9punkt - Die Debattenrundschau

Ich sollte an meine Eltern denken

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.11.2022. Friedensnobelpreisträgerin Olexandra Matwijtschuk schlägt in der FAZ Kriegsverbrechertribunale jetzt vor - und zwar vor Ort. 40 Prozent der Deutschen glauben zumindest "teil teils", dass die Nato Russland so lange provoziert hat, dass Russland in den Krieg ziehen musste", hat eine Umfrage herausgefunden, in den Neuen Ländern sind es 59 Prozent. In der FAZ möchte Eugen Ruge die Russen nicht dämonisieren, sondern mit ihnen verhandeln. In der Zeit fordert Navid Kermani, die Atomverhandlungen mit dem Iran zu stoppen. In der SZ möchte Heinz Bude sein neoliberales Ich loswerden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.11.2022 finden Sie hier

Europa

Olexandra Matwijtschuk betreibt das "Zentrum für bürgerliche Freiheiten", das Kriegsverbrechen in der Ukraine aufarbeitet - das Zentrum wird in diesem Jahr mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Im Gespräch mit Reinhard Veser von der FAZ betont sie, dass sie "diesen Kreislauf der Straflosigkeit", mit der Russland agiert "nicht nur für die Ukrainer, sondern auch für andere Nationen, die unter Russen gelitten haben oder leiden könnten" stoppen will. Für die Verbrechen, die in der Ukraine begangen wurden, will sie ein Tribunal in der Ukraine - und zwar durchaus auch, während der Krieg noch läuft: "Nicht irgendwo im Ausland in einer Sprache, die die Menschen nicht verstehen, sondern an den Orten, an denen die Verbrechen begangen wurden. Dieser Krieg hat eine Wertedimension. Putin versucht, die Welt davon zu überzeugen, dass Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte Fake-Werte sind. Putin will zeigen: Diese Werte haben euch in diesem Krieg nicht geschützt. Um diese Wertedimension des Kriegs zu gewinnen, müssen wir die Gerechtigkeit in Aktion zeigen. Und deshalb ist es wichtig, dieses Tribunal für die Ukrainer sichtbar zu machen."

Das "Bekenntnis" Halbrusse zu sein, fühlt sich für den Schriftsteller Eugen Ruge von jeher wie eine "Schande" an. Dabei sei nicht der Russe die "Quelle allen Übels", beharrt er in der FAZ: Nicht die Russen, der Stalinismus sei schuld, und der hatte Mitläufer überall. "Das hört man nicht gern. Leichter ist es, alles auf den Russen zu schieben. Der ist böse, gefährlich, primitiv. Dreißig Jahre lang haben die Osteuropäer uns vor ihm gewarnt: Seine Reden sind Lügen, seine Angebote vergiftet." Und auch aktuell bittet Ruge darum, zu differenzieren: "Das Narrativ des Großen Bösen blockiert jeden Diskurs. Es verstellt der europäischen Politik jeden Handlungsspielraum. Unmöglich, etwa Interessen zu analysieren oder Widersprüche aufzuzeigen. Über Auschwitz lässt sich nicht verhandeln. Mit einem neuen Hitler gibt es keinen Vertrag."

Das "Center für Monitoring, Analyse und Strategie", kurz Cemas befasst sich mit Verschwörungstheorien und legt eine Umfrage vor, die zeigt, in welchem Ausmaß prorussische Narrative in der deutschen Bevölkerung kursieren. Auf den Satz "Die Nato hat Russland so lange provoziert, dass Russland in den Krieg ziehen musste" antworten 19 Prozent uneingeschränkt mit ja, 21 Prozent antworten mit "teils, teils". Interessant ist die Aufschlüsselung nach Ost und West. In den Neuen Ländern antworten 33 Prozent uneingeschränkt mit Ja (im Westen 16), 26 Prozent mit "teils, teils" (Westen 19). Die Studie lässt sich hier herunterladen.

Richard Herzinger analysiert russische Desinformationskampagnen für die Zeitschrift Internationale Politik: "Ziel solcher Kreml-Operationen ist es, im Bewusstsein der westlichen Öffentlichkeit das Täter-Opfer-Verhältnis umzukehren und den ukrainischen Präsidenten als einen außer Kontrolle geratenen Abenteurer hinzustellen, der die Welt in den Dritten Weltkrieg und damit in eine nukleare Katastrophe stürzen wolle. Nicht Russland, das offen mit dem Einsatz von Atomwaffen droht, sondern die Ukraine, der diese Drohung primär gilt, soll damit als Gefahr für den Weltfrieden gebrandmarkt werden."

Kaum ein Tag vergeht ohne Lügen der russischen Propaganda, schreibt Clemens Wergin in der Welt. Dumm nur, dass Russlands Militär nun ebenfalls von der "Kultur der Lüge" durchzogen wird: "Die russische Armee ist ein riesiges Potemkinsches Dorf, in dem nichts, was auf dem Papier steht, den Realitäten entspricht. Das fängt bei Ausrüstungsgegenständen an, die angeblich eingekauft wurden und in den Lagern liegen. Tatsächlich existieren sie aber nur in Berichten, weil das Geld in die Taschen von zuständigen Offizieren floss."

"Wir sind im Krieg", insistiert der Philosoph Martin C. Wolff im Dlf Kultur. Schluss mit dem "Vogel-Strauß-Prinzip", fordert er: "Akzeptieren wir den Ernstfall? Dann müssen wir keine militärischen Fähigkeiten für einen anderen Ernstfall der Landes- und Bündnisverteidigung zurückhalten. Dann müssen wir die Ukraine schnellstmöglich mit allen wirtschaftlichen und militärischen Fähigkeiten verteidigen, um diesen Krieg zu gewinnen und die Diplomatie, die dann den Frieden verhandelt, zu erzwingen: ein Kriegsende in unsrem Sinne."
Archiv: Europa

Politik

Die diplomatische Zurückhaltung Deutschlands gegenüber dem Iran lässt sich nicht mehr mit der Rücksicht auf die Atomverhandlungen begründen, meint Navid Kermani in der Zeit. Die sind passé: "Ein Abkommen jetzt wäre die Tinte nicht wert, mit der es unterzeichnet wird. Und kosten würde es das Blut friedlicher Demonstranten im Iran. Denn die Einnahmen, die sich für den Iran auftäten, flössen direkt in den Unterdrückungsapparat, der einen Gutteil der iranischen Wirtschaft beherrscht. Das heißt, der Westen trüge zum Erhalt eines Regimes bei, das im Inneren massiv ins Wanken geraten ist. Einzig eine demokratische Entwicklung im Iran kann zu Sicherheit, Stabilität und Zugang zu den Energiequellen führen. Ein Atomdeal hingegen würde zum Nord Stream 2 der deutschen und europäischen Nahostpolitik ."

Die menschenunwürdigen Zustände im iranischen Ewin-Gefängnis sind bekannt, aber aus dem "Aufschrei der Öffentlichkeit" folgte bis heute nichts, schreibt der iranische Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan in der NZZ: "Zahlreiche ehemalige Häftlinge haben nach ihrer Ausreise ins Exil festgehalten, was ihnen in Ewin widerfahren ist. Sie brachten Details über diesen Kerker des Grauens zur Sprache. Die Gefangenen werden von Bettwanzen, Kakerlaken und riesigen Ratten geplagt und bekommen verdorbene Lebensmittel zu essen. Isolationshaft als 'psychische Folter' ist an der Tagesordnung, in komplett weiß gestrichenen engen Zellen brennt das Licht Tag und Nacht. Brutale Vernehmungen werden von Todesdrohungen auch gegen Familienangehörige begleitet, Schläge ohne Ende sollen den Willen der Gefangenen brechen. Unablässig hallen Schreie durch die Gänge. Es kommt zu vielen Selbstmordversuchen."

Französische Popstars haben das Lied "Barayeh" des iranischen Sängers Shervin aufgenommen, das zur Hymne der Aufstände wurde. Marjane Satrapi hat das Video gemacht:

Moritz Rinke ist nach Katar gefahren und hat sich für die Zeit die Fußballstadien angesehen, die mit dem Blut von Sklaven erbaut wurden. Bei der Besichtigung eines Stadions fällt ihm ein Paar Schuhe auf, das einsam herumliegt und das er gern fotografieren möchte. Nebenbei verrät er auch, wie die Reise zustandekam, was im deutschen Journalismus nicht immer üblich ist: "Mein Gott, was soll das nur für eine schreckliche WM werden, bei der man sich im Vorfeld über die Anzahl der Toten streitet? Vielleicht hätte ich auch die Einladung der deutschen Botschaft und des Goethe-Instituts gar nicht annehmen dürfen, denke ich, als ich mich in der Bannmeile niederknie, um für mein Schuh-Foto den richtigen Winkel zu den 'Fifa Qatar'-Schriftzügen im Hintergrund zu finden. Ein weiterer Polizist läuft auf mich zu und weist mich darauf hin, dass ich hier keine Fotos machen dürfe.
'It's only the shoes', sage ich.
'No shoes!', sagt er."

Eine Botschaftsmitarbeiterin beteuert gegenüber Rinke übrigens, dass Katar durch die Ausrichtung der WM gezwungen gewesen sei, sich zu reformieren und das Kafala-System abzuschaffen, das die Arbeiter und das importierte Dienstpersonal zu einer Art Besitz der Herren macht. Da sei diese gar nicht lange Arte-Reportage empfohlen. Hier tritt unter anderem die Mitarbeiterin eines Nagelstudios auf, die in drei Jahren keinen einzigen Tag frei hatte.

Morgen trifft Olaf Scholz den großen Vorsitzenden Xi Jinping. Unterdessen berichtet Sven Hansen in der taz, dass die Niederlande illegale Polizeibüros der Chinesen (die als "Sevicecenter" getarnt sind) schließt: "Der chinesische Dissident Wang Jingyu, der in den Niederlanden politisches Asyl erhalten hat, berichtete dem britischen Guardian, dass er direkt nach Ankunft in Rotterdam von dem dortigen chinesischen Polizeibüro kontaktiert worden sei. 'Sie forderten mich auf, nach China zurückzukehren. Auch wurde mir gesagt, ich sollte an meine Eltern denken.' Später sei er mit Textnachrichten und Anrufen unter Druck gesetzt worden. Und man habe ihm mit dem Tod gedroht. Vergangene Woche waren Berichte über solche illegalen chinesischen Polizeistellen in mehreren Städten überwiegend in Europa aufgetaucht, darunter  London, Glasgow, Dublin, Paris, Madrid, Valencia, Prag, Porto und Frankfurt am Main." Ursprünglich wurde das Thema von der spanischen Menschenrechtsorganisation "Safeguard Defenders" aufgebracht. Felix Lee und Anna Lehmann beziffern ebenfalls in der taz das Ausmaß der deutschen Abhängigkeit von China.

Außerdem: Meron Mendel porträtiert für die FAZ den rechtsextremen israelischen Politiker Itamar Ben-Gvir, der nach den neuesten Wahlen in Israel nun wohl zum Mitglied einer neuen Koalition unter Benjamin Netanjahu wird - mehr auch in unserer Magazinrundschau.
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Religion

In Deutschland gibt es eine herzliches Einvernehmen zwischen Staat und Kirchen. In einem Text der Juristin Isabelle Ley in der FAZ erfährt man, dass dieses Verhältnis auch als "kooperatives Trennungsmodell" bezeichnet wird. Dieses Modell muss aber im Angesicht der Tatsache, dass demnächst nur noch eine Minderheit der Deutschen kirchlich gebunden ist, überdacht werden, so Ley: "Lange Zeit wurde dieses Konstrukt damit gerechtfertigt, dass die Kirchen in besonderer Weise zum Gemeinwohl beitrugen - und durch die Trägerschaft sozialer Einrichtungen, die Mobilisierung von Ehrenamt und ein Seelsorgeangebot auch in Gefängnissen, Krankenhäusern und bei der Bundeswehr den sozialen Zusammenhalt stärken. Aber diese Logik stammt aus einer Zeit, zu der 97 Prozent der Bevölkerung Mitglied einer christlichen Kirche waren. Wird Religiosität zum Minderheitenphänomen, kann die Sonderstellung der korporierten Religionsgemeinschaften nicht mehr als Dienst an der Allgemeinheit begründet werden." Dummerweise möchte Ley das Problem damit beheben, dass auch andere Religionsgemeinschaften einen Sonderstatus bekommen, und sie würde sich freuen, "das Tuch auf den Köpfen hoch qualifizierter Lehrerinnen und Juristinnen" zu sehen.
Archiv: Religion
Stichwörter: Gemeinwohl

Kulturpolitik

So bitter es ist, der Sieg der Rechten in Italien ist das Ergebnis freier Wahlen, schreibt der Dirigent Giovanni Antonini, der im VAN-Magazin die Ursachen dafür auch in der Vernachlässigung der kulturellen Bildung sieht: "Die Kultur im Land ist traditionell mit der italienischen Linken verbunden, davon hat die klassische Musik in den letzten Jahren jedoch nicht profitieren können. Das Problem ist kein politisches, sondern ein kulturelles: Im 'Land der Kunst' standen die Kunst- und insbesondere die Musikerziehung nie im Mittelpunkt des Interesses von Parteien und Institutionen, deren Vertreter:innen, gleich welcher politischen Couleur, zumeist musikalische Analphabeten waren und sind. Die interessanten musikalischen Projekte der letzten Jahrzehnte waren allzu oft das Ergebnis persönlicher Initiativen, eines Individualismus, für den Italien durchaus bekannt ist, und sicherlich nicht das Ergebnis einer auf Nachhaltigkeit angelegten Kulturpolitik."
Archiv: Kulturpolitik

Gesellschaft

Was heißt Solidarität heute eigentlich noch?, fragt der Soziologe Heinz Bude in der SZ. Ein neues "Wir" soll heute das "neoliberale Ich" ablösen, dummerweise hat die politische Rechte das Bedürfnis nach einem Wir bereits vergiftet und die politische Linke findet keine Antwort, so Bude: "Der Solidaritätsgedanke kann sich heute nicht mehr auf ein Wir berufen, das die Orientierungen für die Vielen ausgibt. Die Milieus der Wir-Bildung gibt es weder in der Sozialdemokratie oder bei den Gewerkschaften noch in den katholischen oder protestantischen Domänen der christlichen und sozialen Union. Auch das liberale Wir ist zwischen Nationalliberalen, Wirtschaftsliberalen und Sozialliberalen gespalten, und im grünen Milieu sind die Unterschiede zwischen Berlin und Stuttgart bei aller Liebe nicht auf einen Nenner zu bringen. Eine Idee von Solidarität, die die Leute bewegt, muss also durch das Nadelöhr des Ichs gehen."
Archiv: Gesellschaft

Medien

"Mein fester Eindruck ist: Deutschland scheint uns in zehn Jahren nicht mehr in dem Umfang zu wollen - und auch finanzieren zu wollen wie heute", sagte WDR-Intendant Tom Buhrow vor dem Verein Übersee-Club in Hamburg, meldet unter anderem ZeitOnline. Auch ein Fusion von ARD und ZDF könne er sich vorstellen: "Dahinter stehe die wichtige Frage, wie viele unabhängige Rundfunkanstalten zur föderalen Struktur und Vielfalt in Deutschland gehören sollen. 'Das wird nicht Sender für Sender und Bundesland für Bundesland zu lösen sein - sondern nur in einem größeren Zusammenhang.'" In der FAZ resümiert Michael Hanfeld sehr ausführlich Buhrows Ideen.
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Stichwörter: Buhrow, Tom, WDR, ARD