9punkt - Die Debattenrundschau

Wer schlägt, der geht

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.11.2022. Die Journalistin Natalja Sindejewa und die Anthropologin Alexandra Arkhipova analysieren in FR und Zeit online die russische Propaganda. Die FR fragt: Wenn Timothy Snyder Spenden für Drohnen einwirbt, muss man dann noch seine These ernstnehmen, dass die russische Kriegsführung genozidal ist? Die Grünen-Politikerin Tuba Bozkurt verteidigt in der taz die Kopftuchlosigkeit im Iran und das Kopftuch an Berliner Schulen. Die FAZ fordert Fußfesseln für gewalttätige Männer. Und traurig ist sie auch: Geht nun auch noch der Fischer-Verlag nach Berlin?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.11.2022 finden Sie hier

Europa

"Die Propaganda ist in die Köpfe eingedrungen. Die Russen glauben ehrlich, in der Ukraine brächten Bandera-Nazis russische Menschen um", sagt Natalja Sindejewa, Chefin des russischen Exilsenders TV Doschd, im FR-Gespräch mit Stefan Scholl. Aber: "Die Mobilmachung hat den Krieg in die Häuser gebracht. Söhne werden eingezogen, Todesmeldungen treffen ein. Familien erfahren, dass ihre Männer in der Armee nicht versorgt, nicht bewaffnet werden, das öffnet vielen die Augen, lässt sie andere Informationen suchen. In der ersten Woche der Mobilmachung verdreifachten sich unsere Zuschauerzahlen bei Youtube. Vorher lebten wir in verschiedenen Blasen, TV Doschd, andere unabhängige Medien, unser Publikum. Aber es gibt eine viel größere Blase, dort denken alle wie Putin, sehen dasselbe Fernsehen wie er. Wie offenbar er selbst, glauben sie, das zeige die Wahrheit. Die beiden Blasen sind zusammengekommen, viele Leute haben begonnen, die Wahrheiten zu vergleichen."

Im Zeit-Online-Gespräch mit Daria Boll-Palievskaya analysiert die russische Anthropologin Alexandra Arkhipova indes die russische Propaganda, hinter der, anders als in Nazi-Deutschland, keine Ideologie stehe. Die Angst der Russen vor westlichen Einflüssen sei auch altersbedingt, erklärt sie: "In den vergangenen fünf Jahren hat die Präsidialverwaltung die jungen Menschen sehr genau beobachtet und ständig Meinungsumfragen gemacht. Und diese Umfragen zeigen - unabhängig vom Thema, sei es die Unterstützung des Oppositionellen Nawalny oder die Unterstützung des Krieges -, dass sich die Meinung junger Menschen stark von der der Generation 60 plus unterscheidet. Dies ist für den Kreml sehr irritierend und beunruhigend. Sie haben zwanghaft Angst vor einer Zukunft, die ihnen überhaupt nicht gefällt. In ihrer Weltanschauung sind junge Menschen das Objekt äußerer Beeinflussung, der Westen unterzieht sie einer Gehirnwäsche, vergiftet sie mit Drogen und so weiter. Daher muss dieser äußere Einfluss beseitigt werden. Aus diesem Grund isoliert sich Russland 'präventiv'."

Polen rüstet zwar auf, aber an Zivilschutz hat offenbar keiner gedacht, berichtet Gabriele Lesser in der taz: "Kurz nach dem Überfalls Putins auf die Ukraine beschloss das polnische Abgeordnetenhaus, der Sejm, ein neues 'Gesetz zur Verteidigung des Vaterlandes', strich dabei aber 14 Gesetze, darunter auch das über den Zivilschutz. Schlimmer noch: Schon vor knapp zwanzig Jahren hatten die Abgeordneten bei einer Gesetzesnovelle die Definition 'Schutzraum' aus dem Text entfernt. Dies hatte zur Folge, dass sich ab 2004 niemand mehr für die Instandhaltung der Schutzräume zuständig fühlte, die es ja offiziell nicht mehr gab. Selbst die Hochsicherheits-Atombunker verfielen mit der Zeit, andere Schutzräume wurden zu Diskos, Bars oder Kegelkellern umgebaut."

Zwei Dinge kann sich Henryk M. Broder in der Welt beim besten Willen nicht erklären. Warum können wir Kolonien auf dem Mars errichten, aber Putin nicht stoppen? Und wie können wir hierzulande so arglos weiterleben, während Menschen in Kiew der "schlimmste Winter seit dem Zweiten Weltkrieg" drohe? "Alles business as usual? Sind wir nicht mit dem Credo groß geworden, man müsse 'den Anfängen wehren', und der bis heute unbeantworteten Frage, warum 'damals' niemand den Juden geholfen hat?"

Außerdem: Im bestens geheizten Schloss Elmau trifft man sich derzeit zu den Literaturtagen und für die SZ lauscht Moritz Baumstieger den Beiträgen der Gäste zum Ukraine-Krieg, darunter Herfried Münkler, Claus Leggewie, Karl Schlögel, Irina Scherbakowa oder Viktor Jerofejew. Münkler wagt einen Blick in die Zukunft: "Wohlstandsverfall, bestenfalls vage Aussichten auf einen Waffenstillstand und die Befürchtung, dass es bald auch an anderen Rändern Europas zu kriseln beginnen wird - auf dem Balkan, im Kaukasus, dem südlichen Schwarzmeer-Anrainer Türkei."

Viktor Orban hat die EU zunehmend ungenierter im "Würgegriff". Es ist Zeit nachzudenken, wie die Union Ungarn loswerden kann, meint der Politologe Jan-Werner Müller in der SZ: Es wäre wichtig, "die Hürden zu senken für eine Anwendung von Artikel 7; dieser ermöglicht es, einer Regierung, die europäische Prinzipien mit Füßen tritt, die Stimmrechte zu entziehen. Die derzeitigen Argumente der Kommission drehen sich um Korruption und die Willfährigkeit der ungarischen Justiz - und das ist auch gut so. Aber Orbáns Polit-Sabotage zugunsten von Putin ist noch einmal etwas anderes, und es hätte etwas Unangemessenes, wollte man derartigen Hooliganismus primär durch Kürzung von Subventionen beantworten - die wehrhafte Demokratie sieht schließlich auch nicht vor, Neonazis das Arbeitslosengeld zu kürzen, sondern ihnen unter Umständen politische Grundrechte zu entziehen." Zudem müsse ein politischer Verbund "effektive Interventionen im Inneren zum Schutz politischer Prinzipien ermöglichen - oder eben den Ausschluss eines Teils, der sich partout nicht an die Prinzipien halten will."
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Politik

Die einst von der westlichen Welt angehimmelten Sandinistas treiben in Nicaragua weiterhin ihre krasse Unterdrückungspolitik. "Die besten Köpfe Nicaraguas sind im Exil oder im Gefängnis", schreibt Ralf Leonhard in der taz: Nun wurde auch der bekannte Soziologe Oscar René Vargas verschleppt: "Nach dem Volksaufstand von 2018, der im Blut von über 300 unbewaffneten Demonstranten erstickt wurde, hatte er sich ins Exil geflüchtet, war aber dann wieder zurückgekehrt. Schon während der rechten Somoza-Diktatur in den 1970er Jahren musste der Absolvent der Universitäten Lausanne, Genf und Mexiko mit Titeln in Soziologie, Geschichte und Wirtschaft außer Landes gehen. Während der Revolution (1979-1990) hatten die sandinistischen Comandantes noch gern auf die Expertise des brillanten Analytikers gehört." Leonhard verweist auf zwei Texte Vargas', die den Ärger des Regimes provoziert haben dürften: Sein Buch über die Krise vom April 2018, das hier kostenlos heruntergeladen werden kann und einen Essay, der vor einigen Tagen veröffentlicht wurde.
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Stichwörter: Vargas, Oscar Rene, Nicaragua

Ideen

Der belarussische Menschenrechtler Ales Bjaljazki, der in Minsk in Haft sitzt, wird - wohl in Abwesenheit - am 10. Dezember den Friedensnobelpreis erhalten. Karl-Markus Gauß erklärt in der SZ die Hintergründe des erbittert geführten belarussischen Sprachenstreits - und was dieser mit Bjalzaki zu tun hat. Das eine Lager verteidigt das Ur-Russische als Grundlage aller späteren Sprachen, das zweite Lager ist überzeugt, dass das Belorussische "sich schon sehr früh gemäß eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickelte. (…) Für die Anhänger der ersten These ist der Versuch, die belorussische Sprache der russischen in der Öffentlichkeit gleichzustellen oder gar zur ersten Staatssprache zu machen, nichts anderes als das Kalkül nationalistischer Hetzer, die die Verbundenheit mit Russland aufkündigen und sich dem Westen anschließen möchten. Für die Anhänger der zweiten Sicht soll die These von der altrussischen Sprachgemeinschaft hingegen die koloniale Idee des russischen Imperiums, dem die Völker zu ihrem eigenen Nutzen angehören, mythologisch legitimieren und somit Belarus - wie auch der Ukraine - das Recht absprechen, sich unabhängig von Russland zu entwickeln. Bjaljazki gehört zu den Wissenschaftlern, welche die Eigenständigkeit der belarussischen Sprache und Literatur verfechten."
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Stichwörter: Bjaljazki, Ales, Belarus

Kulturpolitik

Museen sollen zwanzig Prozent Energie sparen, im Zeichen des Kriegs, aber auch des Klimawandels. Sabine Seifert trifft für die taz Nina Schallenberg, Nachhaltigkeitsbeauftragte der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, und lernt: "Reisen, Transporte und Leihgaben reduzieren, Ausstellungsdesigns recyceln, wenn möglich variabler klimatisieren. Bislang galt in deutschen Museen eine Temperatur von 21 Grad in Innenräumen bei einer Luftfeuchtigkeit von 45 bis 55 Prozent als fester Standard. 'Die Regelung war lange auf das empfindlichste Objekt ausgerichtet', erklärt Schallenberg, wobei die Luftfeuchtigkeit entscheidender sei als die Temperatur. 'Papier zum Beispiel hat in dieser Hinsicht ein enormes Gedächtnis.'"
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Wissenschaft

Der amerikanische Historiker Timothy Snyder steht dafür in der Kritik, dass er als Botschafter einer Fundraising-Plattform um Spenden für das ukrainische Drohnenabwehrsystem "Shahed Hunter" wirbt (Unser Resümee). Auch für Michael Hesse in der FR stellt sich nicht nur deshalb die Frage, ob das, was Snyder macht, nun Wissenschaft oder Politik ist. "Im letzteren Fall würde man Snyders Publikationen deutlich anders bewerten müssen. Seine Aussage, dass die Russen einen Völkermord in der Ukraine planen, müsste in dem Fall als Aussage eines Ukraine-Aktivisten, aber nicht als ein ausgewogenes Urteil eines Wissenschaftlers angesehen werden."
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Stichwörter: Snyder, Timothy

Gesellschaft

Vor dem Hintergrund der neuesten Statistiken über Gewalt gegen Frauen fordert Franziska Pröll im Leitartikel der FAZ Fußfesseln für gewalttätige Stalker, wie in Großbritannien, Spanien oder der Schweiz: "Deutschland schreckt vor der elektronischen Aufenthaltsüberwachung noch zurück. Doch die Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, dass es bei häuslicher Gewalt eine klare Botschaft braucht: Wer schlägt, der geht - und er hält sich fern. Indem die Freiheit des Täters eingeschränkt wird, erlangt die Betroffene ihre Freiheit zurück."

Für viele afghanische Frauen geht das Martyrium in Deutschland weiter, denn sie kennen die Rechte und Freiheiten in ihrem Gastland nicht, schreibt die deutsch-afghanische Journalistin Nilab Langar im Tagesspiegel: "Auch hier in Deutschland bringen afghanische Frauen viele Arten von Opfer, um die Bedürfnisse und Wünsche der Männer zu erfüllen, und tolerieren viele Arten von Gewalt in ihren Häusern, indem sie schweigen. Hunderte von afghanischen Frauen in Deutschland und auch hier in der Stadt tragen den Hidschab, obwohl sie es nicht wollen - und zwar auf Druck der Ehemänner, Väter oder Erziehungsberechtigten. Die Männer der Familie führen als Begründung die Religion an. Wenn eine Frau sich der Religion widersetzt, heißt das in vielen afghanischen Familien, dass sie aus der Familie verstoßen wird und sogar Blut vergossen werden kann."

Die Berliner Grünen-Politikerin Tuba Bozkurt kämpft im Gespräch mit Tatjana Söding von der taz für das Recht von Lehrerinnen, Kopftuch zu tragen, und gegen das Berliner Neutralitätsgesetz. Einen Widerspruch mit der iranischen Frauenbewegung, die für das Recht kämpft, kein Kopftuch zu tragen, sieht sie nicht: "Der moderne Feminismus ist von intersektionaler Solidarität geprägt: Frauen setzen sich dafür ein, dass andere Frauen selbst darüber entscheiden können, wie viel oder wenig sie tragen wollen, und nicht die Gesellschaft, keine Autorität, kein Regime. Die Frauen im Iran haben einen unfassbaren Mut. Sie kämpfen für die Freiheit der Frau. Selbstbestimmt sollten Frauen aber auch hier sein. Wenn sie freiwillig ein Kopftuch tragen wollen, sollen sie auch ihrer Berufsqualifizierung als Lehrerin nachgehen können."
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Medien

"So" ist das neue "äh". Darüber ärgert sich der Kunsthistoriker Wolfgang Kemp in der FAZ, als er Deutschlandfunk Kultur hört. Der Gebrauch solcher "verbalen Weichmacher", schreibt er in der FAZ, sei "pandemisch". Schlimm genug, dass die Wort-Genossen "sozusagen" und "sowieso" auch nur als Füllwörter dienten, um den "Sprachfluss am Laufen zu halten". Aber dass die Nutzer ständig redeten, um mit "so" nur unterwürfig gegenüber ihren Gesprächspartnern etwas anzudeuten anstatt die Dinge klar und deutlich zu benennen, ist Kemp ein Graus. Genauso wie "ganz", "total", "genau" "immer", "auf jeden Fall" und "alles", die er als "angewandte Lob- und Humilitätskultur" bezeichnet, weil sie Empathie nur vortäuschten. "Man könnte jetzt eine alte Rundfunk-Redewendung gebrauchen: Das versendet sich doch. Aber um einmal von den Inhalten zu sprechen: Das 'irgendwie' oder 'so' legt sich wie Mehltau über Aussagen, die Sachaussagen sein könnten und die Darstellungsfunktion der Sprache nutzen." Besonders aufgefallen ist Kemp dieser neuartige und doch weit verbreitete Sprachgebrauch in dem Podcast "Lakonisch elegant" über Ernst Jünger.

Der Tagesspiegel wird neu konzipiert - bei solchen Meldungen muss man heute skeptisch sein, denn meist bedeutet das eine fluffigere Präsentation von weniger Inhalt. Die Westberliner Zeitung will ab jetzt vierzig Seiten Welt und vierzig Seiten "Weltstadt" bringen, berichtet Steffen Grimberg in der taz. Was aber wegfällt, ist die Medienseite, eine der renommiertesten der Republik, so Grimberg: "Mit der Auflösung eines Fachressorts fehlt irgendwann auch die Expertise. Dann ist keineR mehr Expert*in und ständig am Ball. Mit dem Versprechen 'mehr Expert*innen', das auch so ein Jingle im Werbeblock für den neuen Tagesspiegel ist, passt das nicht zusammen."

Der Spiegel überprüft aktuell mehrere Artikel über die Flüchtlinge am griechisch-türkischen Grenzfluss Evros, meldet unter anderem die Welt: "Konkret geht es um den Verdacht, dass Flüchtlinge den Tod eines Mädchens erfunden haben könnten. 'Einige ursprüngliche Berichte hatten die Schilderungen der Flüchtlinge, die bis heute am Tod des Mädchens festhalten, als Tatsache übernommen.' (…) Die Spiegel-Korrespondenten, aber auch die Dokumentation des Magazins, das Faktentreue überprüft, haben den Schilderungen der Flüchtlinge auf Basis ihrer Recherchen geglaubt. Doch nach Darstellung des Berichts vom Medieninsider ist es nicht klar, ob es dieses Mädchen, die fünfjährige Maria, wirklich gab und wenn ja, ob sie tatsächlich an der Grenze gestorben ist."
Archiv: Medien
Stichwörter: Tagesspiegel, Spiegel, Westberlin

Kulturmarkt

Für S. Fischer Verleger Oliver Vogel steppt in Berlin der Bär, schreibt Hauke Hückstädt, Leiter des Literaturhauses Frankfurt am Main in der FAZ über den Umzug in die Hauptstadt, den Vogel als Eröffnung eines  "richtigen zweiten Standorts" angekündigt hat. Für Bär ist das Vortäuschung falscher Tatsachen. Für ihn kehrt nach Suhrkamp ein zweiter großer Verlag Frankfurt den Rücken. Obwohl, bedauert Bär, man an Main, Rhein, Elbe und Isar mindestens genauso erfolgreich Bücher machen könne. Bär trauert: "Ende der Geschichte. Frankfurt verliert seine Vorteile aus der deutschen Teilung und aus der Geschichte der Bonner Republik" und teilt gehörig aus:"Konzentration und Zentralisierung sind Folge von Anpassung, nicht Quell von Selbstbehauptung."
Archiv: Kulturmarkt
Stichwörter: Vogel, Oliver