9punkt - Die Debattenrundschau

Protagonisten einer trüben Affäre

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.12.2022. Russland schießt die Ukraine mit iranischen Raketen in Dunkelheit und Kälte. Die USA und Britannien wollen jetzt helfen. Derweil erklärt Putin: Glauben kann man nur mir. Die FAZ stellt die wichtigsten "Reichsbürger" vor, darunter ein Prinz, eine Richterin, ein Rechtsanwalt, ein Tenor und eine Ärztin. Der Korruptionsskandal im EU-Parlament ist ein schwerer Schlag für Italiens Linke, berichtet die NZZ. Die taz blickt in den Osten Deutschlands mit seiner Russophilie und begreift es nicht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.12.2022 finden Sie hier

Europa

Nach dem russischen Desaster auf dem Boden schießt Russland die ukrainische Bevölkerung aus der Distanz mit iranischen Raketen in Dunkelheit und Kälte. Immerhin hat die Biden-Regierung jetzt die Entscheidung getroffen, die Ukrainer mit Patriot-Abwehrwaffen auszustatten, berichtet CNN. In den nächsten Tagen sollen die Waffen geliefert werden, ukrainische Soldaten werden in Deutschland ausgebildet: "Das System gilt weithin als eine der leistungsfähigsten Langstreckenwaffen zur Verteidigung des Luftraums gegen ankommende ballistische Raketen und Marschflugkörper sowie einige Flugzeuge. Aufgrund seiner großen Reichweite und seiner Fähigkeit, in großer Höhe zu operieren, kann es russische Raketen und Flugzeuge weit entfernt von ihren beabsichtigten Zielen in der Ukraine abschießen." Auch Britannien will Waffen mit größerer Reichweite liefern, meldet Reuters.

Inna Hartwich zeichnet in der taz ein kleines Psychogramm Wladimir Putins, der seine rituelle Jahrespressekonferenz und die ebenso rituelle Publikumsbefragung im Fernsehen abgesagt hat und sich in seinem selbstverschuldeten Größenwahn zu verlieren scheint: "Putin schwebt über den Dingen und hat sich längst von dem Gedanken verabschiedet, er schulde jemandem irgendeine Art von Rechenschaft. Nicht einmal seinem Volk, das er lediglich dafür braucht, seine irren Pläne von einem Großrussland zu verwirklichen. Das Offensichtliche, was in seinem Land und auch in der Welt durch seine Politik geschieht, übergeht er und fühlt sich dabei ausgesprochen stark. 'Glauben kann man niemandem, glauben kann man nur mir', sagte er vor wenigen Tagen tatsächlich bei einer Pressekonferenz."

Wladimir Putin hat mit seinen Massenmorden nicht 2022 in der Ukraine angefangen, sondern 2000 in Tschetschenien. Es folgten Georgien, Syrien, die Ukraine 2014. Westliche Politiker, die Putin jahrzehntelang als "Partner" behandelt haben, haben sich schuldig gemacht, insistiert der franzlösischeh Politologe Nicolas Tenzer auf der Website des Thinktanks "Terra Nova": "Sie haben nicht auf die Warnungen gehört, die in Russland selbst von Anna Politkowskaja, Natalja Estemirowa, Boris Nemzow und vielen anderen und in Frankreich selbst seit Anfang der 2000er Jahre vor allem von André Glucksmann und Thérèse Delpech ausgesprochen wurden. Sie verhöhnten gewissermaßen nicht nur die Opfer und schlossen schnell ihre Augen vor den Massengräbern, sondern schoben auch auf strategischer Ebene all jene beiseite, die mit Nachdruck den Krieg kommen sahen. Wie Thérèse Delpech 2005 in 'L'ensauvagement' schrieb: 'Erinnerung an Verbrechen ist eine Voraussetzung für die internationale Sicherheit.'"

Der Korruptionsskandal im EU-Parlament ist ein schwerer Schlag für Italiens Linke. Denn im Zentrum der Ermittlungen, berichtet in der NZZ Luzi Bernet, stehen "das Netzwerk des langjährigen früheren Europaparlamentariers Antonio Panzeri", der erst bei den Sozialdemokraten und dann bei den Kommunisten war, und Niccolò Figà-Talamanca sowie die NGOs der beiden Politiker, "Fight Impunity" und "No peace without Justice": "Die Affäre beunruhigt Italiens Linke, die nach der Wahlschlappe von Ende September ohnehin auf Identitätssuche ist. Vor wenigen Tagen erst musste sie zusehen, wie eine ihrer neuen Lichtgestalten, der gerade gewählte Abgeordnete Aboubakar Soumahoro, ein junger Politiker mit ivoirischen Wurzeln, in den Strudel einer undurchsichtigen Geschichte um seine Frau und deren Mutter geriet. Und nun wird mit dem Skandal, in den linke Politiker, Gewerkschafter und Menschenrechtsorganisationen involviert sind, das ganze 'Referenzuniversum der italienischen Linken' akut bedroht, wie La Stampa kommentiert. Italiens Rechte mokiert sich bereits darüber, dass ausgerechnet jene Kreise, die sich oft als Verfechter der Moral aufspielten, nunmehr Protagonisten einer trüben Affäre seien."

Die FAZ fasst nochmal zusammen, was wir bisher über die festgesetzte "Reichsbürger"-Truppe, viele ehemalige Soldaten und Beamte darunter, wissen: "Neuer Reichsführer sollte Heinrich XIII. Prinz Reuß werden, auf dessen Schloss in Bad Lobenstein in Thüringen der 'Rat' mehrmals tagte. Malsack-Winkemann war in der Schattenregierung als Justizministerin vorgesehen, Rechtsanwalt Tim Paul G. als Außenminister, Tenor René R. als Kulturminister, Ärztin Melanie R. als Gesundheitsministeria, und 'Astrologin' Ruth L. sollte für 'Transkommunikation' zuständig sein." Die Manie, Verdächtige, deren Namen bekannt ist, nicht zu benennen, macht solche Artikel inzwischen allerdings fast unlesbar.

Heute Abend findet das historische Halbfinalspiel zwschen den Fußballnationalmannschaften von Frankreich und Marokko statt. Rechtsextreme schüren Angst vor Randale. Aber das Verhältnis zwischen Frankreich und Marokko ist entspannter als das zwischen Frankreich und Algerien, schreibt FAZ-Korrespondentin Michaela Wiegel. Viele Franzosen marokkanischer Abstammung spielen in der französischen Öffentlichkeit eine Rolle: "Pierre Vermeren, der an der Sorbonne die Geschichte Nordafrikas lehrt, verweist auf ein weiteres Phänomen: Frankreich habe seit 1956 jährlich 30.000 marokkanische Studenten ausgebildet. Eliteschmieden für Ingenieurs- und Informatikberufe wie Ecole Polytechnique oder Centrale nehmen viele marokkanische Studenten auf. Le Figaro titelte kürzlich über den 'unverschämten Erfolg der Marokkaner bei den Aufnahmeprüfungen'. Von den inzwischen 40.000 marokkanischen Studenten bleiben viele für immer. 'Das ist ein anderes Publikum als die Einwanderer aus dem ländlichen Milieu', sagt Vermeren."

Leicht überfrachtet klingen die Fragen, die Nils Minkmar in der SZ anlässlich des Spiels stellt: "Ist dieser Abend vielleicht das Datum, das den Abstieg Frankreichs besiegelt, während sich ganz Afrika am Erfolg des Teams aus dem Maghreb freut? Oder markiert er den Beginn einer neuen Partnerschaft über das Mittelmeer hinweg?"

Einerseits möchte sich Georgien der EU anschließen. Andererseits verbreitet sich unter dem Einfluss des mächtigen Oligarchen Bidsina Iwanischwili ein neuer und paradoxer Weise russophiler Nationalismus mit der üblichen antiwestlichen Stoßrichtung, erzählt der in Berlin arbeitende Literaturwissenschaftler Zaal Andronikashvili in der FAZ: "Diese antikoloniale Rhetorik entbehrt jedoch jeder Grundlage der Kolonialismuskritik. Denn es ist das oligarchische Kapital Iwanischwilis, dem sich Georgien politisch und wirtschaftlich unterwirft und das sich nun auf den Weg macht, es auch kulturell zu unterwerfen. Die Innenpolitik Iwanischwilis hat bereits traurige außenpolitische Auswirkungen. Anders als die Ukraine und Moldau hat Georgien keinen Kandidatenstatus der EU bekommen."
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Gesellschaft

Auch in den Neuen Ländern ist die Gesellschaft gespalten, aber eins ist klar, schreibt Michael Bartsch in einem kleinen taz-Essay: Die Ossis sind viel stärker für Putin als die Wessis. Woher der anhaltende Mentalitätsunterschied kommt, habe die Soziologie bis heute nicht geklärt: "Es lässt sich nur mit der fortwirkenden Prägung durch die Jahre bis 1989 erklären, einer Prägung, die das wiedervereinigte Deutschland auch in drei Jahrzehnten nicht aufzuheben vermocht hat. (…) Wer ostzulande nicht gegen alles ist, wird verdächtigt, für etwas zu sein, mithin mit 'denen da oben' zu kollaborieren - eine subtile Kontinuität aus Zeiten des SED-Regimes."
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