9punkt - Die Debattenrundschau

Das Verhalten so mancher Sekte

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.11.2022. Der schwule Autor Ilja Danischewski  erzählt in der FAZ, dass es nach einem Gesetz für Homosexeuelle praktisch unmöglich geworden ist, noch in Russland zu leben. Russland bleibt gefährlich, auch wenn es den Krieg in der Ukraine verliert, warnen die PolitologInnen Andrea Kendall-Taylor und Michael Kofman in Foreign Affairs. In FAZ kann Herausgeber Jürgen Kaube nichts mit den Verteidigern der festklebenden Klima-Aktivisten anfangen, auch nicht mit Patrick Bahners. Und auf Gandhi können sich die Aktivisten auch nicht berufen, ergänzt Arno Widmann in der FR.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.11.2022 finden Sie hier

Europa

Russland verlegt Streitkräfte an die belarussisch-ukrainische Grenze. Zugleich betreibt der belarussische Diktator Lukaschenko eine diskrete Mobilisierung in der Landbevölkerung. Die Minsker Journalistin Janka Belarus stellt in einer taz-Kolumne bange Fragen: "Hat Putin Lukaschenko wirklich unter Druck gesetzt und ihn dazu gedrängt, das 'Brudervolk' als Kanonenfutter für seinen Krieg zu opfern? Und wenn man den Unwillen und die Unfähigkeit der Belarussen zu kämpfen berücksichtigt, bedeutet das dann nicht, dass hinter dem Rücken der 'lahmen' belarussischen Armee russische Sperrkommandos stehen und schießen würden, wenn die belarussischen Soldaten zu fliehen versuchten? Dabei sollte man auch Lukaschenkos Angst berücksichtigen, ohne persönliche bewaffnete Sicherheitskräfte dazustehen, und auch die vor einer 'Palastrevolution'."

In Moskau ist die Stimmung auch eher mau, erzählt die Russlandkorrespondentin der taz, Inna Hartwich: "So mancher aus der Stadtverwaltung der Hauptstadt verlässt nun heimlich seinen Arbeitsplatz und kommt nicht wieder. Deren Kündigungen finden die Kolleg*innen später in den Schreibtischschubladen, finden ihre nicht abgewaschenen Kaffeetassen. In manchen Abteilungen sollen bis zu 30 Prozent der Angestellten fehlen, berichtet das russischsprachige Online-Medium Wjorstka (Layout). Vor allem IT-ler fehlen, in einer Stadt, dessen Bürgermeister seit Jahren auf Digitalisierung setzt und sie durchaus erfolgreich vorangetrieben hat."

Viel retweetet wird ein nüchterner und sehr klarer Artikel der PolitologInnen Andrea Kendall-Taylor und Michael Kofman in Foreign Affairs. Selbst wenn Russland verliert, warnen sie, bleibt es eine Gefahr: "Trotz der konventionellen Verluste Russlands in der Ukraine ist sein Atomwaffenarsenal ein logischer Ausgleich für seine konventionelle Verwundbarkeit und stellt eine glaubwürdige Bedrohung dar. Westliche Politiker sollten daher nicht davon ausgehen, dass Russland die europäische Sicherheit nicht mehr gefährden kann, und sie sollten sich auch nicht vorstellen, dass Russland seine verlorenen militärischen Fähigkeiten nicht wiedererlangen kann. Russland verfügt nach wie vor über ein beträchtliches latentes Macht-, Widerstands- und Mobilisierungspotenzial, auch wenn das derzeitige Regime nicht in der Lage ist, diese Ressourcen zu nutzen." Die Autoren raten darum aber nicht etwa zum einlenken, sondern zu einer klugen Eingrenzungspolitik und zur Unterstützung der demokratischen Opposition im Exil.

Russische Soldaten haben vor ihrem Abzug die Museen in Cherson geplündert. Putins Geschichtsfälschungen, die seine imperialen Fantasien stützen sollen, werden immer dreister, erzählt der ukrainisch-amerikanische Kunsthistoriker Konstantin Akinsha in der NZZ: "Die russische Besetzung der südukrainischen Stadt Cherson eignet sich hervorragend als Fallstudie. Unmittelbar nachdem Cherson in die Hände der Russen gefallen war, schossen im Zentrum Plakate, auf denen russische historische Persönlichkeiten abgebildet waren, welche einst in ferner Vergangenheit die Stadt besucht hatten, wie Pilze aus dem Boden. Unter dem Titel 'Cherson, die Stadt mit russischer Geschichte' waren auf den Plakaten der berühmte Dichter Alexander Puschkin, Denis Dawidow, ein Held des Krieges gegen Napoleon, sowie Generalissimus Alexander Suworow, der militärische Führer aus der Zeit Katharinas der Großen und Pauls des Ersten, abgebildet. Der Text auf der Puschkin gewidmeten Plakatwand erwähnte nicht, dass der Dichter in das Provinznest verbannt worden war. Gleichermaßen könnte Italien, 'der Nachfolgestaat' des Römischen Reiches, die Stadt Owidiopol in der Region Odessa für sich beanspruchen, nur weil Ovid von Kaiser Augustus dorthin verbannt worden war."

Der russische Schriftsteller Ilja Danischewski hatte bis vor dem Krieg noch offen schwul in Moskau gelebt. Damit ist es jetzt vorbei, erzählt er in der FAZ: "Am 27. Oktober hat die Duma das Gesetz zum Verbot der 'Propaganda nichttraditioneller sexueller Beziehungen' in erster Lesung auf den Weg gebracht (sicherlich wird es, wie jedes andere menschenfeindliche Gesetz in Russland, in vollem Umfang verabschiedet werden), und während ich früher für meine Antikriegshaltung und für meine Abscheu gegen die Annexion der Krim strafrechtlich verfolgt werden konnte, so kann ich jetzt auch für das Erzählen meiner ersten Liebesgeschichte verfolgt werden, ebenso wie für die Gedichte, die ich geschrieben habe. ... Das Gesetz macht alle meine öffentlichen Aktivitäten, mein persönliches Leben, meine Biografie zu einem Verbrechen."

"Das neue Gesetz sieht vor, dass LGBTQIA+-Inhalte auch für Erwachsene nicht mehr abgebildet werden dürfen", erläutert Hella Camargo bei hpd.de. "Dies umfasst nicht nur Filme, Musik oder Bücher, sondern auch Soziale Netzwerke, in denen unter anderem über Homo- oder Bisexualität oder über geschlechtsanpassende Maßnahmen nicht mehr informiert und diskutiert werden darf. Als Begründung wird eine wilde Mischung angegeben."

Die Stadt Paris hat Sacré Coeur unter Denkmalschutz gestellt, die Linke ist stinksauer, berichtet Stefan Brändle im Standard, weil sie die Kommune von 1871 und die Französische Revolution durch die Basilika verunglimpft sieht: "Die Kirche sei ein reaktionäres Protzwerk gegen die Pariser Kommune, sagte die Abgeordnete Danielle Simonnet von der Partei der 'Unbeugsamen'. Ihr Parteichef Jean-Luc Mélenchon brachte die Dinge via Twitter auf den Punkt: 'Dieser Bau verherrlicht den Mord an 32.000 füsilierten Kommunarden.' Der Volksaufstand der Pariser Kommune war im Mai 1871 von der Armee blutig niedergeschlagen worden. Die Kommunarden, deren Todesopfer heute eher auf 6.500 bis 10.000 geschätzt werden, brachten selbst - obschon viel weniger zahlreiche - Kirchenleute um, darunter ihre wichtigste Geisel, den Pariser Erzbischof Georges Darboy. Zum Gedenken daran begann zwei Jahre später auf Drängen royalistischer Katholiken der Bau von Sacré-Cœur. Die Arbeiten sollten über 40 Jahre lang dauern."
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Politik

Der China-Besuch Olaf Scholz' dient auch der Feier eines Jubiläums: Vor fünfzig Jahren haben Deutschland und China wieder diplomatische Beziehungen aufgenommen. Die hiesigen Veranstaltungen zu diesem Jubiläum waren eher publikumsfrei, vermerkt eine Reportergruppe in der FAZ: "Beim Jubiläumskonzert in der chinesischen Botschaft in Berlin ist der namhafteste Gast ausgerechnet der frühere Kanzler Gerhard Schröder."
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Gesellschaft

Nein, allzu viel Sinn kann FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube im Leitartikel dieser Zeitung den Kunstklebe-Aktionen der Klima-Aktivisten nicht abgewinnen. Und auch all jene Stimmen, die die Aktivisten auf Twitter verteidigen, finden nicht seine Zustimmung. Als "besonders grotesk", bezeichnet er eine Argumentation, die die Klebeaktionen selbst zur Kunst hochstilisiert: "Hier meldet sich eine Tiefenhermeneutik, die aus jedem Unfug Sinn herauspresst. Die Aktionen werden selbst zu künstlerischen verklärt, und Kunst darf aus Sicht der Kunst natürlich fast alles. Kunstwerke, wird als Bedeutung der Attacken angegeben, würden selbst zu bedrohtem Kulturgut, wenn nichts gegen den Klimawandel getan werde. Trivial: Wenn die ganze Erde brennt, brennt auch das Museum. "

Kann es sein, dass Kaube hier auf den FAZ-Kollegen Patrick Bahners bezieht, der in einem Twitter-Thread genau so argumentierte: "Die Aktivisten haben die Einladung zum Dialog angenommen und bringen die Kunstwerke zum Sprechen. Sie haben die aktualisierte Museumsdefinition von @IcomOfficiel verstanden. 'Open to the public, accessible and inclusive, museums foster diversity and sustainability.'"

Ach so, ja, kann sein, auch wenn er den Namen des Kollegen vornehm verschweigt, denn Kaube fährt fort: "Insofern ist es blanker Sarkasmus, zu sagen, die Aktivisten hätten die Einladung der Museen zum Dialog angenommen und - die abgegriffenste Phrase - brächten die Kunstwerke zum Sprechen. Doch was genau spricht der Monet denn durch den Kartoffelbrei und das Geschrei der Aktivisten hindurch zum feinhörigen Verteidiger des Krawalls?"

Die Aktionen der Klima-Aktivisten bewirken übrigens weniger, dass übers Klima als dass über die Aktivisten gesprochen wird, bemerkt Klaus Hillenbrand in der taz: "Im Mittelpunkt der Kampagne steht also gar nicht das politische Ziel, sondern es geht um die Kampagnenteilnehmer. Das erinnert an das Verhalten so mancher Sekte."

In der FR erzählt Arno Widmann eine kurze Geschichte des zivilen Ungehorsams und seiner Grenzen. Gandhi können die Klimaaktivisten eher nicht als Vorbild in Anspruch nehmen, meint er: "Der Ungehorsam muss - das scheint für Gandhi die Grenze zu sein - vom Gewissen des Ungehorsamen getragen werden. Es geht dabei nicht um das ferne, hehre Ziel - den Sturz der Fremdherrschaft, die Abschaffung von Ausbeutung oder ähnliches -, sondern um die konkrete Aktion. Die Begründung, man habe mit den bisherigen Aktionen keine Wende in der Klimapolitik erreicht und müsse jetzt darum gegen Gemälde vorgehen, hat mit Gandhis Vorstellung von zivilem Ungehorsam nichts zu tun."

Amerika kriegt die Drogen nicht in den Griff. Nach wie vor sterben Tausende an der Substanz Fentanyl, die Drogen beigemischt wird und fünfzigmal stärker ist als Heroin, berichtet Frauke Steffens in der FAZ. "Fentanyl hat dabei Heroin als Todesursache verdrängt: In 67 Prozent der Fälle enthielten die tödlichen Dosen den Stoff. Fachleute machen neben der Pandemie auch Drogensucht dafür verantwortlich, dass die allgemeine Lebenserwartung jüngst um 2,7 Jahre zurückging und auf dem niedrigsten Stand seit 1996 ist - für Native Americans, Latinos und Schwarze liegen die Rückgänge zwischen 6,6 und vier Jahren. Männer aus diesen Gruppen sterben auch am häufigsten an Überdosen - allein 2020 stieg die Zahl der Drogentoten unter schwarzen Männern laut der Bundesgesundheitsbehörde um 44 Prozent, für Weiße war der Anstieg mit 22 Prozent ebenfalls historisch."
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