9punkt - Die Debattenrundschau

Keine Auflösungserscheinungen an der Spitze

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.12.2022. In Time erzählt Dascha Nawalnaja, wie ihr Vater seit zwei Monaten in seinem Gefängnis gequält wird. In der SZ blickt Irina Scherbakowa von Memorial auf die jahrelange geduldige Zerstörung der russischen Zivilgesellschaft zurück. Die neuen rechtsextemen Minister in Israel sind schlimmer als europäische Rechtspopulisten, warnt Omri Boehm in der Zeit. Ebendort bleibt Angela Merkel unflexibel: Ihre Politik war alternativlos, für etwas anderes hätte es auch überhaupt keine Akzeptanz gegeben.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.12.2022 finden Sie hier

Europa

So wie Maria Kolesnikowa in Belarus (unsere Resümees) wird auch Alexej Nawalny im Gefängnis nicht auszuhaltenden Torturen unterworfen. Seine 21-jährige Tochter Dascha Nawalnaja, die in Stanford studiert, schildert in Time seine aktuellen Haftbedingungen: "Das knappe Überleben des Hungerstreiks hat seinen Geist nicht gebrochen - nichts wird ihn jemals brechen. Aber die Bedingungen der Einzelhaft, denen er jetzt ausgesetzt ist, zielen eindeutig darauf ab, ihn geistig zu brechen und körperlich zu töten. Mein Vater 'wohnt' jetzt seit über zwei Monaten in einer 2 Meter mal 2,40 Meter großen Strafzelle, die für jemanden, der 1,90 Meter groß ist, eher ein Betonkäfig ist. Er verbringt die Tage sitzend auf einem niedrigen Eisenhocker (was seine Rückenschmerzen verschlimmert), wobei ein Becher das einzige ist, was er behalten darf. Sogar sein Bett ist von 6 Uhr morgens bis 22 Uhr abends an der Wand befestigt."

Dass die gestern ausgehobenen "Reichsbürger" Spinner sind, bedeutet nicht, dass sie ungefährlich wären, schreibt Barbara Junge im taz-Kommentar. Und ein taz-Reporterteam erzählt, wie sie hätten gefährlich werden können: mit Hilfe der ehemaligen AfD-Bundestagsabgeordneten und Richterin Birgit Malsack-Winkemann, die als "Justizministerin" vorgesehen war. "Laut der Pressestelle des Bundestags verfügt die ehemalige AfD-Abgeordnete über einen Ehemaligenausweis und dürfte damit gemäß Hausordnung nach einem Sicherheitscheck alle Bundestagsgebäude betreten. Aus der Pressestelle des Bundestags hieß es dazu: 'Bis zum Vorliegen weiterer Erkenntnisse aus dem Ermittlungsverfahren des Generalbundesanwalts erhält Frau Malsack-Winkemann keinen Zutritt zu den Liegenschaften des Deutschen Bundestages.'" Jasper von Altenbockum fragt in der FAZ: "Welche Verbindungen gibt es in die Bundeswehr, in die Polizei? Welche Verbindungen gibt es in die AfD? Immerhin gehörte es zu den schmutzigen Phantasien Björn Höckes, Deutschland eines Tages mit Gewalt wieder auf den rechten Pfad zu bringen."

Angela Merkel bleibt auch nach Dienstschluss die Kanzlerin der Alternativlosigkeit. Im Gespräch mit Tina Hildebrandt und Giovanni Di Lorenzo von der Zeit wiederholt sie sich eigentlich nur noch: "Schauen wir auf meine Politik in Bezug auf Russland und die Ukraine. Ich komme zu dem Ergebnis, dass ich meine damaligen Entscheidungen in einer auch heute für mich nachvollziehbaren Weise getroffen habe. Es war der Versuch, genau einen solchen Krieg zu verhindern. Dass das nicht gelungen ist, heißt noch nicht, dass die Versuche deshalb falsch waren." Einfach alles war richtig und hat nur zum falschen Ergebnis geführt: "Die 2008 diskutierte Einleitung eines Nato-Beitritts der Ukraine und Georgiens hielt ich für falsch. Weder brachten die Länder die nötigen Voraussetzungen dafür mit, noch war zu Ende gedacht, welche Folgen ein solcher Beschluss gehabt hätte, sowohl mit Blick auf Russlands Handeln gegen Georgien und die Ukraine als auch auf die Nato und ihre Beistandsregeln. Und das Minsker Abkommen 2014 war der Versuch, der Ukraine Zeit zu geben." Und für eine andere Energiepolitik oder die Beibehaltung von Atmoenergie hätte es "überhaupt keine Akzeptanz" gegeben.

Mit dem Verbot von Memorial habe sie nicht gerechnet, sagt die Kulturwissenschaftlerin Irina Scherbakowa, Mitbegründerin der Menschenrechtsorganisation, im SZ-Gespräch mit Moritz Baumstieger. Sie sorgt sich, dass Russland zu einem "riesigen Nordkorea" werden könnte, und ist enttäuscht über die schweigende russische Zivilgesellschaft äußert. Stattdessen hörte sie "Töne wie diese: 'In einer Woche sind wir in Kiew. Das wird ein schneller Sieg - warum haben sie da acht Jahre herumgetan, nach all dem, was unseren Leuten im Donbass angetan wird?' Da ist mir schlecht geworden - denn ich wohne in Moskau in einer Gegend, in der Ärzte und Ingenieure wohnen, Professoren und Notare - nicht gerade diejenigen, die zu den enttäuschten der russischen Gesellschaft gehören. (…) Zunächst schien die Zivilgesellschaft im Werden - doch seit dem ersten Tschetschenienkrieg wurde die Menschenrechtsarbeit stark behindert, die Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung kaum anerkannt. Mit dem zweiten wurde es noch schlimmer. Und schon Ende der Neunziger wurde die Zahl der Menschen, die auf die Straße gingen kleiner. Ein Teil ist emigriert, die Perestroika-Leute wurden alt, der Spalt zwischen dem aktiven Kern der Zivilgesellschaft und der Bevölkerung wurde immer breiter."

Derweil denkt Felix Eick in der Welt schon über einen "Marschall-Plan" für Russland nach: "Wir müssen großzügig und klug sein. Für den Fall eines Umsturzes, einer Kapitulation, eines Staatsbankrotts, eines sinnvollen Verhandlungsangebots muss der Westen einem Putin-Nachfolger direkt ein attraktives Angebot machen können. Wenn der Krieg vorbei ist, wird Russland eine Art Entwicklungsland sein, das trotz Rohstoffen nur mit Hilfe von außenin die Weltgemeinschaft integriert werden kann."

Im SZ-Feuilleton macht sich Joshua Beer angesichts der Tatsache, dass nicht nur hunderttausende Russen das Land verließen, sondern laut Connection e.V. auch "schätzungsweise mehr als 140.000 militärdienstpflichtige Männer" die Ukraine, Gedanken über den Umgang mit Deserteuren. Letztere erhalten in der EU humanitären Schutz, bei den Russen tut sich die EU schwerer: "In der EU aber bekommen russische Deserteure und Wehrdienstflüchtige zum Teil nur schwer Asyl, weil sich die Europäer auf kein gemeinsames Aufnahmesystem einigen können. Viele fürchten, Putin könnte über sie Spione - 'Trojanische Pferde' - einschleusen, die baltischen Staaten wollen gar niemanden aufnehmen. (…) Dabei erfordert es gehörig Mut, in Putins Russland aufzubegehren. Theoretisch dürfen Rekruten verweigern, doch Militär und Medien brandmarken das als Gesetzesbruch und Vaterlandsverrat. Wer im Kampf aufgibt oder desertiert, muss mit bis zu 15 Jahren Knast rechnen oder Schlimmerem. Ein kürzlich bekannt gewordenes Video zeigt, wie ein russischer Überläufer mit einem Hammer hingerichtet wird."
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Politik

Der amerikanische Politikberater Ali Vaez sieht den Iran im Gespräch mit Jan Roß von der Zeit dort, "wo die Sowjetunion in den frühen 1980er-Jahren war - nicht in den späten 1980er-Jahren, unmittelbar vor dem Kollaps. Das System ist ideologisch bankrott, politisch in einer Sackgasse, wirtschaftlich in großen Schwierigkeiten, unfähig, seine strukturellen Probleme zu lösen und dem Volk Wohlstand zu verschaffen. Aber gleichzeitig hat es immer noch den Willen zu kämpfen. Es gibt noch keine Auflösungserscheinungen an der Spitze, daher konnte die Führung brutal gegen die Protestbewegung vorgehen."

Es wäre falsch, die israelischen Politiker Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich, die jetzt an Netanjahus neuer Regierung wichtige Posten beziehen, mit europäischen Rechtspopulisten gleichzusetzen. Sie seien leider schlimmer, schreibt Omri Boehm in der Zeit: "Sie spielen nicht mit rassistischen 'Klischees' oder versäumen es, 'Gewalt zu verurteilen'. Sie verfügen selbst über ausgiebige Erfahrungen mit Gewaltanwendung und kündigen auf den Plattformen ihrer Parteien programmatisch einen 'totalen Krieg' gegen die Palästinenser im Westjordanland und in Israel an... Itamar Ben-Gvir hat öffentlich dem Terroristen Baruch Goldstein gehuldigt, der 1994 in eine Moschee in Hebron stürmte und 29 Palästinenser massakrierte. 'Eines Tages', so seine berüchtigte Erklärung, 'wird eine Straße nach Goldstein benannt werden.' Auch die Ermordung Izchak Rabins hat er begrüßt, und er rief die Lobbyorganisation ins Leben, die sich für die Freilassung seines Mörders aus dem Gefängnis einsetzt. Er wird nun Minister für Innere Sicherheit und hat den Namen seiner Institution bereits in 'Ministerium für Nationale Sicherheit' geändert."
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Kulturpolitik

Nach zwanzig Jahren verlässt Hortensia Völckers als Gründungsdirektorin die Kulturstiftung des Bundes. Im Tagesspiegel+-Gespräch mit Nicola Kuhn und Katrin Sohns beklagt sie mangelnden Dialog bei der Documenta 15, ihr "Unbehagen" gegenüber der eingesetzten Kommission und laviert herum, wenn es um den BDS-Beschluss des Bundestages geht, dessen Folgen sie für "unüberschaubar" hält: "Jetzt schon ist zu beobachten, dass es schwieriger wird, internationale Kandidatinnen für Leitungspositionen zu finden, weil viele international tätige Persönlichkeiten fürchten, hier in Deutschland ihre Karriere aufs Spiel zu setzen."
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Gesellschaft

Wir müssen ideologiefrei und mit einer "Nulltoleranz-Strategie" gegen Clan-Kriminalität vorgehen, fordert Ahmad Mansour in der Welt: "Doch unter bestimmten Gruppen von politischen Aktivisten, vorwiegend im linken Spektrum, werden die Interventionen der Polizei und die öffentliche Debatte über den Umgang mit Clankriminalität als rassistisch bezeichnet. Warum? Weil die Täter in diesen Fällen nicht Thomas oder Jan heißen, sondern Ahmad und Ali. Sie sind Mitglieder einer Minderheit, die es in dieser woken, linken Ideologie vor der deutschen Dominanzkultur zu schützen gilt. Schnell ist von Generalverdacht, rassistischen Zuordnungen und Polizeigewalt die Rede. Statt neue Wege zu suchen, diese Art von Kriminalität zu bekämpfen, verlieren wir uns erneut in Debatten über die richtige und politisch korrekte Bezeichnung und Begrifflichkeit. Dass jeden Tag vor allem Angehörige von Minderheiten Opfer dieser kriminellen Machenschaften werden, ignoriert die Antirassismus-Blase komplett. Mehr noch, das Desinteresse an den Zuständen in Berlin-Neukölln, Bremen oder Essen wird sogar als Ausdruck von moralischem Handeln und Differenziertheit wahrgenommen."

Indes berichtet Pascal Bartosz im Tagesspiegel, dass die Linken-Stadträtin Sarah Nagel einen Einsatz in einer Neuköllner Shisha-Bar untersagte, Nagel sprach von "Rassismus" und "stigmatisierenden Razzien".
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Religion

Am Montag legte die vom Zentralrat der Juden in Deutschland beauftragte Kölner Rechtsanwaltskanzlei Gercke Wollschläger die Zusammenfassung ihres Untersuchungsberichts "zu etwaigem Fehlverhalten" von Walter Homolka und seinem Ehemann vor (Unsere Resümees). Am Dienstag erklärte Homolka, er werde weder für den Vorstand der Union progressiver Juden in Deutschland kandidieren noch weiter an der Leitung des von ihm gegründeten Abraham-Geiger-Kollegs beteiligt sein. Ein Zusammenhang ist natürlich nicht nachzuweisen, schreibt in der Welt Alan Posener, der sich das Gutachten genauer angeschaut hat. Homolka habe laut Kanzlei nicht nur ein "Netz von Abhängigkeiten" und eine "Kultur der Angst" geschaffen, die Kanzlei kommt "nach der Auswertung von 79 Interviews mit 73 Betroffenen außerdem zum Ergebnis, dass es bei Homolka in acht Fällen 'zumindest den Anfangsverdacht einer Straftat' gebe: einen Fall der Vorteilsannahme, 'also eines Korruptionsdelikts', drei Fälle der Nötigung, einen Fall der versuchten Nötigung, einen Fall der Verleumdung, zwei Fälle der Beleidigung."
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Stichwörter: Homolka, Walter

Geschichte

Zum 200. Todestag erinnert der Historiker Iwan-Michelangelo d'Aprile in der SZ an den Philosophen Saul Ascher, der in seinen frühsoziologischen Analysen "fundamentale Kritik an den beiden dominanten Formen des Proto-Rassismus im 18. Jahrhundert" äußerte: "die ethnisch vom christlichen Antijudaismus zum völkischen Antisemitismus gewendete moderne 'Wissenschaft des Judenhasses' (Ascher) und die biologistisch-anthropologische Enthumanisierung nicht-weißer, vermeintlich defizitärer 'Menschenracen'." In der FR schreibt Arno Widmann zu Ascher.
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Medien

Nach der Untersuchung der Beraterfirma Deloitte kann den ehemaligen Verantwortlichen im NDR-Landesfunkhaus Kiel keine "systematische politische Einflussnahme" vorgeworfen werden, meldet unter anderem ZeitOnline. Johannes Schneider sieht das Gutachten ebenda kritisch, denn was genau heißt schon "systematisch"?, fragt er. "Hinzu kommt: Universelle Kriterien etwa dafür, wie Pressefreiheit einzelner Journalistinnen mit den Hierarchien in Redaktionen einhergehen sollten und wie Meinungsverschiedenheiten über die politische Relevanz und den Zuschnitt eines Themas hier auszuräumen wären, gibt es aus gutem Grund kaum. Das wäre ja auch ein Eingriff wiederum in die redaktionelle Freiheit. Und auch die Nähe einzelner Redakteure zu einzelnen Politikern lässt sich zwar in Grenzfällen problematisieren, wo etwa familiäre Bindungen bestehen. Doch ist schon ein reger und freundlicher Austausch ein Problem, oder dass man Personen beider Lager öfter die Köpfe zusammenstecken sieht und um ihren regen SMS-Verkehr weiß?"
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Stichwörter: NDR, Pressefreiheit