9punkt - Die Debattenrundschau

Gewisses Maß an Grenzüberschreitung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.11.2022. Uff, kein roter Tsunami. Die New York Times-Kolumnisten atmen auf, aber geben nicht Entwarnung. Der Spiegel porträtiert den Roland Freisler des Iran, den Richter Abolghassem Salavati, der jetzt erste Prozesse gegen Demonstranten führt - das Staatsfernsehen überträgt. taz und FAZ verstehen nicht, warum das Goethe-Institut Tel Aviv eine Debatte über erinnerungspolitische Koinzidenzen von Nakba und Holocaust nun doch lieber nicht am 9. November führen ließ.  Pia Lamberty und Katharina Nocun erklären in der SZ, wie Esoterik und Rechtsextremismus zusammenhängen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.11.2022 finden Sie hier

Politik

Während die Frauen im Iran für ihr Recht auf Freiheit demonstrieren, haben auch die Midterm-Wahlen in den USA einen klar feministischen Aspekt: Die massive Infragestellung des Rechts auf Abtreibung durch den Supreme Court und die krasse Gesetzgebung die in manchen Staaten drohte, hat eindeutig für diese Wahlen mobilisiert und zur relativen Niederlage des Trumpismus beigetragen. Aber keiner hatte damit gerechnet! "Ich bin ein ängstlicher Mensch, traumatisiert seit 2016, habe ich mein eigenes Gefühl der Furcht mit Einsicht verwechselt und angenommen, dass die Leute, die eine Niederlage der Demokraten vorhersagten, Bescheid wissen", schreibt die New-York-Times-Kolumnistin Michelle Goldberg. Dabei hatte "es nie eindeutige Beweise dafür gegeben, dass eine rote Welle bevorstand. Seit der Oberste Gerichtshof Roe v. Wade gekippt hat, haben die Demokraten bei Sonderwahlen überdurchschnittlich gut abgeschnitten, und die Abtreibungsbefürworter haben in Kansas einen überwältigenden Sieg bei einem Referendum über die Abtreibung errungen...Aber angeblich so kluge Beobachter stellten das Narrativ vor die Zahlen."

"Wir haben vielleicht gerade einen der schlimmsten Pfeile abgewehrt, die je auf das Herz unserer Demokratie abgefeuert wurden", atmet Thomas L. Friedman ebenfalls in der New York Times auf, der aber noch nicht Entwarnung geben will: Das Zentrum sei zwar gestärkt, aber "wir gehen genauso gespalten aus den Wahlen heraus, wie wir hineingegangen sind". Und Trump hat Nachfolgekandidaten: Bernd Pickert zeichnet in der taz ein Porträt des in Florida siegreichen Gouverneurs Ron DeSantis, der wie Trump sei, nur schlauer - wobei Simon Strauss in der FAZ De Santis' Hantieren mit der Kampfvokabel "Woke" gar nicht so schlau findet.

Gilda Sahebi porträtiert für den Spiegel den Roland Freisler des Iran, Abolghassem Salavati, einen Richter, der jetzt erste Prozesse gegen Demonstranten der aktuellen Aufstände führt. Die Szenen, die sich bei diesen Prozessen abspielen, lesen sich so: "Salavati, genannt der 'Richter des Todes', unterbricht den Angeklagten Mohammad Ghobadlu, stellt eine Frage nach der anderen, er klingt aggressiv. Ghobadlu kommt ins Stammeln, entschuldigt sich. Er hat den Blick nach unten gerichtet, er schaut den Richter nicht an. Der 22-Jährige scheint vor Angst starr zu sein... Das iranische Regime lässt diese Prozesse filmen, zeigt Ausschnitte davon im Staatsfernsehen und streut sie online."

Im FR-Interview mit Michael Hesse erläutert der Politikwissenschaftler Carlo Masala, weshalb er es für richtig hält, mit Diktaturen Geschäfte zu machen und warum die Chinesen zwar ähnlich wie die Russen eine bipolare Weltordnung anstreben, aber dabei anders vorgehen: "Sie sind nicht so risikofreudig und hazardeurmäßig wie die Russen, die ja in jedes strategische Vakuum vorstoßen wollen, das die USA oder Europa irgendwo hinterlassen. Man hat oft das Gefühl, dass die Russen nicht darüber nachdenken, welchen Preis sie dafür zahlen müssen... Sie sind aber beide revisionistische Mächte mit Blick auf die Struktur des internationalen Systems."
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Ideen

Das Goethe-Institut Tel Aviv wollte den 9. November zum Anlass nehmen, um im Namen der "Multidirektionalität" über Koinzidenzen der jüdisch-israelischen und der palästinensischen Erinnerungskulturen zu sprechen (unsere Resümees). Die Vorlage zur Diskussion sollte Charlotte Wiedemanns Buch "Der Schmerz der anderen" sein, das sämtliche Urkatastrophen mit dem grünen Band der "Empathie" verbinden will. Die Kritik daran, dass die Diskussion ausgerechnet am 9. November stattfinden sollte, leuchtet Jannis Hagmann, der in der taz berichtet, nicht ein, er sieht eine Instrumentalisierung von der anderen Seite: "Im zunehmend rechtslastigen und teils offen antipalästinensischen Diskurs in Israel wird der Begriff Nakba mitunter als 'antiisraelisch', teils auch als antisemitisch gebrandmarkt, was die Erinnerung an die Flucht und Vertreibung von Araber*innen aus Palästina delegitimiert. Auch in Deutschland sind derartige Stimmen seit Jahren zu vernehmen." Das alles wäre nicht passiert, wenn nicht Israels Botschafter in Deutschland, Ron Prosor, "die öffentliche Debatte losgetreten" hätte, meint der Israel-Korrespondent der FAZ, Christian Meier: "Der Diplomat, der seit August auf seinem Posten ist, hat Israels Botschaften einmal als 'Kommandozentren an der Front' eines 'diplomatischen Kriegs' bezeichnet."

Pia Lamberty und Katharina Nocun, Autorinnen des Buchs "Gefährlicher Glaube" über die Gefahren der Esoterik, erklären im SZ-Gespräch mit Julia Werthmann noch einmal, wo Esoterik, Antisemitismus und Rechtsextremismus anknüpfen: Zum einen ist es "der Glaube an eine gerechte Welt. Das klingt für Außenstehende hilfsbereit, sozial und demokratisch, aber darum geht es in dem Fall nicht. Unter Gerechtigkeit verstehen Esoteriker eher, dass jeder bekommt, was er verdient hat. Im Sinne des Karma-Konzepts: 'Wer Gutes tut, dem wird Gutes passieren.' Das hört sich nett an, aber im Umkehrschluss bedeutet es eben auch: 'Wem Schlechtes widerfährt, der hat Schlechtes getan.' (…) Wir sehen seit Jahren, dass Teile der Szene ein massives Problem haben, sich abzugrenzen. Es grassieren antidemokratische Führungskulte, ein klarer Antifeminismus und antisemitische Verschwörungserzählungen oder der Holocaust wird mit einer angeblichen 'Karmaschuld' von Juden begründet. Dazu hat die Esoterikszene eine antimoderne Haltung gegenüber Fortschritt oder Medizin, die nicht selten antisemitisch konnotiert ist. All das ist anschlussfähig im rechten Lager."

"Die Situation ist noch gefährlicher als 2015", sagt der Soziologe Johannes Kiess, der am Else-Frenkel-Brunswik-Institut der Universität Leipzig die Autoritarismus-Studie durchgeführt hat, im ZeitOnline-Gespräch mit Doreen Reinhard zu den Anschlägen auf Unterkünfte für Geflüchtete: "In den letzten Jahren haben wir in dieser Szene eine weitere Verstärkung gesehen, Netzwerke haben sich verdichtet und vergrößert. Nun befinden wir uns in einer Verkettung von Krisen, da ist die Pandemie, der Krieg Russlands gegen die Ukraine, die Folgen von Inflation und steigenden Energiepreisen. Gesellschaftlich und politisch erleben wir eine fragile Situation. Wir beobachten über unser Telegram-Monitoring Kommunikation von radikalen Gruppen und Akteuren und sehen, dass es dort ein hohes Erregungspotenzial gibt."
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Europa

Zu den russischen Deserteuren hat Pascal Beucker in der taz eine klare Meinung: "Wer nicht in der Ukraine kämpft, der kann nicht in der Ukraine töten. Alleine schon deshalb sollte jeder, der sich nicht von Putin verheizen lassen will und durch Flucht die Kampfkraft und -moral der russischen Truppen schwächt, überall mit offenen Armen aufgenommen werden. Zahlreiche europäische Staaten haben jedoch stattdessen ihre Grenzen für russische Kriegsverweigerer geschlossen. Was für ein zivilisatorisches Versagen!"

Tayyip Erdogan möchte wiedergewählt werden. Seine Bilanz ist vernichtend, seine Chancen stehen gut. Neulich lobte er sich in einer Rede für die Demokratisierung seines Landes, erzählt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne: "Demokratie? Gewissen? Während Erdogan seine Rede hielt, wurde der Vorsitzende des türkischen Ärzteverbands, der größten Dachorganisation der Mediziner im Land, verhaftet, weil er gesagt hatte: 'Die Behauptung, die türkische Armee habe chemische Waffen gegen die PKK eingesetzt, muss untersucht werden.' Das passt zu einem Land, das auf dem Rechtsstaatlichkeitsindex auf Platz 116 von 140 Staaten liegt, hinter Burkina Faso, Ghana und Trinidad und Tobago."
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Kulturpolitik

Der Architekturhistoriker Philipp Oswalt antwortet in der FAZ auf Andreas Kitschke von der "Fördergesellschaft für den Wiederaufbau der Garnisonkirche Potsdam", der eben diesen Wiederaufbau in möglichst integraler Form verteidigt hatte (unser Resümee): "Kitschke behauptet, die Garnisonkirche sei keine Weihestätte des Militarismus gewesen. Doch genau dies war spätestens seit der Reichsgründung der Fall. General Erich Ludendorff hielt hier im November 1919 seine erste Brandrede gegen die Republik, der Dutzende von Gedenkfeiern und Zusammenkünfte reaktionärer und demokratiefeindlicher Kräfte bis 1933 folgten. Bereits seit dem 19. Jahrhundert schürten die in der Garnisonkirche gehaltenen Predigten den Hass auf andere Völker und Nichtchristen und propagierten ein völkisches Deutschtum."
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Gesellschaft

Bedenklich findet es Ronen Steinke im Feuilleton der SZ, wie schnell die bayerische Sicherheitsbehörden die Präventivhaft, die einst mit Verweis auf Terrorismusbekämpfung eingeführt wurde, jetzt gegenüber Klimaaktivisten anwenden: "Ob das Festkleben an der Fahrbahn in der Münchner Innenstadt eine strafbare Nötigung darstellt, ist schon höchst zweifelhaft. Jedenfalls aber: Kein Gericht würde eine Haftstrafe aussprechen. Das wäre völlig unverhältnismäßig. Stattdessen greift die bayerische Polizei nun also kurzerhand zur Langzeit-Präventivhaft, das geht schnell, das ist drastisch, und das soll andere Klimaaktivisten abschrecken."

"Die CSU und die bayerischen Landesbehörden glänzen darin, alle naselang eine Terrorgefahr zu erkennen - es sei denn, es handelt sich um echten Terror, der sich vor ihrer Nase abspielt", hält auch Deniz Yücel in der Welt fest. Dabei, so Yücel weiter, sei ein gewisses Maß an Grenzüberschreitung - und unterhalb der Schwelle zur Gewalt auch an Gesetzesbruch - … selten vermeidbar, wenn Menschen grundlegende Dinge und Werte in Gefahr sehen und glauben, aus Notwehr zu handeln."

Barbara Dribbusch gibt in der taz Überlebenstipps für eine Raumtemperatur von 17 Grad, bei der man prima Energie sparen kann, allerdings mit feministischen Einschränkungen: "Wobei es ja einen Gender-Thermo-Gap gibt, den haben Studien und die Barmer Krankenkasse beschrieben. Frauen haben im Durchschnitt eine etwas höhere Wohlfühltemperatur als Männer. Das liegt bei den Frauen angeblich an der niedrigeren Stoffwechselrate, an der geringeren Muskelmasse, an der dünneren Haut und der größeren Körperoberfläche im Vergleich zum Körpervolumen, figurtechnisch bedingt. Laut der Barmer empfinden Frauen eine Bürotemperatur von 25 Grad als angenehm, Männer seien mit einer Raumtemperatur von 22 Grad zufrieden. Von diesen Messwerten kann man in Zeiten der Energiekrise nur noch träumen."
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Medien

Mit seinem Vorschlag, die Doppelstruktur von ARD und ZDF infrage zu stellen, schiebt Tom Buhrow "den schwarzen Peter an die Politik", sagt der Produzent Günter Rohrbach im Welt-Interview: "So spielt er ein Spiel weiter, das seit Langem Veränderungen blockiert: Schuld sind immer die andern. Im Übrigen würde eine solche Radikalkur im Wesentlichen die vielen hundert freien Mitarbeiter treffen, die das Programm faktisch herstellen. Die Festangestellten könnten die Sache aussitzen." Zudem sei auch schon die Fusion von kleinen Sendern wie Radio Bremen oder dem Saarländischen Rundfunk mit größeren Anstalten an der Politik gescheitert: "Die Fusion dieser beiden Sender mit ihren größeren Nachbarn ist seit vielen Jahren der Hit unter den von außen kommenden Reformvorschlägen. Sie ist zuverlässig an den betreffenden Landesherren gescheitert, die sich dieses Filetstück in ihrer ohnehin kleinen Medienwelt nicht entreißen lassen wollten. Im Gegenteil wurden über Jahrzehnte hin üppig ausgestattete Landesfunkhäuser über die Bundesländer verstreut."

"Wir springen zu kurz, wenn wir bloß über … politische Zuständigkeiten diskutieren", verteidigt sich indes Carsten Brosda, Hamburger Senator für Kultur und Medien, in der SZ. Die Öffentlich-Rechtlichen müssen die gesamte Gesellschaft in den Blick nehmen, fordert er. Und sie selbst brauchten Kontrolle: "Wir brauchen journalistische Medien, die öffentliche Kommunikation in den Fokus nehmen. Wir brauchen eine externe Expertenkommission, die Druck entfaltet, indem sie die Optionen der Zukunft analysiert, die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger ermittelt und auf dieser Grundlage darstellt, wie öffentlich-rechtliche, also gemeinwirtschaftlich finanzierte, Angebote unsere Öffentlichkeit bereichern können."

Und in der FAZ betrachtet Sigrun Albert vom Zeitungsverlegerverband die Buhrow-Rede aus der Perspektive ihrer Lobby-Interessen. Interessant zur Buhrow heute auch das Van-Magazin zu Buhrows Äußerungen über die Rundfunkorchester, mehr in efeu.
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