9punkt - Die Debattenrundschau

Etwas weniger auf den eigenen Nabel gucken

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.12.2022. Wladimir Putin hat Russland und der russischen Kultur mehr Schaden zugefügt, als Amerika es je könnte, schreibt Timothy Garton Ash im Guardian.  Die Journalistin und Friedensnobelpreisträgerin Maria Ressa erklärt in Zeit online, warum sie nicht mehr an die sozialen Medien glaubt. Unterdessen bangt die taz um Twitter, das von Elon Musk mutwillig zerstört wird - Business Insider erklärt, wie. Die Feuilletons trauern um die große Reporterin Marie-Luise Scherer.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.12.2022 finden Sie hier

Europa

Wladimir Putin hat Russland und der russischen Kultur mehr Schaden zugefügt, als jeder Amerikaner, erklärt im Guardian Timothy Garton Ash. Das gilt auch "in großen Teilen des ehemaligen russischen (und später sowjetischen) Imperiums, das Moskau seit Anfang der 2000er Jahre als russkiy mir, als russische Welt, neu zu gestalten versucht. In Georgien ist eine starke Abneigung gegen das neoimperiale Russland mehr als verständlich, da Russland seit 2008 etwa ein Fünftel des souveränen Territoriums des Landes (in Abchasien und Südossetien) besetzt hat. Aber nach dem Einmarsch in die Ukraine hat sich diese Feindseligkeit auf fast alle Russen ausgeweitet. Ironischerweise betrifft dies die vielen Zehntausend Russen, die nach Georgien geflohen sind, um nicht zum Kampf in Putins Krieg gegen die Ukraine eingezogen zu werden. Die Georgier fragen: Warum protestiert ihr nicht zu Hause? Die Abscheu ist auch in den zentralasiatischen Staaten zu spüren, die immer noch sehr enge Beziehungen zu Moskau unterhalten. Auf YouTube kann man eine großartige Schmähung des schikanösen russischen Botschafters in Kasachstan, Alexey Borodavkin, sehen, die der kasachische Journalist Arman Shuraev in fließendem Russisch vorträgt. 'Russophobie ist alles, was Sie mit Ihren dummen Aktionen erreicht haben', sagt er. Wenn Russland in Kasachstan einmarschiert wie in der Ukraine, 'wird die gesamte kasachische Steppe mit den Leichen eurer Wehrpflichtigen übersät sein ... Ihr seid Idioten. Ihr seid Kannibalen, die sich selbst essen.'"
Archiv: Europa

Medien

Die große Reporterin Marie-Luise Scherer ist gestorben. In der FAZ erinnert sich Katharina Teutsch an sie: "Fotografen sprechen von einem farblichen Mittelwert. Scherer hatte keinen. Sie war immer nur radikal. Radikal war auch ihr Blick, der nichts und niemanden schonte. Etwa in einer Reportage über eine in Kreuzberg verschollene junge Westdeutsche. Bei aller Sympathie für die Hausbesetzerszene erkennt Scherer Mitte der Achtzigerjahre den fundamentalen Widerspruch im System: 'Dem unfehlbaren Nichtnormalen ist jeder faschistisch, der Anzeichen von Versöhnung mit dem 'Schweinesystem' zeigt.'" Spon hat einige ihrer Reportagen freigeschaltet., darunter auch "Der unheimliche Ort Berlin", über die Teutsch spricht. Auf der Medienseite der SZ schreibt Willi Winkler. Einen Nachruf auf die Kollegin scheint man beim Spiegel nicht vorbereitet zu haben, immerhin verweist das Blatt auf einige ihrer Reportagen, die sich noch im Archiv finden, darunter ihre wohl bekannteste, "Die Hundegrenze".

Die philippinische Journalistin und Friedensnobelpreisträgerin Maria Ressa glaubte lange an den Nutzen der sozialen Medien, gründete sogar selbst welche. Heute ist sie "überzeugt, dass soziale Medien zu einem Instrument geworden sind, mit dem illiberale Politiker Wahlen manipulieren und ihre Länder in Autokratien verwandeln können", wie sie in ihrem neuen Buch schreibt und im Interview mit Zeit online erklärt. "Für investigativen Journalismus bedeutet das: Unsere Arbeit wird in sozialen Netzwerken allzu leicht unter einem Berg von Lügen begraben. So werden wir unserer Bedeutung beraubt. ... Wir brauchen einen Entzug. Deshalb fordere ich gemeinsam mit Dmitri Muratow, dem Chefredakteur der russischen Zeitung Nowaja Gaseta, mit dem ich vor einem Jahr den Nobelpreis bekommen habe: Reguliert die Algorithmen. Stoppt die Voreingenommenheit in digitalen Programmen. Und stärkt Journalismus als Gegenmittel der Tyrannei. Denn wir Journalisten, wir sind keine Inhaltsschleudern, wir sind keine Influencer, es geht nicht um Popularität. Wir ziehen die Mächtigen zur Rechenschaft.

Wenn die Trennung zwischen bösen sozialen Medien und gutem Journalismus nur so einfach wäre: Silvio Berlusconi steht offenbar kurz davor, mit seinem Medienimperium die deutsche Sendergruppe ProSiebenSat.1 zu übernehmen, meldet unter anderem die FAZ.
Archiv: Medien

Ideen

Die Globalisierung durchläuft gerade "einen tiefen Wandlungsprozess", meint im Interview mit Zeit online die australische Völkerrechtlerin Anthea Roberts, die zusammen mit Nicolas Lamp ein Buch zum Thema geschrieben hat. In Asien werde Globalisierung immer noch unterstützt, im Westen hingegen zunehmend negativ wahrgenommen. Roberts hofft auf "mehr Zusammenarbeit zwischen strategischen Partnern", doch dazu müsste der Westen etwas weniger auf den eigenen Nabel gucken: "Man sollte seinen Medienkonsum diversifizieren, nicht nur links oder rechts innerhalb eines Landes, sondern versuchen, auch Medien anderer Länder mitzuverfolgen. Mir ist klar, dass das nicht realistisch ist; die meisten Menschen werden das nicht tun. Etwas anderes, das mir im Moment wirklich Sorgen macht, ist, dass unser heutiges, auf Spezialisierung eingeschossenes Bildungssystem gut darin ist, Denksilos zu bilden. Denken Sie an die Art und Weise, wie wir Politikwissenschaft, Wirtschaft und Soziologie studieren und dann einen Doktortitel erwerben, in Fachzeitschriften Artikel veröffentlichen und uns auf Fachkonferenzen nur unter Unseresgleichen treffen. Wenn man die komplexen Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, wirklich angehen will, muss man über die Grenzen der Disziplinen hinweg zusammenarbeiten."

Jürgen Kaube würdigt in der FAZ den Philosophen Dieter Henrich, der im Alter von 95 Jahren gestorben ist. Er habe die "Voraussetzungen der idealistischen Gedankenblüte" untersucht: "In Dutzenden von ideenarchäologischen Studien zeichnete er den intellektuellen Raum nach, in dem sich Fichte, Hölderlin und Hegel bewegten. Das geschah erstmals 1971 in 'Hegel im Kontext', einer Sammlung von Aufsätzen, die zeigten, wie und aufgrund welcher Lektüren die Leitbegriffe des Philosophen - Liebe, Vernunft, Geist - auseinander hervorgingen." In der SZ schreibt Thomas Steinfeld den Nachruf.
Archiv: Ideen

Gesellschaft

Trocken, aber nützlich lesen sich die Erwägungen des Rechtsprofessors Hans Michael Heinig zum Begriff des "zivilen Ungehorsams" auf der "Gegenwart"-Seite der FAZ. Er wird im Kontext der Aktionen der "Letzten Generation" wieder diskutiert. Das Paradoxe ist, dass der zivile Ungehorsam einen bewussten Rechtsbruch beinhaltet und dass der Rechtsstaat damit umgehen muss. In gewissen Fällen werde dann keine Straftat vorliegen: "Wenn die Blockade vorher angekündigt wurde, sie auf eine überschaubare Zeit beschränkt ist und im Notfall ein Durchkommen möglich bleibt. Tendenziell gegen eine Verwerflichkeit spricht, dass zwischen Protestgegenstand (Klima- und Verkehrspolitik) und Protestform (Straßenblockade) ein enger Sachzusammenhang besteht (der bei den Museumsaktionen übrigens fehlt). Bei der Entscheidung über die Verwerflichkeit wird man zudem berücksichtigen, dass das politische Ziel des Protests sich in Artikel 20a als verfassungsrechtliches Rechtsgut abbildet."

Archiv: Gesellschaft

Internet

Es wurde so viel auf die sozialen Netze geschimpft, dass kaum mehr wahrgenommen wurde, welche Rolle sie für die Öffentlichkeit spielen. Dies ist ist die Perspektive, aus der Elon Musk kritisiert werden muss, schreibt Tanja Tricarico  in der taz: Fakt sei, "dass viele, die Twitter als Informationsplattform nutzen, keine andere Wahl haben, als zu bleiben. Alternativen wie Mastodon haben zu wenig Reichweite. Nicht nur aktuell, sondern auch auf längere Sicht hin. Den Aktivist:innen im Iran, den Ortskräften in Afghanistan oder kurdischen Protestierenden läuft die Zeit davon, ihre Kontakte auf anderen Plattformen aufzubauen. Hinzu kommt, dass ihre Adressat:innen - darunter auch Ministerien, Nichtregierungsorganisationen, andere Aktivist:innen -, weltweit nicht zwingend auf der selben Plattform unterwegs sein würden."

Musk kann Twitter im Grunde nur zugrunderichten, schreibt Linette Lopez in einem lesenwerten kleinen Essay im Business Insider. Musks Prinzip bei seinen anderen Unternehmen war stets, in eine Lücke zu stoßen, wo noch keiner war, weltveränderde Versprechen zu machen und Geld von Fanboy-Milliardären und Staaten einzuwerben. "Twitter ist das Gegenteil einer 'Elon-Musk-Firma'. Es ist ein einflussreicher aber kleiner Player in einem Feld, das von gigantischen und gut mit Geld ausgestatteten Wettbewerbern dominiert wird. Regierungen weisen Twitter eher in Schranken, als es mit Staatsaufträgen zu versorgen. Und Twitter-Angestellte haben Optionen: Sie können den Laden verlassen und für Firmen arbeiten, die sie besser behandeln, als Musk es je tun würde."

Musk fährt inzwischen mit seinem Chaostreiben fort: Er sperrt die Konten von Journalisten und lässt sie wieder zu, verbietet Links zu anderen sozialen Plattformen (mehr hier) und killt die Seite, wo er das angekündigt hat - und jetzt lässt er darüber abstimmen, ob er Twitter-Chef bleiben soll, meldet unter anderem Spiegel online. Im Moment hat er 56 Prozent gegen sich.

Und er droht dann auch gleich mit dem Ende von Twitter:

Archiv: Internet

Politik

Die in Wien lebende Journalistin Solmaz Khorsand schreibt in der taz über die Todesurteile im Iran, von denen zwei schon vollstreckt wurden, und sie nennt die Namen vieler anderer zum Tode Verurteilter: "Ihre Namen zu nennen ist essenziell, jede Öffentlichkeit kann sie schützen. Daher ist die Initiative europäischer Politiker, die Patenschaften für die Betroffenen übernehmen, mehr als nur eine schöne Geste der Solidarität. Die Patenschaften erzeugen Aufmerksamkeit und Druck auf Irans Machthaber, das Regime, das trotz seines Paria-Status immer noch nach internationaler Anerkennung lechzt. Deswegen haben auch Irans Rausschmiss aus der UN-Frauenrechtskommission sowie der UN-Beschluss, eine Kommission zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen im Land einzusetzen, historische Bedeutung. Noch nie in 43 Jahren wurde die Islamische Republik auf diese Art in puncto Menschenrechte verurteilt."
Archiv: Politik