9punkt - Die Debattenrundschau

Das Konzept des Quiet Quitting

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.11.2022. Die Autorin Sahar Delijani wurde 1983 im Ewin-Gefängnis in Teheran als Tochter von inhaftierten Khomeini-Kritikern geboren. Sie ist sich auf Zeit online sicher, dass es nach den Unruhen dieses Jahrs kein Zurück gibt. Des 9. November 1938, so scheint es, wird in diesem Jahr nicht ganz so routiniert gedacht wie in manchen Vorjahren: Josef Schuster erklärt in der SZ, warum: Die Schlussstrichforderungen kommen inzwischen von rechts, links und aus der bürgerlichen Mitte. So sieht's auch Michael Wolffsohn in der Jüdischen Allgemeinen. In Persuasion erklärt der Publizist Francisco Toro, warum Jair Bolsonaro einen so reibungslosen Machtwechsel in Brasilia möglich machte.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.11.2022 finden Sie hier

Politik

Die Welt verfolgt gebannt die Midterm-Wahlen in den USA. Der gefürchtete trumpistische Erdrutsch ist aber offenbar ausgeblieben. Die New York Times titelt heute morgen: "Race for Congress Is Tight, With No Sign of 'Red Wave'". Hier das Live-Blog des Guardian.

Die Autorin Sahar Delijani wurde 1983 im Ewin-Gefängnis in Teheran geboren. Ihre Eltern saßen damals dort ein wegen "revolutionsfeindliche Agitation gegen die neu gegründete Islamische Republik", erzählt sie auf Zeit online. Sie sei gewissermaßen "in den Widerstand hineingeboren" worden. Heute blickt sie voller Zuversicht in die Zukunft: "Ich weiß nicht, wohin dieser Aufstand im Iran führen wird. Aber ich weiß, dass es kein Zurück gibt. Was auch geschieht, die Menschen im Iran werden erhobenen Hauptes weitermachen. Der Wandel wird nicht über Nacht geschehen. Er wird nicht alle Fragen beantworten. Er wird nicht perfekt sein. Aber er wird uns gehören. Er wird nicht aus unseren individuellen Traumata entstehen, sondern aus unserem kollektiven Erinnern, nicht aus unserer persönlichen Verzweiflung, sondern aus unserer geteilten Hoffnung, nicht aus unserem Bedürfnis nach Rache, sondern aus unserem gemeinsamen Moment des Widerstands. Wenn der Wandel kommt, wird er nicht mit einer Geschichte beginnen, er wird die Geschichte vorantreiben."

Für die taz berichtet die Universitätsdozentin Qiya Tekeste (Name geändert) aus Mekelle, der Hauptstadt der Region Tigray, wo nach einem mörderischen Krieg ein fragiler Frieden geschlossen wurde: "Diese Woche haben etwa die Hälfte der Bewohner von Mekelle Lebensmittelhilfe erhalten, zum ersten Mal seit Monaten. Als die Nachricht vom Frieden die Runde machte, sanken einige Preise. Aber es sterben immer noch Menschen: sie hungern, sie können nicht versorgt werden, sie haben kein Geld. Und außerhalb von Mekelle hat es weiter Angriffe gegeben. Viele Menschen fliehen nach Mekelle und Gerüchte neuer Drohnenangriffe machen die Runde: am Donnerstag und Freitag, den Tagen nach der Unterzeichnung, in Adigrat, Wukro-maray und Wukro. Bestätigt ist das nicht. In Zalambessa und Edaga-arbit finden schwere Kämpfe statt. Der Krieg dort wird vor allem von der EDF (Eritrean Defence Forces, Eritreas Armee) geführt. Sie will entweder das Friedensabkommen brechen und neue Gebiete erobern, oder noch etwas plündern, vergewaltigen und Greueltaten begehen."

Francisco Toro, ein politischer Publizist aus Venezuela, der unter anderem für die Washington Post schreibt, bringt in Yascha Mounks Blog Persuasion einen interessanten Essay zur Frage, warum Jair Bolsonaro letztlich einen so reibungslosen Machtwechsel erlaubte. Die Erklärungen sind zum Teil paradox. So haben einige Verbündete Bolsonaros in ihren Regionen unerwartet stark abgeschnitten und wollten ihre Wahlsiege nicht durch Unruhen gefährden. Aber "der vielleicht unerwartetste Faktor ist auch der ironischste. Der ehemalige und neue Präsident Lula, verbrachte nach einer (später aufgehobenen) Verurteilung wegen Korruption einen Großteil der Jahre 2018 und 2019 im Gefängnis. Bolsonaro konnte sich also nicht einbilden, dass die Behörden Zurückhaltung üben, wenn es darum ging, einen ehemaligen Staatschef ins Gefängnis zu bringen: Sie hatten es bereits getan. Tatsächlich hatte er den Mann, der Lula angeklagt hatte, zu seinem Justizminister ernannt. Es entbehrt nicht einer gewissen kosmischen Ironie, dass sich Bolsonaro von einem Präzedenzfall abschrecken ließ, den einige seiner prominentesten Unterstützer geschaffen hatten."
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Internet

Twitter ist einfach zu bedienen, aber natürlich ist es im Hintergrund sehr komplex. Darum sind die "site reliability engineers" so wichtig, die so eine Plattform zuverlässig am Laufen halten, schreibt Chris Stokel-Walker in einem viel retweeteten Artikel der MIT Technology Review, für den er mit dem Experten Ben Krueger gesprochen hat. Elon Musk hat bekanntlich die Hälfte der Twitter-Belegschaft gefeuert. "Die verbleibenden Twitter-Ingenieure waren in den letzten Tagen weitgehend damit beschäftigt, die Website stabil zu halten... Während das Unternehmen versucht, zu einem gewissen Grad an Normalität zurückzukehren, geht ein Großteil der Zeit dabei verloren, Musks (oft anstrengenden) Launen in Bezug auf neue Produkte und Funktionen nachzukommen, anstatt das Bestehende am Laufen zu halten. Dies ist laut Krueger besonders problematisch für eine Website wie Twitter, bei der es zu unvorhergesehenen Spitzen in Bezug auf Nutzerzahlen und Interesse kommen kann."
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Stichwörter: Twitter, Musk, Elon

Medien

Die Osteuropaforscherin Franziska Davies ist auch auf Twitter sehr präsent. Neulich hatte sie in einem langen Thread die ehemalige ARD-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz, die in der Volkshochschule Reutlingen einen sehr prorussischen Vortrag gehalten hatte, scharf kritisiert. Das Krone-Schmalz-Video bei Youtube war 700.000 angeklickt worden. Nun hat Krone-Schmalz, die ihre Positionen gern im Namen der Meinungsfreiheit vertritt, Davies über ihre Anwälte eine Aufforderung zur Unterlassung geschickt. Julian Seiferth und Michael Ströbel resümieren den Streit bei t-online.de: "Davies Aussagen seien von der Meinungsfreiheit nicht gedeckt, argumentiert Krone-Schmalz' Anwalt René Rosenau. "Frau Davies behauptet wahrheitswidrig, die Mandantin habe seit Jahrzehnten nicht journalistisch oder wissenschaftlich zu Russland gearbeitet und sei deshalb keine Russland-Expertin. Frau Davies möchte nicht diskutieren, sondern 'canceln'." Auch Davies wird anwaltlich vertreten und. Krone-Schmalz versuche, "eine Kritikerin anwaltlich zu schikanieren", wird sie im Artikel zitiert. "Aufhören will sie mit ihrer Kritik dagegen nicht - im Gegenteil: Demnächst will sie einen längeren Text über Krone-Schmalz veröffentlichen." Das Börsenblatt hatte vor einigen Tagen gemeldet, dass der Verlag C.H. Beck Titel von Krone-Schmalz nicht mehr nachdrucken will, weil sie "Gefühle verletzen und zynisch wirken" könnten.
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Gesellschaft

Die Jusos fordern die 25 Stunden Woche, gleichzeitig macht der Begriff des "Quiet Quitting" - das ist, was man früher Dienst nach Vorschrift nannte - unter Jüngeren die Runde. In der SZ hat Julia Werthmann Sympathie für diese Haltung: Schließlich könne man für sein Geld immer weniger kaufen. Warum sich also abrackern? "Sich ein Eigenheim kaufen zu können, erscheint da als ein unerreichbar ferner Traum. Der Ökonom Thomas Piketty hat schon 2013 vorgerechnet, dass Einkommen kaum mehr zu Wohlstand führt." Im Niedriglohnsektor funktioniert das Konzept des "Quiet Quitting" allerdings meist gar nicht, gibt sie zu.
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Stichwörter: Piketty, Thomas

Ideen

Thomas Thiel resümiert in der FAZ eine Tagung der liberalkonservativen Denkfabrik "Republik 21" um Andreas Rödder, Susanne Schröter und einige FDP-Granden, die die "bürgerliche Mitte gegen den woken Extremismus" verteidigen wollen. "Nach fünf Stunden Diskussion war klar, dass Identitätspolitik keine politische Randerscheinung ist, sondern eine gefährliche Ideologie; aber es blieb weiter offen, wie man das Politikern beibringt, die meinen, ausgerechnet damit Freiheit und Demokratie verteidigen zu müssen." In der NZZ berichtet Oliver Maksan über die Tagung.
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Europa

Vor 84 Jahren brannten in Deutschland die Synagogen. Wer will sich daran heute noch erinnern? In der SZ warnt Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, davor, vor einem Schlussstrich, wie ihn Linke, Rechte und jetzt sogar Teile des bürgerlichen Lagers fordern, wie Schuster mit Blick auf einen FAZ-Artikel des Historikers Wolfgang Reinhard (unser Resümee) diagnostiziert. "In seinem Text 'Vergessen, verdrängen oder vergegenwärtigen?' plädierte Reinhard für ein 'Recht auf Vergessen' und rezipierte dabei nicht nur die Aussagen Höckes zum Mahnmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin. Er verstieg sich darüber hinaus zu der Schlussfolgerung, bei der Erinnerung an die Shoah handle es sich um eine 'Holocaust-Kultur […] machtbesetzt und tabugeschützt'. ... Ich frage mich nun, wie solch ein 'Recht auf Vergessen' aussehen soll? Vielleicht so wie in Italien, das seine faschistische Vergangenheit nie wirklich aufgearbeitet hat, wo der 'römische Gruß' wieder in Mode kommt und eine Ministerpräsidentin einer in weiten Teilen neofaschistischen bis rechtsextremen Partei in ihrer ersten Regierungserklärung am 28. Oktober 2022, dem 100. Jahrestag von Mussolinis 'Marsch auf Rom', dem Triumph des italienischen Faschismus, dieses Ereignis mit keiner Silbe erwähnt?"

Daneben warnt Nils Minkmar in der SZ vor einem gleichgültig hingenommenen Aufstieg der "Feinde der Freiheit" und Antisemiten in westlichen Demokratien: "Schon heute sind die Angriffe auf jüdische Einrichtungen, die Drohungen, der antisemitische Content im Netz und die fortgesetzte Diffamierung Israels ein Thema, das zu wenige Menschen bewegt. Das Gedenken an die Shoah ist ein auch in Deutschland derzeit mäßig besuchtes Ritual. Niemand klebt sich wo fest, die großen Demos gelten anderen Fragen."

Erinnerungsorte und -veranstaltungen für das Gedenken an den Holocaust gibt es in Deutschland reichlich, meint in der Welt Henryk M. Broder. "Und was ist das Ergebnis all dieser Mühen? Die Documenta 15 in Kassel?" Statt in "autosuggestiver Betroffenheit zu geloben, 'dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder passiert!'", so Broder in Richtung Bundespräsident Steinmeier, sollte man sich vielleicht darüber Gedanken machen, wie wir so kalt vom Ukraine-Krieg erwischt werden konnte. "Wie es so weit kommen konnte, dass deutsche Politiker im Kreml Schlange standen, um Putin die Hand zu geben. Nicht verkehrt wäre auch, an das 'Budapester Memorandum' vom Dezember 1994 zu erinnern, in dem Russland, das Vereinigte Königreich und die USA sich gegenüber Belarus, Kasachstan und der Ukraine dazu bekannten, die Souveränität und die Grenzen dieser Länder zu garantieren, als Gegenleistung für den Verzicht auf Atomwaffen aus den Arsenalen der aufgelösten Sowjetunion. Man könnte diesen Gedanken fortspinnen, indem man die Frage stellt, welches Land in dieser Welt sich unter den gegebenen Umständen noch auf internationale Garantien verlassen würde, wenn seine Existenz bedroht wäre. Die Balten? Taiwan? Israel? Polen?"

Michael Wolffsohn fasst für die Jüdische Allgemeine den Stand der Diskussion in den vornehmeren Kreisen zusammen: "Seit Mai 2019 - dem sachlich zutreffenden Bundestagsbeschluss, die anti-israelische BDS-Kampagne auch antisemitisch zu nennen - maßen sich weite Teile aus Gesellschaft und vor allem der 'Kulturelite' an, nicht nur die einheimischen, sondern 'die' Juden darüber zu belehren, was Antisemitismus sei. Es sind oft dieselben, die am lautesten 'Nie wieder' rufen." Die Jüdische Allgemeine meldet auch, dass das Goethe-Institut Tel Aviv, das ausgerechnet am 9. November mit der Autorin Charlotte Wiedemann über die angebliche multidirektionale Koinzidenz von Holocaust- und Nakba-Erinnerung hatte sprechen wollen (unser Resümee), diese Veranstaltung um einige Tage verschiebt.

In ihrer altgewohnten Schläfrigkeit hat die deutsche Öffentlichkeit die immer stärkere deutschland-kritische Stimmung in Frankreich noch nicht mal wahrgenommen, über die Jürg Altwegg heute in der FAZ berichtet. Deutschland beschließt 100 Milliarden Euro für seine Bundeswehr auszugeben, kauft aber lieber amerikanische Waffen als französische. Nach China reist Scholz allein, obwohl Emmanuel Macron eine gemeinsame Reise vorgeschlagen hatte. Die deutschen Gaspreis-Subventionen wurden rein innenpolitisch beschlossen und beraten. Die Deutschen schafften sich ein Polster nach "Merkels Ursünde" des Atomausstiegs und der immer stärkeren Abhängigkeit von Putin. "Mit Blick auf die Energie aber müsse ein Konsens gefunden werden. Notfalls sei Deutschland dazu zu zwingen, fordert Chloé Ridel, Autorin des Buchs 'Von einem Krieg zum andern'... Die Autorin bezeichnet Deutschland als 'Hegemon ohne Leadership', denn es nehme seine Verantwortung für die anderen nicht wahr: 'Wir müssen endlich sagen: Stopp!'"
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