9punkt - Die Debattenrundschau

Die Grenze bezüglich der Eingriffstiefe

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.12.2022. Mehrere Artikel beleuchten heute die Vernetzungen im Rechtsextremismus: Stephan Malinowski weist in der FAS auf die Kontinuität von Adelskult und rechtsextremen Ideologien hin. Die taz begibt sich nach Thüringen, wo sich die Verbindung zwischen "Reichsbürgern" und AfD am deutlichsten zeigt. Die NZZ wirft einen Blick auf die "Organische Christus-Generation", eine Sekte in der Schweiz, die ebenfalls Beziehungen zur AfD unterhält. Ist die Kritik an Katar eurozentrisch, fragt die SZ. Auch Wolfgang Ullrich wundert sich in der NZZ über die Politisierung von Veranstaltungen wie Documenta und Fußball-WM.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.12.2022 finden Sie hier

Europa

Putin ist seinen Zielen näher, als der Westen denkt, warnt der Historiker Alexander Gogun in der taz. Seine nationalromantischen Fantasien seien das eine, aber Putin droht noch einen anderen Effekt zu erreichen: "Der Plan war, die Ukraine zugrunde zu richten, ihre 'Donbassisierung' zu arrangieren. Die Aufgabe ist rein pragmatischer Natur: die Zerstörung eines Objekts mit Vergleichscharakter für die Untertanen des autoritären russischen Staates. Ein freies und einigermaßen lebendiges Land, in dem fast die Hälfte der Bevölkerung Russisch spricht, eine funktionierende ostslawische Demokratie - ein Beispiel, das auch die Bürger*innen der Russischen Föderation zum Nachdenken bringen könnte, ein Ort der Emigration für russische Oppositionelle, die von dort aus weiter den Kreml kritisieren: Das ist ein natürlicher Erzfeind für Putins Diktatur."

Geschichte wiederholt sich nicht, "seit der Aushebung von Heinrich XIII. Prinz Reuß und seiner reichsbürgerlichen Schar jedoch beeindruckt sie einmal mehr durch ihre Reimkunst", schreibt der Historiker Stephan Malinowksi in der Sonntags-FAZ. Der Plunder aus Esoterik, Antisemitismus und Hass auf den Mainstream ist nichts Neues, so Malinowski, und auch nicht der Adelskult im Rechtsextremismus: "Die köchelnde Kraft dieser Bewegungen fließt nicht aus Analysen und Argumenten, sondern aus der Energie, die sich aus Angst, Hass, Ressentiment und imaginären Gegenwelten ziehen lässt, in denen eigenwillige Vorstellungen von Adel oft eine Rolle spielen. Hier - und nicht in einer vermeintlichen Oberklassen- oder Adelsverschwörung - liegt auch die Bedeutung des Immobilienhändlers Heinrich XIII. Nicht als Führer, nicht als Sender ist die Figur von Bedeutung, sondern als Leinwand, auf die sowohl seine Anhänger als auch ein Teil der Berichterstatter Phantasien, Hoffnungen und Ängste projizieren."

Gareth Joswig und Sebastian Erb begeben sich für die taz nach Thüringen, wo die "Reichsbürger" ihren größten Rückhalt haben. Die begegnen dem Dachdecker Frank Haußner, der "Prinz Reuß" nach wie vor als seinen Führer betrachtet. Was die beiden Reporter hier bestätigen können: Mit der AfD sind die "Reichsbürger" bestens vernetzt: "Die Connections finden sich nicht nur in Landes- und Kommunalpolitik, sondern reichen bis zum mächtigsten Mann in der AfD: Björn Höcke. Am 3. Oktober dieses Jahres in Gera etwa hielt der Rechtsextremist und Landeschef auf der von Haußner organisierten Bühne von 'Freies Thüringen' eine Grundsatzrede vor rund 8.000 Menschen, in der er für einen Schulterschluss mit Russland warb und rief: 'Wir sind die ersten von morgen' - eine Losung, die auch auf einer Todesanzeige für den Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß stand."

Simon Hehli und Andri Rostetter unterhalten sich für die NZZ mit Simon Sasek, Sohn des Sektengründers Ivo Sasek, dessen "Organische Christus-Generation" sie als eine der gefährlichsten Sekten Europas bezeichnen. Auch diese Sekte, die ein eigenes Medienhaus unterhält, pflegt Beziehungen zur AfD: "Auf Kla.tv treten regelmäßig Exponenten der rechtsesoterischen Szene Deutschlands auf. Unter ihnen etwa der Youtuber Jo Conrad, der die These vertritt, der Terroranschlag auf die Synagoge in Halle von 2019 sei ein Fake-Angriff des israelischen Geheimdienstes gewesen. Eine weitere bekannte Figur im Sasek-Kabinett ist der Autor Thorsten Schulte, der das rechtsextreme Verschwörungsnarrativ vom 'großen Austausch' vertritt, wonach Nichtweiße und Muslime die weiße Mehrheitsbevölkerung ersetzen sollen. Schulte gehörte im November 2021 zu der Gruppe, die mithilfe von AfD-Abgeordneten in den Deutschen Bundestag eingeschleust wurde und Abgeordnete bedrängt hat."
Archiv: Europa

Medien

Die Fußball-WM geht zu Ende. Katar hat außerdem durch eine Korruptionsaffäre in der EU von sich reden gemacht (aber das ist natürlich vor allem eine Affäre der EU). Und SZ-Redakteurin Dunja Ramadan bleibt dabei: Die Kritik an Katar in den Medien war überzogen. Ihr Kronzeuge ist der Kulturwissenschaftler Kai Hafez: "Beim Thema Homosexualität ist Hafez ebenfalls ein eurozentrischer Blick aufgefallen. 'Natürlich gibt es eine Homosexuellen-Szene in der arabischen Welt. Sie findet zwar nicht im öffentlichen Raum statt, aber in Amman gibt es Travestieboutiquen und in und um Damaskus Bars, in den sich Homosexuelle treffen.' Stattdessen bekam man den Eindruck, dass Homosexuelle in Doha automatisch um ihr Leben fürchten müssen." Und Hafez geht noch weiter. Es wäre leicht, auch Deutschland "als Land von Rassisten und Europa als Heimat einer illegalen Schattenwirtschaft mit schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen für Migranten erscheinen zu lassen".
Archiv: Medien

Gesellschaft

In Montreal tagt gerade eine Weltnaturschutzkonferenz, über die Petra Ahne für die FAZ berichtet. Repräsentanten indigener Völker komme hier eine besondere Rolle zu, erzählt sie: "Die Mitglieder indigener Völker betonen, dass sie, deren Lebensweise eng mit dem sie umgebenden Land verflochten ist, über Jahrtausende einen genau gegenteiligen, nachhaltigen Umgang mit der Natur praktiziert haben. Sie nennen sich ihre Bewahrer und Wächter, und zumindest nach außen wird diese Rolle auf der COP 15 anerkannt und geradezu zelebriert." Die Maoris in Neuseeland wären so ein Beispiel: Als sie ein paar hundert Jahren vor den Europäern auf den Inseln landeten, aßen sie erst mal den großen und gar nicht scheuen Vogel Moa auf, mehr hier.

Mit Erstaunen stellt Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich in einem großen Gastkommentar für die NZZ fest, dass es in Kassel nicht allein der Kunst und in Katar nicht allein dem Sport galt. "Die heftigsten Streits in diesem Jahr resultierten daraus, dass Antisemitismus nicht auf der ganzen Welt gleichermaßen geächtet ist, (ja dass nicht einmal Einigkeit darüber besteht, wo er anfängt), sowie daraus, dass Fragen sexueller Orientierung von Religion zu Religion, von Weltanschauung zu Weltanschauung höchst unterschiedlich behandelt werden. Die Erkenntnis, die sich aus der Documenta und der WM in diesem Jahr ziehen lässt, besteht also darin, dass derartige Großereignisse immer schwerer kalkulierbar werden und vielleicht gar nicht mehr zu kontrollieren sind, sobald sie zur Bühne potenziell sämtlicher politischer Diskurse werden."

Vor zehn Jahren tobte ganz kurz die "Beschneidungsdebatte" über die Frage, ob es wirklich legitim ist, Kindern vor ihrer Religionsmündigkeit die empfindlichsten Partien ihrer Geschlechtsorgane abzuschneiden. Der Bundestag verabschiedete, um Frieden mit den Religionen zu wahren, eilends ein Gesetz mit der Antwort: Ja. Eva Matthes kommentiert bei hpd.de: "Die geschaffene Realität ist seither eine, in der Eltern nach Lust und Laune das Genital ihres männlichen Kindes von medizinischem Fachpersonal operativ gestalten lassen können; wenn es noch jünger als sechs Monate ist, können sogar von Religionsgesellschaften dazu vorgesehene Personen dies tun, wenn sie dafür besonders ausgebildet sind. Das Gesetz lässt offen, wo die Grenze bezüglich der Eingriffstiefe gezogen wird. Da es juristisch auch keine Definition einer Religionsgesellschaft gibt und auch nirgendwo festgehalten ist, was die Ausbildung einer von dieser undefinierbaren Größe vorgesehenen Person zu beinhalten hat, ist hier so ziemlich alles ziemlich schwammig."
Archiv: Gesellschaft

Politik

Was den Demokratien und besonders dem "Wandel-durch-Handel"-gläubigen Deutschland gerade auf die Füße fällt, ist die Idee, dass eine an Menschenrechten orientierte Politik blauäugig sei. Das Gegenteil ist der Fall, schreibt Ronya Othmann mit Blick auf den Iran in ihrer FAS-Kolumne: "Die Islamische Republik hat ihre Untaten nicht nur auf Iran begrenzt, sondern sie hat in der gesamten Region destabilisierte Länder immer weiter destabilisiert, den Libanon etwa, Syrien, Irak und Jemen. Das Regime hat Terrorgruppen hochgerüstet und ausgebildet und die Vernichtung Israels zur Staatsdoktrin erhoben. Es besitzt Kurz- und Mittelstreckenraketen, die bis zu 2000 Kilometer weit fliegen können."

Mehr dazu: In der taz fordert Bahman Nirumand, den religiösen Führer des Irans, Ali Khamenei in die EU-List der Terroristen aufzunehmen: "Er ist doch für all die Verbrechen der Hauptverantwortliche. Es ist auch nicht nachvollziehbar warum die EU die Revolutionsgarden nicht als terroristische Organisation einstuft."

Muss man es noch mal betonen? Deutschland ist mit seiner Politik der Äquidistanz zu Russland, China und den USA bisher wirtschaftlich gut gefahren. Sollte es zu Ärger mit China kommen, wäre der Schaden aber noch wesentlich größer als bei Russland, schreibt der Ökonom Jens Südekum in der taz: "Das deutsche Handelsvolumen mit China beträgt rund 250 Milliarden Euro pro Jahr, mehr als viermal so viel wie mit Russland. Und die Abhängigkeiten sind weitaus vielfältiger. Bei Russland ging es 'nur' um Energieimporte, die ersetzt werden mussten. Als Absatzmarkt ist Russland hingegen praktisch irrelevant. Ganz anders China. Namhafte deutsche DAX-Unternehmen, allen voran die Autobauer, erwirtschaften dort mehr als ein Drittel ihres gesamten Konzernumsatzes. Fiele das plötzlich weg, müssten sie ums Überleben kämpfen, denn kein anderer Markt könnte solche Volumina auf die Schnelle absorbieren."
Archiv: Politik

Kulturpolitik

Die Reform der Stiftung Preußischer Kulturbesitz war ein "Befreiungsschlag", sagt Klaus Biesenbach, Direktor der Neuen Nationalgalerie in Berlin, im FR-Gespräch mit Ingeborg Ruthe. Nun träumt er von weniger Bürokratie und einer "modernen Museumsinsel" am Potsdamer Platz: "Als Direktor der Neuen Nationalgalerie und des daneben entstehenden künftigen Museums der Moderne am Kulturforum möchte ich viel intensiver mit den benachbarten Staatlichen Museen, der Philharmonie, der Staatsbibliothek und der engagierten Kunstkirche St. Matthäus arbeiten. Es geht um die schon lange bestehende Vision eines gemeinsamen Standortes, aus der viel kritisierten Beton-und-Stein-Ödnis Kulturforum einen gefragten Stadtplatz in Gestalt eines grünen Museumsgartens zu machen."
Archiv: Kulturpolitik