9punkt - Die Debattenrundschau

Man beobachtet Beobachtungen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.11.2022. Timothy Snyder war in der Ukraine und kommt in seinem Blog mit einem Spendenaufruf zurück: Er sammelt Millionen für den "Shahed Hunter". Auch deutsche Intellektuellen machen sich Sorgen und artikulieren sie in einem Aufruf. Das Entstehen  von autokratischen Ideologien links und rechts hat für Ivan Krastev eine Menge damit zu tun, dass unsere Gesellschaften altern, sagt er in der Zeit. Der Politologe Markus Linden untersucht auf Zeit Online ein neues Bündnis von Mob und Elite. Bei Soziopolis erklärt Soziologe Nils C. Kumkar, warum die "Letzte Generation" gar nicht anders handeln kann.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.11.2022 finden Sie hier

Europa

Zwei Raketen explodierten in Polen an der Grenze zur Ukraine. Ihre Explosion kostete zwei Menschenleben. Es stellte sich heraus, dass es nicht russische Raketen waren. Aber die Russen sind schuld, kommentiert Dominic Johnson in der taz: "Der Vorfall von Przewodów wäre nicht geschehen, wenn Russland die Ukraine nicht beschießen würde. Die daraus zu ziehenden Schlüsse sind einfach. Nie wieder dürfen Raketen aus dem Ukrainekrieg in Polen landen - und nie wieder dürfen russische Raketen die Ukraine verwüsten." Hier Johnsons Bericht zum Thema.

Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller geht voran. Ein neuer offener Brief liegt auf dem Tisch, in dem nicht nur die Aufstockung der deutschen Militärhilfe für die Ukraine gefordert wird, berichtet die FAZ. Initiatoren sind Ralf Fücks von libmod.de und Ulrich Schreiber, Chef des Berliner Literaturfestivals. Zu den über siebzig Unterzeichnern gehören Swetlana Alexijewitsch, Gerhart Baum, Daniel Kehlmann und Durs Grünbein. Um die europäische Sicherheitsordnung zu stabilisieren, werden Bürger, Verbände, Unternehmen und die Bundesregierung aufgefordert, die Widerstandskraft in der Ukraine durch eine "Winterhilfe" zu stärken. "Gelingt es Putin, die Ukraine in den Zusammenbruch zu treiben, zerbricht auch die europäische Sicherheitsordnung. Dann ist kein Land im ehemaligen Machtbereich der Sowjetunion mehr sicher, die antidemokratischen Kräfte bekommen. Auftrieb und das Völkerrecht liegt in Trümmern." Die Zivilgesellschaft zu unterstützen sei "nicht nur moralische Pflicht, sondern liege auch in 'unserem ureigenen Interesse'".

Timothy Snyder wird in seinem Blog etwas konkreter als die deutschen  Intellektuellen. Er war kürzlich in Kiew, hat Selenski getroffen und ihn gefragt, wo er am besten helfen könnte. Als Intellektueller könnte er dazu aufrufen, zerstörten Bibliotheken zu helfen, aber das verschiebt er auf später: "Anstatt also meinen eigenen Vorlieben zu frönen, fragte ich, wo ich am unmittelbarsten helfen könnte.  Die Antwort der Ukrainer, die ich gefragt habe, war ein System zur Verteidigung gegen die iranischen Drohnen. Und genau das habe ich als Botschafter der United24-Plattform des Präsidenten versprochen: 1,25 Millionen Dollar für ein solches System, einen 'Shahed Hunter,' zu sammeln." Hier kann man spenden. Sehr empfehlenswert übrigens Timothy Snyders Yale-Kurs "The Making of the Modern Ukraine" auf Youtube in 18 Lieferungen, spannender als eine gute Netflix-Serie.

Die Russen werden damit leben müssen, dass "sie Putin und seinen Genozid an der ukrainischen Bevölkerung unterstützt haben", sagt Andrej Kurkow in seiner Rede zur Eröffnung des 13. Literaturfests München, die die SZ heute bearbeitet abdruckt und in der der ukrainische Schriftsteller die Vielfalt der ukrainischen Kultur würdigt und erklärt, weshalb die Ukrainer keine Angst haben: "Die ukrainische Bevölkerung hatte nie einen eigenen König, was wiederum bedeutet, dass sie keine tief verwurzelte Furcht vor einem König oder vor der Macht spüren. Jede Ukrainerin, jeder Ukrainer glaubt, die Politik des eigenen Landes mit beeinflussen zu können. Russinnen und Russen dagegen sind fatalistisch und glauben, in Russland absolut nichts beeinflussen zu können. Ihnen bleibt nur, das Land zu verlassen, wenn sie sich bedroht fühlen oder das Leben dort gefährlich oder wirtschaftlich prekär zu werden scheint."

Mehr als ein halbes Jahrhundert nach seinem damals viel diskutierten "Schwarzbuch der kommunistischen Verbrechen" hat der französische Historiker Stéphane Courtois sein "Schwarzbuch Putin" vorgelegt, berichtet Jürgen Altwegg in der FAZ und macht es gleich spannend: Putin, so Courtois und seine Mitautorin Galia Ackerman, halten Putins politische Karriere für ein Komplott ehemaliger Agenten des KGB. Zusammen mit den Oligarchen funktioniere dieses System wie die Mafia - gestützt und geschützt von der orthodoxen Kirche. Spoiler: Putins Atombombendrohung hält Courtois für mehr als einen Bluff. Das Buch soll im Januar auf Deutsch vorliegen.

Kommt die deutsch-französische Achse noch durch den TÜV? Das fragen sich in der FAZ Daniel Cohn-Bendit und Claus Leggewie, um Jacques Attali gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen. Der einstige Berater des französischen Präsidenten Mitterrand hatte kürzlich einen neuen deutsch-französischen Krieg (unser Resümee) für möglich erklärt. "Ach, Attali", ist nun zu lesen, "nicht der kommende Krieg zwischen Freunden, der Deutsche und Franzosen beunruhigen muss, sondern die Weigerung, den aktuellen Krieg Putins gegen Europa in seiner ganzen Härte und Konsequenz zu begreifen und logische Schlüsse daraus zu ziehen" ist das Problem. Die Europäische Union erscheine vielen als reicher Onkel, der die Auswirkungen des Krieges auf die verunsicherten Europäer abfedern solle. "Es fehlt eine weitsichtige und nur supranational wirksame Politik, die hinter akuten Notständen der Verteidigung und Energieversorgung ein europäisches Projekt erkennen lässt, eine Hoffnung."
Archiv: Europa

Kulturpolitik

Nach zwanzig Jahren gibt Hortensia Völckers  die Leitung der Kulturstiftung des Bundes ab (die vor vielen Jahren auch das Perlentaucher-Projekt signandsight.com unterstützte). Vor lauter Krisen der jüngsten Zeit, kommt sie kaum dazu, im Zeit-Gespräch mit Tobias Timm zu bilanzieren. Zur Documenta sagt sie: "Ich war ziemlich bedient nach diesem Sommer." Zur Debatte um das "Weltoffen"-Papier der höchsten deutschen Kulturfunktionäre, das der Volksvertretung nahelegte, von ihrem BDS-Beschluss abzurücken, sagt sie als Mitunterzeichnerin: "Es ging nicht darum, den BDS zu verteidigen. Der Sachverhalt ist komplizierter, bei dem BDS-Beschluss wurden viele Details nicht bedacht, was dessen Umsetzung betrifft. Und dann ist im Moment in diesem Land wenig Verständigung darüber erkennbar, wie die Grenzen zwischen Israelkritik und Antisemitismus zu ziehen sind und wer sie bestimmt."
Archiv: Kulturpolitik

Internet

Der Soziologe Armin Nassehi macht es mal anders als alle anderen und schimpft in der Zeit nicht einfach über die sozialen Medien, sondern denkt über sie nach. Besonders interessiert ihn natürlich vor dem aktuellem Hintergrund, wie Twitter funktioniert, das Elon Musk zu demontieren droht. Nassehi bleibt trotzdem: "Twitter dürfte die Plattform sein, in der die Logik der sozialen Medien am deutlichsten sichtbar wird: Es sieht in der Kommunikation so aus, als setze man etwas in die Welt und bekomme darauf Antwort. Oder man antwortet selbst, und es sieht aus wie ein Zwiegespräch. Aber es sieht nur so aus, denn jegliche Form der Kommunikation auf Twitter lebt davon, dass es stets einen dritten Adressaten gibt, die Beobachterposition: Man sieht den anderen beim Zusehen zu. Man beobachtet Beobachtungen." Und übrigens: "Auf Twitter stoße ich auf Dinge, die ich nicht gesucht habe. Ich hätte sie aber gesucht, hätte ich gewusst, dass es sie gibt. Das ist eins der produktivsten Urteile, die man über ein Ärgernis formulieren kann." Genauso hat man früher über Zeitungen geredet.
Archiv: Internet

Ideen

Das Entstehen von Autoritarismus und autokratischen Ideologien hat für den politischen Denker Ivan Krastev, den Mariam Lau für die Zeit interviewt, eine Menge damit zu tun, dass unsere Gesellschaften altern. Sowohl auf der Rechten als auch auf der Linken sind Ideologien entstanden, die sich nur durch eine Fixierung auf Vergangenheit erklären lassen, so Krastev. Die Zukunft sei dagegen aus dem Horizont verschwunden: "Die Linke fürchtet die Zukunft, weil sie glaubt, dass wir mit dem Weltklima die Grundlagen des Lebens schlechthin zerstören. Die Rechte hat Angst, dass wir die Grundlagen unserer spezifischen - israelischen, italienischen, ungarischen - Lebensweise zerstören. Beide wenden sich der Vergangenheit zu. Konservative haben früher etwas verteidigt, das sie bewahren wollten - jetzt verteidigen sie etwas, das verschwunden ist und nicht wiederkommen wird, ethnische Homogenität zum Beispiel. Auch die Linke wendet sich immer häufiger der Vergangenheit zu, indem sie sich zum Beispiel darauf konzentriert, dass aus dem Unrecht der Sklaverei heute neue Rechte erwachsen."

Peter Sloterdijk mäandert in der Zeit im Gespräch mit Cathrin Gilbert und Peter Kümmel mal wieder ideenreich durchs Weltgeschehen. Anlass sind diesmal die Fußball-WM in Katar und die die damit zusammenhängende Korruption. Zu schnell passiert er einige Ideen, als dass sie Substanz gewännen. Ein Punkt wäre etwa dieser: "Das Zusammenspiel mit den Massenmedien ist dabei der eigentliche Teufelspakt. Durch den Verkauf der Übertragungsrechte werden die ganz großen Umsätze erzielt, nur so kommen die perversen Spielergehälter zustande. Es sind nicht die Tickets der Zuschauer, die für Spielergehälter von 20 Millionen Euro sorgen."

Sowohl bei den Corona-Maßnahmen als auch beim Ukraine-Krieg gibt es postfaktische Allianzen zwischen Aktivisten auf der Straße und ihren medialen Fürsprechern, etwa Sahra Wagenknecht, Ulrike Guerot oder den Unterzeichnern des Emma-Briefes, konstatiert der Politikwissenschaftler Markus Linden auf ZeitOnline. Zum Verständnis dieser Verbindungen empfiehlt er Hannah Arendts 1951 erschienenes Buch "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft", in dem Arendt "vom 'zeitweilige[n] Bündnis zwischen Mob und Elite', welches der totalitären Herrschaft vorausgehe", schreibt. "Arendt berichtet davon, dass Teile der 'geistliche[n] und künstlerische[n] Elite' ein erstaunliches Verständnis, bisweilen sogar eine Bewunderung für totalitäre Bewegungen und für den radikalen Mob aufbringen. Mob und Elite seien dabei 'als erste sozial und politisch heimatlos geworden', woraus eine 'merkwürdige Koinzidenz ihrer Überzeugungen und Bestrebungen' resultiere. Arendt spricht von einem 'Bündnis' der 'Deklassierten auf der Grundlage des Ressentiments oder der Verzweiflung' und von einer 'Heldenverehrung der Gangster von Seiten der Elite'."

Indes rudert Richard David Precht, zumindest was seine Kritik an der Ukraine-Politik der westlichen Staaten betrifft, zurück, meldet Michael Hesse in der FR: "'Die Ukraine in eine Position der Stärke zu bringen, ist viel besser geglückt, als nahezu alle Beobachter, auch ich, zu hoffen gewagt haben", sagte Precht beim Ständehaustreff der Rheinischen Post in Düsseldorf."

Thomas Assheuer stellt derweil, ebenfalls auf ZeitOnline, das Claremont-Institut vor, die inzwischen bekannteste Denkfabrik der USA, die versucht, unter intellektuellem Anstrich Konservative und Rechtsradikale zusammenzubringen: "Konservative, die vom 'totalitären Staat' reden (...) sind Systemsprenger. Sie wollen nicht nur an Reformschräubchen drehen, sondern eine konservative Revolution anzetteln, die die Gesellschaft im Ganzen verändert. Familien, Kindergärten, Schulen, Universitäten, Militär, Kulturindustrie, vor allem die 'Rattennester' von Justiz und FBI (Steve Bannon) - all das müsse von der 'Gegenrevolution' erfasst, gesäubert und mit neuem patriotischem Geist gefüllt werden."

Eine Gemeinsamkeit der anderen Art sieht Felix E. Müller in der NZZ: Linke Aktivisten und Rechtspopulisten bemühen gern die Apokalypse: "Dieser penetrante Endzeitdiskurs führt zu einer religiösen Aufladung der Politik. Diese ist heute nicht mehr dazu da, Sachprobleme sachlich zu lösen. Vielmehr bildet sie einen öffentlichen Gerichtshof zur Verhandlung moralischer Fragen: Wodurch zeichnet sich die richtige Gesinnung aus, und wer gehört zu den Erlösten? Rassismus, Flüchtlingspolitik, Klima: Immer geht es um Gut oder Böse, also letztlich um die Frage, wer zu den Auserwählten gehört und wer in der Verdammnis enden wird. Wenn unsere Zeit, wenn die gegenwärtige Politik zunehmend als Streit konkurrenzierender Modelle von Weltuntergang geführt wird, beschädigt dies das Gespräch unter Andersdenkenden."
Archiv: Ideen

Gesellschaft

Die Massenbewegung von "Fridays for Future" hatte sich, wie es bei politischen Massenbewegungen üblich ist, erschöpft. Vor diesem Hintergrund "muss die Entstehung des Protestrepertoires der Letzten Generation verstanden werden", schreibt der Soziologe Nils C. Kumkar in dem vom Hamburger Institut für Sozialforschung betriebenen Forum Soziopolis. "Nicht umsonst nahm dieser Teil der Klimabewegung seinen öffentlichkeitswirksamen Ausgangspunkt mit einem Hungerstreik im Vorfeld der letzten Bundestagswahl, mit dem die Aktivist:innen Gespräche mit den Kanzlerkandidat:innen erzwingen wollten - was ihnen schlussendlich gelang. Das Ziel dieser Aktionen war eben, die politischen Akteure zu zwingen, sich offen zu dem Thema zu positionieren. Die Proteste waren wohl getragen von der Hoffnung, dass diese De-De-Thematisierung von sich aus Druck entfalten würde, weil, wie besagt, gegen Klimaschutz Position zu beziehen keine legitime Diskursposition mehr wäre. Über Kausalitäten soll hier keine Aussage getroffen werden, aber wenige Monate später wurde ein Koalitionsvertrag unterzeichnet, der sich in Sachen Klimaschutz in der Tat ambitionierter gab, als mancher vermutet hatte."
Archiv: Gesellschaft

Geschichte

In der NZZ erinnert der Historiker Jan Gerber an den Slánský-Prozess vor siebzig Jahren, den größten Schauprozess der Nachkriegszeit in der Sowjetunion, bei dem Rudolf Slánský, der frühere Generalsekretär der Kommunistischen Partei, und dreizehn weitere hohe Funktionäre des Staatsapparats der Tschechoslowakei beschuldigt wurden, westliche Spione und Agenten zu sein. Aufsehen erregte der Prozess auch wegen seines "offen antisemitischen Chrarakters", erinnert Gerber: Elf der vierzehn Hauptangeklagten kamen aus jüdischen Familien. "Der weltpolitische Hintergrund des Prozesses war die sowjetische Umorientierung im Nahen Osten. Moskau und Prag hatten die Gründung Israels zunächst unterstützt. Der Unabhängigkeitskrieg wurde 1948 mit Waffen gewonnen, die aus der Tschechoslowakei kamen. Israel sollte zu einem prosowjetischen Vorposten im Nahen Osten ausgebaut werden. Spätestens als sich der jüdische Staat während des Koreakriegs zaghaft auf den Westen zubewegte, veränderte sich diese Politik. Die Sowjetunion wandte sich von Israel ab und den arabischen Staaten zu. Dieser Kurswechsel wurde im gesamten Ostblock von der berüchtigten Kampagne gegen 'Kosmopolitismus und Zionismus' begleitet."
Archiv: Geschichte