9punkt - Die Debattenrundschau

Motive des Aufklärerischen im Dienst der Verblendung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.12.2022. Die Meldung, dass der Iran möglicherweise die Sittenpolizei auflöst, ist eher mit Skepsis zu betrachten, schreibt Gilda Sahebi in der taz. Die Medien fragen, ob China jetzt ein "Leben mit Covid" in Betracht zieht - allerdings sind gerade ältere Chinesen zu wenig geimpft. China weitet unterdessen seinen Einfluss in Europa, besonders in Italien, weiter aus, berichtet der Guardian. Was ist eigentlich ein "Stellvertreterkrieg", fragt ntv.de und holt sich Auskunft von Politologen. Die putinophile ehemalige ARD-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz sprach lange Zeit nur aus, was Millionen Deutsche dachten, und sie ist immer noch beliebt, konstatiert die NZZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.12.2022 finden Sie hier

Politik

Das iranische Regime will angeblich die "Sittenpolizei" abschaffen. Gilda Sahebi kann in der taz in Begeisterung darüber nicht im entferntesten einstimmen: "Über die Sittenpolizei spricht im Iran schon lange niemand mehr. Sie spielt bei der Niederschlagung der Proteste keine Rolle, ebenso wenig bei der systematischen Ausübung sexualisierter Gewalt in iranischen Gefängnissen oder bei der Verhängung von Todesurteilen. Die Menschen wollen nur eines: den Sturz des Regimes. Sie wollen Frau, Leben, Freiheit." Viel mächtiger seien Polizei und Basidsch-Milizen.

Im taz-Bericht von Teseo La Marca klingt es etwas anders: "Die iranische Sittenpolizei (Gascht-e Erschad) war bisher das in der Bevölkerung am meisten gefürchtete Instrument der Regierung, um die strengen islamischen Sittengesetze durchzusetzen." Es könnte aber auch um eine Zentralisierung von Kompetenzen gehen: "Noch Ende Oktober verkündete Ali Khan-Mohammadi, der Sprecher des staatlichen 'Amtes für das Gebieten des Rechten und Verbieten des Verwerflichen', dass die Durchsetzung der Sittengesetze noch weiter verschärft werden solle. Künftig sollten dafür auch die Basidschi, die Freiwilligenmiliz der Revolutionsgarden, eingesetzt werden. Berüchtigt sind die Basidschi vor allem dafür, dem Regime mit äußerster Gewalt bei der Unterdrückung der Proteste zur Seite zu stehen."

In der Welt beschwert sich Daniela Sepehri bitter, dass die deutsche Polizei iranische Demonstranten gegen das Mullah-Regime und seine Anhänger in Deutschland nicht besser schützt. Statt dessen durfte das sogenannte Islamische Zentrum Hamburg (IZH), dessen Leiter "von Khamenei persönlich eingesetzt" sei, jahrzehntelang unbehelligt den Islamismus propagieren. Und kürzlich sei sogar ein Demonstrant angezeigt worden, der auf einer Demonstration in Berlin "Khamenei ist ein Mörder" gerufen hatte. "Ali Khamenei, Religionsführer der Islamischen Republik und Oberbefehlshaber der Revolutionsgarde, ist für die Hinrichtung Tausender politischer Gefangener und die Ermordung Tausender Protestierender im Iran in den Jahren seiner Amtszeit verantwortlich. ... Die Anzeige kann also nur von einem Laien gestellt worden sein, der das Grundgesetz nicht kennt, würde man meinen. Doch eine Presseanfrage ergab, dass die Strafanzeige von Amts wegen gestellt worden ist, also von der Polizei selbst. Ein Skandal, der sich einreiht in eine Liste von Beispielen, wie wenig iranische Aktivisten und Aktivistinnen, die sich aus dem deutschen Exil heraus gegen das iranische Regime erheben, auf den Schutz der Behörden zählen können."

Die chinesische Regierung scheint dem Druck ein wenig nachzugeben und stärker als bisher ein "Leben mit Covid" in Betracht zu ziehen. Das Dumme ist nur: Gerade die älteren Chinesen sind viel zu wenig geimpft, schreibt Fabian Kretschmer in der taz: "Die niedrige Impfrate hat vor allem mit der verbreiteten Wissenschaftsskepsis der Senioren zu tun, die lieber der traditionellen chinesischen Medizin vertrauen. Zudem hat der Staat im Vergleich zu anderen Generationen weniger Hebel, um sozialen Druck auszuüben. Die Impfkampagne lief schließlich vor allem über Parteiinstitutionen, Arbeitgeber und Schulen. Vor einem Impfzwang hat Peking bislang zumindest zurückgeschreckt." Ähnlich berichtet Friederike Böge in der FAZ: "Am Sonntag gab etwa die Stadt Guangzhou bekannt, dass fast die Hälfte ihrer Bürger, die mehr als 80 Jahre alt sind, noch ungeimpft sind. Stattdessen wurden Milliarden in Testkapazitäten und Quarantäneeinrichtungen investiert. Bei einer ungebremsten Öffnung könnten nach einer Prognose von Wissenschaftlern der Fudan-Universität 1,5 Millionen Chinesen an oder mit Corona sterben."

Immer wieder ist in den Medien in letzter Zeit von chinesischen Polizeiaktivitäten im Ausland die Rede. Besonders massiv ist dieses Problem laut einem Bericht der NGO "Safeguard Defenders" in Italien, berichtet Angela Giuffrida im Guardian. Hier ist sogar die Rede davon, dass chinesische Beamte Chinesen auffordern oder gar zwingen, nach China zurückzukehren. "In Italien leben 330.000 chinesische Staatsbürger (laut Zahlen des nationalen Statistikamtes Istat aus dem Jahr 2021), und das Land ist aufgrund zahlreicher bilateraler Abkommen ein fruchtbarer Boden für potenziellen Einfluss aus Peking. Dazu gehört ein gemeinsames polizeiliches Überwachungsprogramm, das erstmals 2015 unterzeichnet wurde und in dessen Rahmen chinesische Polizisten zeitweise in italienischen Städten patrouillieren, angeblich um chinesischen Touristen zu helfen."
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Europa

Was ist ein "Stellvertreterkrieg" fragt Hubertus Vollmer in einem Hintergrundartikel für ntv.de. Anlass ist Alice Schwarzers Äußerung, der Ukraine-Krieg sei ein solcher. Vollmer zitiert verschiedene Stimmen zu dem Begriff, unter anderem den prorussischen Politologen Johannes Varwick, der den Begriff befürwortet, die Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff und ihren Kollegen Thomas Jäger, der Schwarzer und Varwick vorwirft, das russische Narrativ zu übernehmen:"Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine sagt Jäger, der Begriff 'Stellvertreterkrieg' werde von Russland als 'Frame' genutzt, um zu erklären, warum die russische Armee in der Ukraine nach mehr als neun Monaten kaum Geländegewinne erzielt habe. Die Darstellung Russlands, man kämpfe in der Ukraine gegen den 'kollektiven Westen', sei aber nur Propaganda. 'Die Ukrainer kämpfen für ihr Land, für ihre Freiheit. Das ist ihre Hauptmotivation', betont der Politologe."

Bei diesen Bildern denkt man allerdings eher, dass es Russland um Vernichtung geht:

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Medien

Die ehemalige ARD-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz macht heute noch mit Auftritten und Büchern ihrem Ruf als Putin-Versteherin alle Ehre. Und sie ist bei den Deutschen immer noch sehr beliebt, wundert sich Lucien Scherrer in der NZZ: "Sicher ist, dass die 73-Jährige mit ihrer zumindest geistigen Nähe zum Kreml keineswegs so skandalös war, wie man heute aufgrund der empörten Reaktionen auf ihre Auftritte in Reutlingen und anderswo denken könnte. Vielmehr gehörte sie zu einem Beschwichtigungsorchester, das antiamerikanische Ressentiments bediente, Warnungen von Staaten wie Polen und der Ukraine als 'Russophobie' verhöhnte und die Entspannungspolitik von SPD und CDU legitimierte. Eine Politik, die vielerorts erst seit dem 24. Februar dieses Jahres als Irrweg gilt. Krone-Schmalz sprach aus, was viele Deutsche dachten und hören wollten. Als sie 2018 bei Sandra Maischberger auftritt, zitiert die Moderatorin eine Studie, wonach über 80 Prozent der Deutschen Angst vor Donald Trump hätten - und nur 52 Prozent vor Wladimir Putin. Im Medienbetrieb, der heute mehrheitlich für die Ukraine Partei ergreift, kamen Krone-Schmalz' Thesen weit besser an, als man das heute vermutlich wahrhaben will. Ihr Buch 'Russland verstehen' zum Beispiel gefällt nicht nur Wladimir Putin. Es wird auch in Zeitungen wie der Süddeutschen Zeitung und der taz gelobt. Letztere dankt der Autorin für die 'Nachhilfestunde in osteuropäischer Politik'."
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Kulturpolitik

Schinkels Bauakademie gegenüber dem Stadtschloss muss unbedingt wieder aufgebaut werden, findet der Architekt und Historiker Peter Stephan in der FAZ. Wie das Rote Rathaus habe sie dem Schloss eine alternative, bürgerliche Architektur entgegengehalten. "Die zum Schloss formulierten Antithesen waren dialektischer Natur: klar, aber nicht konfrontativ, innovativ, aber auch integrativ. Von diesem dialogischen Prinzip wichen erst die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts ab."
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Stichwörter: Bauakademie Berlin

Wissenschaft

Auch die Mathematik wird in Großbritannien jetzt postkolonial neu aufgestellt, berichtet Gina Thomas in der FAZ. Sie bezieht sich auf Richtlinien der Qualitätssicherungsagentur für Hochschulen (Quality Assurance Agency, QAA): "Die jüngsten Empfehlungen fordern eine von den Studenten mitbestimmte multikulturelle und entkolonialisierte Sicht auf die Fächer. Studenten müssten auf problematische Fragen in der Entwicklung der ihnen beigebrachten Inhalte aufmerksam gemacht werden, wie etwa darauf, dass Pioniere der Statistik die Rassenhygiene gefördert hätten und dass Mathematiker mit dem Sklavenhandel, dem Rassismus oder dem Nationalsozialismus verstrickt gewesen seien."
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Stichwörter: Sklavenhandel, Rassismus

Ideen

In der NZZ macht sich Robert Misik Gedanken über Verschwörungstheorien, die immer mehr grassieren: "Rein phänomenologisch faszinierend ist, wie Verschwörungserzählungen Elemente des kritischen Denkens und des aufklärerischen Geistes gekapert haben. Etwa den Gestus des detektivischen Enthüllens. Den gesunden Verdacht gegenüber der Macht. Nüchtern gesehen ist es erstaunlich, wie gut es gelingt, Motive des Aufklärerischen, des Emanzipatorischen in den Dienst der Verblendung und des Fanatismus zu stellen."


In der NZZ überlegt der Philosoph Otfried Höffe, ob der Klimaschutz auch Straftaten rechtfertigt und kommt zu einem recht harschen Urteil: "Die Demokratie pflegt beim Demonstrationsrecht sehr großzügig zu sein. Sie erlaubt auch sehr lästige Proteste. Die Behinderung von Rettungswagen und anderen nötigen Krankenfahrten sowie Sachbeschädigungen, zumal von großen Kunstwerken, fallen aber kaum darunter. Unterstellt man einmal trotzdem ihre Legitimität, so müssen die Aktionen immer noch dem Klimaschutz tatsächlich helfen. Dies geschieht zweifellos nicht, weder direkt - denn sie verringern nicht die Abgase - noch indirekt - denn die Politik ist längst für den Klimaschutz sensibilisiert. Mit dem erklärten Ziel einer 'maximalen Störung der öffentlichen Ordnung' machen sich die Klimaaktivisten auf den Weg zu einer Ökodiktatur."
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