9punkt - Die Debattenrundschau

Meilenweit vom Prozess einer Säkularisierung entfernt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.11.2022. Während die iranischen Fußballer Mut zeigen und bei der WM ihre Hymne nicht mitsingen, geben sieben mächtige europäische Fußballverbände nach und verzichten auf ihre "One Love"-Armbinde. Ein verdächtig willfähriges Einknicken, findet die SZ. hpd.de staunt über die britische Regierung, wo eine Abtreibungsgegnerin sich jetzt um Gleichstellung kümmern soll. Ebenfalls hpd.de zitiert aus einem Grundsatzpapier der bayerischen FDP zu Staat und Religion,das geradezu revolutionär klingt. Die FAZ thematisiert die genozidale Politik Chinas in Xinjiang.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.11.2022 finden Sie hier

Gesellschaft

Während im Iran die ersten Todesurteile gegen Teilnehmer von Demonstrationen gefällt werden, bewies die iranische Fußballnationalmannschaft großen Mut und blieb stumm beim Abspielen ihrer Nationalhymne in Katar - entgegen der Anweisung mitzusingen, berichtet Nico Horn auf Zeit online. "Vor dem Turnier war im Iran spekuliert worden: Wie verhält sich die Nationalmannschaft? Nicht alle rechneten mit einem Protest, der Verband hatte mit Konsequenzen gedroht. Und auch die Mannschaft schien sich nicht einig in ihrer Haltung zu den Protesten. Aber irgendwie mussten sie sich verhalten. Auch ein Mitsingen der Hymne wäre als Zeichen gedeutet worden - für das Regime. Wenn die Spieler aber vor dem Anpfiff schweigen würden, könnten sie die Herzen von Millionen Menschen erreichen, war schon vor dem Turnier aus dem Iran zu hören. Manchmal haben Fußballer den Mut und die Kraft zu großen Gesten. Beim englischen Fußballverband - und bei vielen weiteren, auch dem deutschen - haben sie dagegen nicht mal den Mumm, sich mit der Fifa anzulegen."

Horn bezieht sich mit dem letzten Satz auf die Entscheidung der europäischen Fußballkapitäne, auch des deutschen Manuel Neuer, beim Spiel nicht mal die "One Love"-Binde zu tragen, die eh schon eine abgeschwächte Version der Regenbogen-Armbinde ist, weil die Fifa mit gelben Karten gedroht hatte. Die Engländer verzichteten beim Spiel gegen den Iran schon mal auf die Binde. Die belgische Nationalmannschaft fügt sich Anweisungen der Fifa, das Wort "Love" von der Innenseite ihrer Trikots zu entfernen. Im Tagesspiegel ist Robert Ide empört: "Symptomatisch für die ganze WM steht da wohl die jüngste Stellungnahme des niederländischen Fußball-Verbandes: 'Wir stehen zur 'One Love'-Botschaft und werden diese weiter verbreiten, aber unsere oberste Priorität ist es, Spiele zu gewinnen.' Für eine selbstverständliche Botschaft eine Spielsperre riskieren - nicht einmal so wenig Engagement bringt der europäische Fußball auf. Nur mit Gratis-Mut hätte man das sichtbare Eintreten für Menschenrechte vorgespielt." Auf Zeit online schäumt Jens Wohlgemuth: "Dass die großen europäischen Fußballverbände nun vor dieser Situation zurückschrecken, um den reibungslosen Ablauf dieses Turniers nicht zu gefährden, ist entlarvend. Sie sind mächtig genug, um sich in dieser Sache geschlossen mit der Fifa anzulegen, es fehlt allein der Mut - oder, noch schlimmer: die Überzeugung."

In der SZ findet Thomas Kistner das Heulen und Zähneklappern albern: Dass Infantino die Binde verbieten würde, war doch klar, meint er. "Das flotte, verdächtig willfährige Einknicken des DFB und der anderen Verbände zeigt: Es gibt keinen echten Zusammenhalt. ... Denn genauer betrachtet birgt diese Fifa-Drohung enorme Risiken auch für Infantinos Katar-Legionen selbst. Man stelle sich vor, der deutsche Kapitän Manuel Neuer bekommt wegen seiner Binde eine gelbe Karte, kassiert eine zweite, muss vom Feld - und am Ende kippt Japan oder Costa Rica das WM-Spiel gegen zehn Gegenspieler. So ein Skandal würde nicht nur weitestreichende Reaktionen im europäischen Fußball auslösen, er würde alles Dagewesene in den Fifa-Annalen übertrumpfen, vom Wembley-Tor bis zur Hand Gottes. Kurz, er würde dieser WM den Stecker ziehen."

So richtig die Empörung der Kommentatoren ist, sie zeigt auch ziemlich viel Gratis-Mut: auf die Spielberichterstattung zur WM verzichtet von FAZ bis taz keine der großen Zeitungen. Die öffentlich-rechtlichen Sender haben die WM durch ihre 214 Millionen Euro Gebührengelder für die Übertragungsrechte maßgeblich mitfinanziert. Und auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) wird trotz anfänglicher Bedenken zum Auftaktspiel der deutschen Nationalmannschaft nach Qatar reisen, wie die FAZ meldet. In der Berliner Zeitung hält es Harry Nutt mit dem ARD-Moderator Frank Plasberg, der die Kritik an Katar kritisierte, weil sie viel zu spät komme: "Trotz oder wegen seines offenen Bekenntnisses, von Fußball keine Ahnung zu haben, erschien ihm die wie eine Monstranz mitgeführte kritische Haltung zum Fußballspektakel im Emirat doch allzu verdächtig. Warum erst jetzt? Das Geld ist geflossen, die Kameras sind aufgebaut - angesichts der devoten Verbeugung, die Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck unlängst dem Emir von Katar dargeboten hatte, klingen die lauten und lauen Boykottbekundungen wie der Pflichtteil eines allfälligen Ablasshandels. Monstranz, Ablass - vielleicht sind die religiösen Begriffe sogar passend, weil doch der WM-Gastgeber kaum eine Gelegenheit auslässt, zur Rechtfertigung dieser und jener Maßnahme auf religiöse Pflichten und Motive zu verweisen. Das Weltheiligtum Fußball ist hier wie dort wohl meilenweit vom Prozess einer Säkularisierung entfernt."

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Daniel Bax, ehemals taz-Redakteur, heute Pressesprecher des Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), das die Bundesregierung berät, hat in der taz ein Problem mit der britischen Regierung: Sie ist divers, aber nicht woke. Eine der "Bipoc"-Ministerinnen wurde gar durch ihren Kampf gegen Gender-Toiletten bekannt. Vielfalt allein reicht eben nicht, muss Bax konstatieren. "Selbst die AfD setzt auf Vielfalt: Ihre Parteispitze ist so sorgfältig wie die keiner anderen Partei nach Geschlecht, Herkunft und sexueller Orientierung austariert." Die linken Parteien hinken da hinterher. Bax fordert deshalb eine ideologisch gefestigte Vielfalt mit ganz anderen Bandagen: "Wer es mit 'Diversität' wirklich ernst meint, muss sie auf allen Ebenen durchsetzen, um gesellschaftlich immer noch benachteiligte Gruppen wie Frauen, Migrant*innen, queere Menschen, Arbeiter*innen und Arme auf breiter Front gleichzustellen. Dazu braucht es gezielte Anstrengungen, gegebenenfalls Quoten."
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Politik

Was das Regime in Peking mit den Uiguren macht, ist Völkermord. Davon geht Hinnerk Feldwisch-Drentrup in der FAZ nach einer Expertenanhörung in Berlin aus. Zwangssterilisierungen und die Verabreichung von Langzeitverhütungsmitteln würden in Pekings "Kampf des Volkes gegen den Terror" seit 2014 eingesetzt: "Uiguren seien als biologische Bedrohung angesehen worden, die Volksgruppe leide an 'Krankheiten' des Geistes, die durch 'Umerziehung' zu heilen seien. Bevölkerungsreiche und örtlich konzentrierte Minderheiten würden als Nährboden für religiösen Extremismus angesehen." Der amerikanische Anthropologe Adrian Zenz, schreibt Feldwisch-Drentrup, habe eine erschreckende Beobachtung gemacht: "Das Bevölkerungswachstum der Uiguren sei laut offiziellen Daten in Süd-Xinjiang binnen zehn Jahren auf fast ein Zehntel gesunken und liege nun nahe oder unter null. Über eine Region mit rund einer Million Uiguren wurde berichtet, dass 'nicht ein einziges Kind außerhalb der Planungsvorgaben der Regierung geboren worden war'". Der Bundestag hat sich zu diesen Berichten noch nicht positioniert.
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Geschichte

Vor hundert Jahren wurde das Grab des Tutanchamun geöffnet. Philipp Theison fragt sich in der FAZ, warum die Mumie bis heute Gänsehaut erzeugt. Die Ägyptomanie gab es doch schon im 19. Jahrhundert und der Fluch nach dem Tod des ersten Grabkammer-Entdeckers war eine Erfindung von Journalisten. "Und doch: Die Vorstellung einer Heimsuchung der archäologischen Moderne durch die von ihr freigelegte Vorwelt haftet an dieser Graböffnung als eine unabweisbare Erzählung". Wenn also die Gothic Novel der Romantik schuld daran ist, dass aus einer Mumie ein Monster wurde und bis heute geblieben ist, dann müsse man sich wieder damit beschäftigen, "was die Kammer des Tutanchamun neben Thron, Totenmaske und abgestorbenem, doch niemals gänzlich verwestem Gewebe noch in sich schloss: die Ahnung, dass die Entdecker hier zugleich die Entdeckten waren - und dass die Zivilisation, die sie in diese Gräber führte, den Keim zu ihrem eigenen Untergang dabei schon in sich trug".
Archiv: Geschichte
Stichwörter: Tutanchamun, Gothic

Europa

Wer in Russland mit Turnschuhen in den ukrainischen Farben auf die Straße geht, landet vor Gericht. Das berichtet der russische Autor Igor Saweljew in der FAZ. Diese "absurde Realität" einer blau-gelben Paranoia erinnert ihn an Stalins Terror: "Was die Leute antreibt, Nachbarn oder Kollegen anzuschwärzen im Geist der Säuberungen von 1937, ist schwer zu beurteilen. Rachegefühle dürften eine Rolle spielen, der Wunsch, die eigenen Lebensverhältnisse aufzubessern, aber auch Überzeugungstäter wird es geben" - und die werden umso aggressiver je größer die russischen Verluste sind. Was Saweljew angesichts der Kreml-Propaganda noch beunruhigt: "Sollte das Thema nationaler Negativbilder an Stärke gewinnen, so wäre das vor allem für Russland selbst gefährlich, weil es aus einem komplexen Gewebe aus nationalen Republiken, Traditionen und Kulturen besteht."

Die religiöse Abtreibungsgegnerin Maria Caulfield ist in der neuen britischen Regierung zuständig für die Gesundheit und die Gleichstellung von Frauen. Sie hat sich etwa 2019 gegen die Legalisierung von Abtreibung in Nordirland stark gemacht, berichtet Roland Gugganig bei hpd.de: "Bei praktisch allen Frauenrechtsgruppen stößt Rishi Sunaks Entscheidung auf herben Gegenwind. Indes kratzt die allgemeine Bestürzung die Karrierepolitikerin nicht im Geringsten. Auch sie habe das Recht auf eine Meinung, kontert sie, und beruft sich keck auf die Religionsfreiheit. Doch Maria Caulfields Haltung legt nahe, dass ihr glaubensbasiertes Weltbild die britischen Gesetze beeinflussen kann und wird - und die weibliche Gesundheit, Sicherheit und Autonomie zu gefährden droht."

Wer sagt denn, dass die FDP nicht zu revolutionärer Gesinnung fähig sei? Frank Nicolai liest für hpd.de ein Grundsatzpapier der FDP Bayern, das eine Trennung von Staat in Religion in Bayern und ganz Deutschland fordert: "Dazu zählt die FDP unter anderem auch die Entfernung des Gottesbezugs aus der Präambel der bayerischen Verfassung, das Überführen von Kirchen, die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, in privatrechtliche Rechtsformen, die Kündigung beziehungsweise Neuverhandlung sämtlicher Staatskirchenverträge sowie auch das Verbannen religiöser Symbole wie dem Kreuz aus allen öffentlichen Institutionen. Anschließend soll auf Bundes- und Landesebene die endgültige Trennung von Kirche und Staat durchgesetzt werden. Dabei ist der FDP Bayern bewusst, 'dass die vollständige Reform der zum Teil seit Jahrhunderten gewachsenen Strukturen ein komplizierter und langwieriger Prozess ist. Es ist jedoch an der Zeit, diesen in Gang zu setzen.'"
Archiv: Europa

Kulturpolitik

Die Spender für den Wiederaufbau der Berliner Stadtschlossreplik werden mit einer Tafel im Foyer geehrt. Der Architekt und Autor Philipp Oswalt hatte kritisiert, dass da einige doch eher rechtsextreme Gestalten dabei sein könnten (unser Resümee und mehr hier). Aber jetzt gibt die Anwaltskanzlei Raue, die mit einer Überprüfung beauftragt wurde, Entwarnung, berichtet Harry Nutt in der Berliner Zeitung: "Dabei kommt die Kanzlei Raue zu dem Schluss, dass bis auf die Spender des Deutschen Stifterverbandes und einen anonymen Spender aus der Schweiz alle Spender dem Förderverein namentlich bekannt sind. Von diesen 113 Spendern werden im Humboldt-Forum 106 auf den Tafeln im Portal II geehrt. Die übrigen wollen ausdrücklich anonym bleiben, aber auch bei diesen, so heißt es in einer Pressemitteilung der SFH, habe die Kanzlei Raue keinen Hinweis auf rechtsradikale oder gar extremistische Aktivitäten gefunden. Der Verdacht, der Förderverein habe von rechtsextremen Personen oder Institutionen Großspenden angenommen, habe sich nicht erhärtet."
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Ideen

Im Interview mit der FR plädiert der Soziologe Natan Sznaider für mehr Ehrlichkeit im Umgang mit Antisemiten - bei der Documenta und anderswo: "In nachträglichen Korrekturen und erschrockenen Bekundungen wie 'Das haben wir nicht gewollt' drückt sich eine intellektuelle Unehrlichkeit aus. Zweifellos war das Bild von Taring Padi antisemitisch, aber es ist aufgehängt worden, also müssen wir damit umgehen. Das gilt ebenso für den Preis an Caryl Churchill sowie für den Literaturnobelpreis an Annie Ernaux. Insbesondere Juden müssen erkennen, dass viele Angehörige der Kulturelite kein Problem in BDS-Positionen sehen. Eine nachträgliche Bestürzung sollte man sich schenken (...) Juden sollten erkennen, dass der Satz 'Für Antisemitismus gibt es in Deutschland, in Europa keinen Ort' einfach nicht stimmt. Es gibt Antisemitismus im öffentlichen Raum, und er kommt keineswegs nur von rechts. Und es gibt nicht nur rassistischen Antisemitismus, sondern eben auch antirassistischen Antisemitismus, der vorgibt, sich an Universalismus, einer Kultur der Menschenrechte und der Gleichheit zu orientieren."
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Internet

In der SZ macht sich der Fernsehmoderator Micky Beisenherz (300.000 Follower bei Twitter) wenig Sorgen um die Twitterer: "Unser Narzissmus ist ein helles Licht - und es ist dieses Licht, das uns, komme, was wolle, immer wieder zusammenführen wird!" Zur Not eben bei Mastodon.

Elon Musk hat durch eine Twitter-Abstimmung, an der sich ein winzige Minderheit beteiligte, durchsetzen lassen, dass Donald Trump wieder twittern darf - der ziert sich noch. Nebenbei ist eine andere Regeländerung kaum aufgefallen, schreibt Markus Beckedahl in Netzpolitik. "Negative Tweets", also solche, die früher als Hate Speech bezeichnet wurden, sollen per Algorithmus degradiert werden. Beckedahl glaubt nicht dran: "Das ist natürlich ein Versprechen, das er zumindest für den Moment gerne geben kann, denn Werbetreibende gibt es ja kaum noch. Aber es stellen sich natürlich viele weitere Fragen: Wer ist denn vom Personal noch übrig, um diese Regeln durchzusetzen, wenn drei Viertel der Belegschaft schon gekündigt ist und gekündigt hat? Ist das neue Modell auch konform mit den kommenden Regeln des Digital Services Act (DSA), koharänte und nachvollziehbare Moderationsregeln anbieten zu müssen? Was ist mit den zahlreichen 'negativen Tweets' von Musk, werden die jetzt auch auf digitale Trampelpfade geschickt?"
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