9punkt - Die Debattenrundschau

Wir erleben einen Kampf um Werte

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.10.2022. Newlinesmag übersetzt ein Interview mit dem iranischen Soziologen Asef Bayat, das im Iran selbst verboten wurde und dennoch überall zirkuliert - er spricht über die neue Qualität des Aufstands von 2022. Im Guardian prangert die Nobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk die Straflosigkeit an, mit der Russland in der Ukraine agiert. Precht und Welzer seien "Secondhand-Kriegsverbrecher", schimpft Wolf Biermann in der Zeit. Die taz recherchiert zu rechtsextremen Attacken gegen Flüchtlinge in den Neuen Ländern.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.10.2022 finden Sie hier

Politik

Der Soziologe Asef Bayat ist ein im Iran sehr bekannter Intellektueller. Ein Interview mit ihm aus einer iranischen Zeitung ist inzwischen verboten worden - und ist doch in den iranischen Netzen "viral gegangen". Das Newlinesmag übersetzt dieses Interview ins Englische. Bayat vergleicht den aktuellen Aufstand mit früheren: "Der aktuelle Aufstand geht sogar noch weiter. Er hat die städtische Mittelschicht, die arme Mittelschicht, Slumbewohner und Menschen mit unterschiedlichen ethnischen Identitäten - Kurden, Fars, Aseri-Türken und Belutschen - unter der Botschaft 'Frau, Leben, Freiheit' zusammengeführt. Bezeichnenderweise handelt es sich um einen Aufstand, bei dem die Frauen eine zentrale Rolle spielen. Diese Merkmale unterscheiden diesen Aufstand von den früheren. Man hat das Gefühl, dass ein Paradigmenwechsel in den iranischen Subjektivitäten stattgefunden hat; dies spiegelt sich in der zentralen Rolle der Frauen und ihrer Würde wider, die sich im weiteren Sinne auf die Menschenwürde bezieht."

Dieses Video zeigt die gewaltige Demonstration in Saqqez, Iran, zum Ende der vierzigtägigen Trauerzeit für Mahsa Amini.


In den meisten afghanischen Städten dürfen Mädchen keine weiterführenden Schulen mehr besuchen, berichtet Parwana Rahmania für die taz. Die Stadt Mazar-e-Sharif ist eine relativ liberale Ausnahme, so Rahmania, die per Telefon mit der Lehrerin Anita Qahar (Pseudonym) gesprochen hat: "Jetzt dürfe sie die Jungs nicht mehr unterrichten, mache das aber heimlich, erzählt sie am Telefon. 'Unsere Schulen sind zwar noch offen, aber extrem eingeschränkt. Wir weiblichen Lehrerinnen und die Schülerinnen müssen strikte Regeln befolgen', sagt sie. Die Taliban hätten den Lehrplan mit islamistischen und extremistischen Inhalten umgebaut, die Themen Demokratie und Mitbestimmung dürften Lehrerinnen nicht mehr behandeln. Vertreter der Taliban tauchten unangekündigt im Unterricht auf und kontrollierten die Inhalte... Gleich zu Beginn ihrer Herrschaft hätten die Taliban neue Schuluniformen für Mädchen festgeschrieben: ein langer schwarzer Rock; ein Schleier, der das Gesicht komplett verdeckt, nur die Augen liegen frei. Das sei gerade in den Sommermonaten, in denen es in der Region extrem heiß wird, eine große Belastung für die Mädchen. 'Das macht es ihnen nicht nur schwer zu lernen, es nimmt ihnen auch ihre Identität.'"

Kanzler Olaf Scholz hat dem chinesischen Druck nachgegeben und erlaubt, dass die chinesische Reederei Cosco, ein Staatsbetrieb, nun zwar nicht mehr 35, sondern nur 24,9 Prozent eines Hamburger Hafenterminals kauft. Damit hat er chinesischer Einflussnahme dennoch das Tor zur Welt geöffnet, kommentiert Kai Schöneberg in der taz: "Doch für die Staatsreederei Cosco ist Geld völlig schnuppe. Sie hat bereits Einfluss auf zehn Häfen in Europa - und will mehr flow control. Das heißt: Reedereien nutzen eigene Terminals, um Lieferketten zu verbilligen. Und um eigene Waren zu bevorzugen. Was tun, wenn Cosco eines Tages darauf drängt, künftig in Hamburg keine Waren aus Taiwan mehr zu löschen?"

Außerdem: Die NZZ zeigt erstmals jene Fotos des Tiananmen-Massakers, die der chinesische Wissenschaftler Zhao Xiangji 1989 in Peking aufnahm und in die Schweiz schmuggelte. Xiangij ist seit den Neunzigern verschollen.
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Europa

"Erlernte Hilflosigkeit" ist ein Begriff aus der Traumaforschung, der das Verhalten von Folteropfern beschreibt. Das ist, was die russische Kriegsführung mit den Ukrainern machen will, sagt  Oleksandra Matwijtschuk von der Organisation Centre for Civil Liberties (CCL), die Beweise für russische Kriegsverbrechen sammelt im Gespräch mit Dan Sabbagh vom Guardian: "Russland wird seit zwanzig Jahren erlaubt, dieses Ziel zu verfolgen. Es geht so weit, dass es zu einem Verhaltensmuster geworden ist, sagt Matwitschuk. 'Diese Hölle, durch die wir jetzt gehen, ist das Ergebnis der totalen Straflosigkeit, die Russland jahrzehntelang genossen hat, während es in Tschetschenien, Moldawien, Georgien, Mali, Libyen und Syrien schreckliche Verbrechen begangen hat, für die es nie zur Verantwortung gezogen wurde', sagt sie. 'Sie sind Mitglied des UN-Sicherheitsrats und glauben, sie dürfen alles.'"

"Ich weiß, Sie hören das nicht gern, aber wir Ukrainer sind für Putin so etwas wie die Juden für Hitler", sagt die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko im Gespräch mit Cornelia Geißler (Berliner Zeitung), in dem sie allen voran die deutschen Intellektuellen auffordert, in diesem "Dritten Weltkrieg" Verantwortung zu übernehmen. "Es ist eine Herausforderung für die Intellektuellen überall, denn es betrifft uns alle, die gesamte Zivilisation. Wir erleben einen Kampf um Werte. Putin testet unsere - und ich spreche nicht als Ukrainerin, sondern als Mensch - Ernsthaftigkeit, er testet unsere Wortwahl: Haben wir immer noch dieselben Prinzipien, die uns angeblich so wichtig sind? Er verhält sich wie der Herrscher über den Gulag. Er droht mit Nuklearwaffen, er erwartet, dass man vor ihm kuscht und sich überlegt, wie man ihn beruhigt, bevor er noch böser oder gar verrückt wird. Das ist das kriminelle Prinzip der Hierarchie des Gulags. Oder sagen wir es altertümlich: Es geht um das Überleben des Stärksten. Und wenn er gewinnt, kann eigentlich jeder, der reich genug ist, sich eine bewaffnete Drohne zu kaufen, sie schicken, wohin er nur will."

Ganz ähnlich argumentiert Josef Joffe in der NZZ. Putins Atombomben-Drohung hält er für nicht glaubwürdig, aber doch für "hochrational" - und der Westen kuscht: "Die Ukraine kämpft nicht nur für sich, sondern auch für uns. Genauer: für eine 77 Jahre alte Ordnung ohne Raubkriege - zum ersten Mal in der blutgetränkten Geschichte Europas. Diese lehrt freilich: Wer keinen Widerstand spürt, will mehr. Putin war total rational, als er sich die Krim und den Donbass griff, was ihn nur erträgliche Sanktionen kostete. In Minsk versprachen die Mächte 2015, Kiews Kontrolle über seine Grenzen zu garantieren. Dieses Abkommen zerriss Putin am Vorabend der Invasion. Der Westen echauffierte sich, ließ ihn aber gewähren. Berlin lieferte bloß 5.000 Helme."

Nicht sehr freundlich äußert sich Wolf Biermann im Gespräch mit Georg Löwisch und Andreas Öhler von der Zeit über Harald Welzer und Richard David Precht, die es kaum verkraften, dass sie einmal nicht Mainstream sind: "Diese falschen Pazifisten halte ich für Secondhand-Kriegsverbrecher." Dem Pazifismus von rechts und links traut Biermann nicht über den Weg: "Ja. Ich hab die Friedensglocken läuten hören. Und die selbstbesoffene Sahra Wagenknecht treibt die Idiotie noch weiter, indem sie behauptet, manche Milieus seien kriegsbesoffen. Auch mit wohlmeinenden Friedensofferten verschafft man sich nur eine Verschnaufpause auf Kosten eines viel größeren Elends. Das ist zu kurz gedacht und zu lang gefühlt."

Im sächsischen Hoyerswerda wurden vier junge ukrainische Frauen von einer Gruppe Jugendlicher ausländerfeindlich beschimpft und attackiert, berichtet Tatsana Söding in der taz: "Obwohl der Angriff bereits am vergangenen Freitagabend geschah, wurden erste Details erst am späten Montagabend bekannt. Einige der Täter seien direkt nach der Attacke von der Polizei erfasst worden, klar sei aber noch nicht, ob bereits alle Täter erfasst wurden und nach welchem Motiv sie handelten, so Kay Anders, Pressesprecher des Landeskriminalamts gegenüber der taz." Der Vorfall gehört in eine Serie von Taten gegen ukrainische Flüchtlinge in den Neuen Ländern. Söding hat mit der Expertin für Verschwörungsideologien Pia Lamberty gesprochen, die einige CDU-Politiker für Stimmungsmache gegen Flüchtlinge mit verantwortlich macht.

Als "kleine Revolution im Strafrecht" wertet die Professorin für Strafrecht, Elisa Hoven, in der Welt nicht sehr glücklich die Erweiterung des Paragrafen 130 des Strafgesetzbuchs auf die Leugnung aller Genozide. (Unser Resümee) Denn: "Hoch problematisch an der neuen Regelung ist, dass sie das Leugnen oder Verharmlosen etwa von Kriegsverbrechen bestraft, die noch von keinem Gericht als solche festgestellt wurden. Schreibt jemand auf Facebook, dass die Taten in Butscha vom Westen inszeniert wurden, müsste die Staatsanwaltschaft nach dem neuen Straftatbestand ermitteln. Das zuständige Amtsgericht hätte dann zu untersuchen, ob tatsächlich Kriegsverbrechen statt gefunden haben, denn schließlich bestreitet der Angeklagte die Völkerrechtsverbrechen. (…) Wie ein deutsches Amtsgericht diese Aufgabe bewältigen soll, ist mir ein Rätsel."

Der britische Politologe Colin Crouch sieht im Gespräch mit  Michael Hesse von der FR den "Neoliberalismus" zwar politisch auf dem Rückzug, aber nun ist mit Rishi Sunak doch wieder ein Repräsentant dieser verhassten ideologie ins Amt gekommen: "Interessant, dass wir nun ein Mitglied einer ethnischen Minderheit als Premier haben. Wir können stolz darauf sein. Er ist auch intelligent und ernsthaft; für uns eine Neuigkeit in den letzten Jahren. Er ist aber ein echter Neoliberaler, ein ehemaliger Hedge-Fonds-Manager, ein sehr reicher Mann, und der Mann einer noch reicheren Frau. Es könnte sein, dass er wenig Sympathie mit den normalen Menschen hat."
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Religion

Walter Homolka war einer der einflussreichsten Reformrabbiner Deutschlands (katholischen Ursprungs) und regierte eine kleine Galaxie meist selbst geschaffener Institutionen, die im Zusammenspiel mit Unis Rabbiner ausbildeten - bis er wegen seiner Amtsführung, aber auch wegen sexueller Belästigung, die seinem Ehemann vorgeworfen wurde, in die Kritik geriet (unsere Resümees). In der Welt kann Alan Posener nur den Kopf darüber schütteln, dass Homolka seine Lehrarbeit am Potsdamer Kolleg für liberale Rabbiner jetzt wieder aufnehmen kann. Dabei hatte der Bericht der vom Präsidenten der Universität Potsdam zur Untersuchung gegen Homolka eingesetzten Kommission die Vorwürfe teilweise "unmissverständlich" bestätigt, so Posener. "Der Bericht der sechsköpfigen Kommission ist trotz der Beschränkung auf den universitären Bereich und trotz der relativ geringen Zahl der geführten Gespräche in Teilen vernichtend. 'Viele der Befragten gaben zu Protokoll, dass Herr Homolka ein 'Klima der Angst' geschaffen habe', so der Bericht. Die Ämterhäufung Homolkas sei 'seitens Studierender und Mitarbeiter der Jüdischen Theologie als einschüchternd empfunden' worden. Die 'Furcht, Herrn Homolka zu widersprechen oder sein Missfallen sonst wie (sic) zu erregen', sei 'so oft und konsistent dargestellt' worden, dass man sie 'als tatsächlich vorhanden' annehmen könne."

In der Zeit verteidigt sich Homolka im Gespräch mit Evelyn Finger: "Ja, ich war Chef und hatte Macht. Doch Machtgebrauch ist nicht schon Machtmissbrauch. Und über Karrieren habe niemals ich allein entschieden, das waren stets Gremien. Deren Strukturen waren vielleicht nicht ideal und sind nun zu erneuern. Doch mich wundert, dass sich jahrzehntelang niemand daran störte, dass ich viele, meist arbeitsintensive Ämter bekleidete."
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Geschichte

Etwas undeutlich wehrt sich die Historikerin Rebekka Habermas in der Zeit gegen den Althistoriker Egon Flaig, der in der FAZ neulich darauf hinweis, dass Sklaverei keine westliche Erfindung war sogar den Kolonialismus verteidigte, der oft als Kampf gegen Sklaverei auftrat (unser Resümee). Die Sklaverei sei durch Europa in Afrika eingeführt worden, so Habermas. Flaig stelle abenteuerliche Thesen auf, etwa, "etwa die, dass die sogenannte Sklavenbefreiung - übrigens eine historische Bewegung, die sich dem aktiven und passiven Widerstand versklavter Menschen innerhalb und außerhalb Afrikas und Amerikas sowie vornehmlich religiösen Gruppierungen in Europa verdankt - ein Akt gewesen sei, der ohne die Europäer, die die Menschenrechte erfunden hätten, nicht passiert wäre."
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Medien

Programmdirektor bei den Öffentlich-Rechtlichen müsste man sein! Nur einen einzigen Tag muss ein Programmdirektor beim RBB arbeiten - und schon steht ihm ein lebenslanges "Ruhegeld" von 8.000 Euro monatlich zu, hat Laura Hertreiter (SZ) erfahren: "Dass die ARD ihre Bosse mit Säcken voll Geld in den Sonnenuntergang reiten lässt und gleichzeitig die hundertvierte Quizshow sendet, statt mit Premiumprogramm zu protzen, ist indiskutabel. Und es ist unanständig, dass ARD-Sendungen oft genug von freien Journalisten gemacht werden, die man zwischen prekären Zeitverträgen zappeln lässt, während Ruhende Ruhegeld erhalten - und sich nicht mal irgendein Verantwortlicher für diesen Begriff schämt in einem System, das jeder in einem Haushalt lebende Mensch in der Hoffnung auf gutes Programm selbst bezahlt."
Archiv: Medien

Gesellschaft

Die Politik hat die Frauen, die mit Deutschland Freiheit und Emanzipation verbanden und dadurch hier ihr Leben verloren, im Stich gelassen, schreibt der Islamismusexperte Ahmad Mansour in der Welt. Zu lang ging es bei der Integration um Spracherwerb, Wohnen, Gesundheit, Arbeit und Beruf - zu wenig um patriarchalische Strukturen. Es herrsche Nachholbedarf: "Weil diese Strukturen mit den Grundsätzen einer aufgeklärten Demokratie nicht vereinbar sind, sei es die Geschlechtertrennung, das Tragen eines Kopftuchs bei Mädchen, die fehlende Gleichberechtigung, die Ablehnung von Homosexualität, die Legitimation von Gewalt in der Erziehung und im alltäglichen Miteinander, Zwangsheiraten, der Wert der Jungfräulichkeit bei unverheirateten Frauen. Je mehr sich Kulturen bei solch zentralen Thema unterscheiden, desto schwieriger wird die Integration in eine demokratischfreiheitliche Gesellschaft, desto ausgeprägter ist die Angst vor Identitätsverlust, die zugewanderte Menschen entwickeln. Für viele ist die Lösung, noch stärker auf ihren mitgebrachten Werten zu beharren."

Vor kurzem ist Sacheen Littlefeather gestorben (unser Resümee und Video ihres berühmtesten Auftritts). Sie hatte 1973 als Native American im Auftrag von Marlon Brando die Entgegennahme eines Oscars verweigert. Nun stellt sich heraus, dass sie gar keine Native American war, sondern eine schlichte Hispano-Amerikanerin mexikanischen Ursprungs, berichtet Nina Rehfeld in der FAZ. Rehfeld bezieht sich auf  eine Recherche im San Francisco Chronicle: "Verfasst hat den Artikel Jacqueline Keeler, die registrierte Staatsangehörige der Navajo ist. Sie legt eine weitreichende Recherche zum Stammbaum der Familie Cruz vor. Weder dort noch in den Akten der White Mountain Apache in Arizona, zu denen sich Littlefeather zählte, habe sie einen indigenen Hintergrund für Littlefeather oder ihre Familie finden können. Marie Louise Cruz, geboren am 14. November 1946 im kalifornischen Salinas, habe keine indigenen Vorfahren gehabt, genauso wenig wie ihr Vater Manuel Ybarra Cruz und ihre Mutter Geroldine Marie Barnitz."
Archiv: Gesellschaft