenannte 'Kritische Infrastruktur' handelt, hat das Wirtschaftsministerium ein Investitionsprüfverfahren gestartet", berichtet Hans Monath im Tagesspiegel. "Cosco solle nicht nur eine rein finanzielle Beteiligung erhalten, sondern auch einen Geschäftsführer stellen und Mitspracherechte bei Entscheidungen bekommen. Da China zudem heute bereits wichtigster Kunde des Hafens sei, bestehe in Verbindung mit der geplanten Beteiligung am Containerterminal ein 'Erpressungspotenzial'." Mehr dazu in der SZ.

Bei Politico erinnern die Anwälte Başak Çalı und Philip Leach daran, dass der Menschenrechtsaktivist Osman Kavala immer noch in der Türkei im Gefängnis sitzt, obwohl der Europäische Gerichtshof nach einer Überprüfung des Falls keinen Grund für die Haft sah und die Türkei aufgefordert hat, ihn freizulassen. "Abgesehen von den verheerenden persönlichen Auswirkungen auf ihn und seine Familie ist Kavalas Fall nun zu einem Lackmustest für das Ansehen der Türkei in Europa geworden. Die anhaltende Weigerung Ankaras, nicht nur ein, sondern gleich zwei Urteile des EGMR umzusetzen und einen unrechtmäßig inhaftierten Menschenrechtsverteidiger freizulassen, hat das Land auf Kollisionskurs mit den übrigen 45 Mitgliedern des Europarats gebracht, die die Autorität und Legitimität des Gerichtshofs und seiner Urteile aufrechterhalten müssen. Der Fall ist auch ein entscheidender Test für die Zukunft der europäischen Menschenrechtsinstitutionen, die durch den Ausschluss Russlands aus dem Europarat im März nach dem Einmarsch in der Ukraine erschüttert wurden."

In Britannien ist Liz Truss ist nach 45 Tagen von ihrem Amt als Premierministerin zurückgetreten. Während der chaotischen Szenen im Unterhaus rund um eine Abstimmung über Fracking schien es sogar Prügel zu setzen. Es kam einem plötzlich wie ein sehr unbekanntes Land vor. Der Guardian liefert eine Chronologie der Ereignisse, und die Meme-Produktion läuft auf Hochtouren.


Wie konnte es so weit kommen? Truss brachte unlängst mit ihren Steuersenkungsplänen die Finanzmärkte gegen sich auf. "Diese Verblendung hat ihren Ursprung in der Brexit-Ideologie", kommentiert Alexander Mühlauer in der SZ. "Ihr Vorgänger Boris Johnson hatte Großbritannien aus der Europäischen Union geführt, Truss wollte nun die ökonomischen Früchte ernten. Dabei hätte auch sie längst erkennen müssen, dass der Brexit das Land wirtschaftlich geschwächt hat. Doch diese Wahrheit will die Konservative Partei immer noch nicht hören. Plötzlich musste sich das Vereinigte Königreich Vergleiche mit Griechenland gefallen lassen, das in der Euro-Krise vor der Staatspleite gerettet werden musste. Angesichts der Wirtschaftsstärke Großbritanniens war das übertrieben, und doch waren es am Ende die Finanzmärkte, die den Tories vor Augen führten, welch ideologischer Verblendung sie da erlegen waren."


In der taz meint Dominic Johnson: "Die britischen Konservativen insgesamt haben sich als regierungsunfähig erwiesen. Die Geschichte der Intrigen, in denen Truss geschreddert wurde, muss erst noch geschrieben werden, samt der Rolle der Finanzmärkte, die in London keine abstrakte Größe sind, sondern reale Personen mit teils engen Verflechtungen in die konservative Politik. Wer auch immer nun die kommende Wahl für Truss' Nachfolge gewinnt, steht vor genau den gleichen Problemen: eine dysfunktionale Partei, in der kein Konsens über die richtige Politik herrscht und alle Akteure sich gegenseitig hassen." Neuwahlen schließen die Tories aus, denn die würden sie wohl haushoch verlieren. Wer Liz Truss nachfolgt, soll bis spätestens Freitag geklärt werden. Gute Chancen haben laut Zeit online der ehemalige Finanzminister Rishi Sunak, die zurückgetretene Innenministerin Suella Braverman, Penny Mordaunt, ehemalige Verteidigungs- und Entwicklungsministerin, und, jawohl, Boris Johnson.
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Medien

Im Welt-Interview mit Christian Meier erklärt der 2020 eingesetzte BBC-Chef Tim Davie (Jahresgehalt 525.000 Pfund), wie er den von der Tory-Regierung vorgegeben harten Sparkurs umsetzen will. Allein in den kommenden Jahren sollen eintausend von den insgesamt 22.000 Stellen abgebaut werden: "Hier geht es uns wie jeder anderen klassischen Medienmarke. Sie können nicht hoffen, dass der Markt einfach so bleibt, wie er ist. Das Internet verändert alles. Die Verbreitung von linearem Fernsehen bietet Sendern langfristig keine Vorteile. Sie sind also in einer Lage, in der das Angebot und die Wettbewerbsfähigkeit in einer Welt der unbegrenzten Auswahl bestehen muss. Das ist die Herausforderung für die BBC. Es geht nicht einfach darum, mit einem Budget zurechtzukommen. Wir müssen sicherstellen, dass Geld innerhalb der BBC so verteilt wird, dass wir sicherstellen können, dass wir 'digital first' sind, also das Digitale an erster Stelle steht. Und wie lässt sich dieser Wandel hinbekommen, wenn man gleichzeitig das Kernpublikum nicht aufgeben will? Dazu braucht es ein gutes Urteilsvermögen und Fingerspitzengefühl. Sie müssen schnell digital werden - aber das bedeutet auch, dass man harte Entscheidungen treffen muss."
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Stichwörter: Bbc, Davie, Tim