9punkt - Die Debattenrundschau

Fieber der Desublimierung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.11.2022. In der FAZ schaudert es Viktor Jerofejew, wenn sich russische Soldaten aus Angst, von ihren Generälen verheizt zu werden, hilfesuchend an ihre Obrigkeit wenden. In der NZZ hat Richard Herzinger das ganze Außmaß autokratischer Zerstörungswut vor Augen. In der FAS durchschneidet die Juristin Sophie Schönberger den historischen Nebel, den die Hohenzollern zu erzeugen versuchen. Die NYTimes und die NYRB rätseln, was Twitter aus Elon Musk gemacht hat.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.11.2022 finden Sie hier

Europa

In der FAZ berichtet Schriftsteller Viktor Jerofejew schaudernd, dass russische Soldaten in einem Schreiben an den Gouveneur ihrer Provinz dagegen protestieren, sinnlos verheizt zu werden: "Als Schuldige an ihren Verlusten (auch an Verlusten von Militärtechnik) benennen die Marineinfanteristen zwei bestimmte Generäle, die sie in 'einen sorgfältig geplanten Angriff' (in Anführungszeichen, sprich, einen offenbar sinnlosen Angriff) geworfen hätten, um Auszeichnungen und Anerkennung von der obersten Heeresleitung zu erhalten, und infolgedessen habe allein ihre Brigade in nur vier Tagen dreihundert Mann verloren - getötet, verwundet, vermisst... Das Genre dieses Briefes kann man bislang noch als zaghafte Rebellion betrachten, als fernes Donnergrollen. Der Brief, diese zaghafte Rebellion, trägt keinen politischen Charakter, im Gegenteil, man hört die Zwischentöne eines naiven Patriotismus des einfachen Volkes heraus, genauer gesagt, eines Vertrauens in die Herrschenden, die sich unmöglich irren können."

In der NZZ kann Richard Herzinger die Gefahr, die Russland und China für die westliche Welt bedeuten, nicht dramatisch genug einschätzen: "Anders als einst im Kalten Krieg rollt die Aggressionswelle des neuen Autoritarismus nicht gebremst von vertraglichen Sicherungen. Im Gegensatz zu den mit der marxistisch-leninistischen Geschichtsideologie imprägnierten Machthabern der Sowjetunion glauben die heutigen Anführer der antiwestlichen Phalanx nicht daran, eine historische Gesetzmäßigkeit auf ihrer Seite zu haben und sich deshalb mit der finalen Zerstörung der westlich-kapitalistischen Welt Zeit lassen zu können. Die neuen Autokraten ahnen vielmehr, dass ihr kriminelles Herrschaftssystem auf Dauer nicht mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dynamik und Flexibilität demokratischer Gesellschaften Schritt halten kann. Genau das aber macht diese autoritären Mächte so eminent gefährlich: Sie wollen ihrem eigenen Bankrott zuvorkommen, indem sie nicht nur die westlichen Demokratien zerstören, sondern die liberale Idee - in deren Zentrum Putin neuerdings den 'Satanismus' ausgemacht hat - als solche austilgen. "
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Kulturpolitik

In Tel Aviv wollte Autorin Charlotte Wiedemann ihr Buch "Den Schmerz der Anderen begreifen" vorstellen, doch Goethe Institut und Rosa-Luxemburg-Stiftung haben die Veranstaltung abgesagt. Auf Twitter reagiert Wiedemann: 

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Politik

Für die taz protokolliert Kaveh Goreishi die Aussage einer jungen Iranerin, die nach einer Demonstration in Sanandadsch festgenommen wurde und erst nach mehreren Tagen gegen Kaution freigelassen wurde: "Die Agenten verbanden mir die Augen mit meinem eigenen Schal. Sie sagten: 'Wenn du dich bewegst, werden wir dich totprügeln.' Ich habe mich nicht widersetzt. Ich ahnte schon, dass wir zur lokalen Geheimdienstzentrale fahren würden: Als wir ankamen, hörte ich die Stimmen der Menschen - Männer und Frauen -, die dort eingesperrt waren. Einige von ihnen schrien, dass sie nichts Unrechtes getan hätten, viele weinten. Mir wurde vorgehalten, mich an den Protesten beteiligt zu haben. Ich wurde mehrmals verhört. Sie erhoben falsche Anschuldigungen gegen mich, wie Sachbeschädigung oder Beleidigung eines Polizeibeamten. Sie wollten, dass ich bezeuge, mit welchen Gruppen und oppositionellen Parteien ich zusammengearbeitet habe, doch ich weigerte mich. Bis fünf Uhr morgens wurde ich an diesem Tag befragt. Nach mehreren Verhören wurde ich schließlich in ein Sicherheitsgefängnis gebracht."
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Geschichte

Fast hätte man gedacht, die Hohenzollern-Familie würde nachlassen in ihren Versuchen, Schlösser und Kunstwerke zurückzuergattern, doch für das Frühjahr ist nun eine erste Verhandlung vor dem Landgericht Potsdam angesetzt. In der FAS findet die Düsseldorfer Rechtsprofessorin Sophie Schönberger, dass der Fall beileibe nicht so kompliziert oder unklar sei, wie die Hohenzollern gern behaupten. Stichwort Vorschubleisten: "In jüngerer Zeit wurde immer wieder behauptet, ein 'Vorschubleisten' liege nur dann vor, wenn das NS-Regime ohne das Handeln des ehemaligen Kronprinzen nicht in gleicher Weise errichtet worden wäre. Dieses Erfordernis ist der Rechtsprechung schlicht fremd. Es wäre auch absurd, einen solchen Kausalitätsnachweis zu verlangen, der historisch nie zu erbringen ist. Der Tatbestand liefe völlig ins Leere. Die Rechtsprechung verlangt daher allein, dass das Verhalten des Betroffenen die Bedingungen für die Errichtung des NS-Regimes objektiv verbessert hat."
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Religion

Im FR-Interview mit Martin Hesse eruiert der Philosoph Otfried Höffe ausführlich, wieviel Demokratie und wie viel absolute Gewalt in Religionen steckt. Umgekehrt sei Moral schon immer auch ohne Gottesbezug denkbar gewesen: "Schon der Dekalog verzichtet in der hierfür zuständigen zweiten Tafel auf eine Berufung auf Gott. Deutlich heißt es in dem ersten Gebot dieser Tafel und dem insgesamt vierten Gebot sehr pragmatisch: Du sollst Vater und Mutter ehren, 'auf dass es dir wohlergehe auf Erden'."
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Stichwörter: Höffe, Otfried

Medien

Twitter ist keine Goldmine, sondern nur noch eine ausgebaggerte Grube, glaubt Ben Tarnoff in der NYReview of Books, und in diese stürze sich Elon Musk mit verrückter Verve. "Für Musk bedeutet Twitter zu viel. Es ist ein Ventil für seine unermesslichen Ressentiments, ein Brutkasten für seine reaktionäre Politik, eine Arena für ironievergiftete Memes, eine Bühne, auf der er eine Fangemeinde kultiviert, ein Megaphon für die Vermarktung seiner verschiedenen Unternehmungen, ein Ort, an dem seine Gefühle verletzt werden, eine Highschool-Cafeteria voller cooler Kids, an denen er sich rächen kann. Und genau das macht ihn zu einem miserablen Geschäftsführer. Die kühle Disziplin des Kapitals erfordert Zurückhaltung. Musk hingegen hat seine kurze Amtszeit als Eigentümer von Twitter in einem Fieber der Desublimierung verbracht.

Ja, vielleicht hat auch der Reichtum Männer wie Donald Trump, Elon Musk und Kanye West verdorben, aber zu richtig verzogenen Typen wurden sie erst auf Twitter, lästert Jaron Lanier in der NYTimes: "Was sind meiner Meinung nach die Symptome einer Twitter-Vergiftung? Es macht sich eine kindliche Verunsicherung breit, wo vorher Stolz war. Anstatt über allem zu stehen, wie es die starken Persönlichkeiten der Geschichte stets taten, jammert und wütet das moderne, mit sozialen Medien vergiftete Alphamännchen. Das funktioniert, weil seine Follower ähnlich vergiftet sind und sich so gut identifizieren können. Um es klar zu sagen: Heulsusen sind viel besser als Stalins. Und dennoch gab es viele reifere und nachsichtigere Führungspersönlichkeiten, die besser waren als beide, auch wenn wir uns aufgrund unseres starken Tribalismus, der durch die weit verbreitete Sucht nach sozialen Medien noch verstärkt wird, nicht mehr darüber einigen können, wer sie waren."

Einen der vielen Nachrufe auf den Journalisten Wolf Schneider schreibt in der FR Sylvia Staude, die durch Schneiders Sprachschule gegangen ist. Zwar musste sie über den konservativen Pedanten immer wieder die Augen rollen, ihm aber doch meist recht geben. Eingetrichtert hat er ihr auf jeden Fall die Regel für Klartext: "Schlagen Sie den Ochsen gerade vor den Kopf".
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