9punkt - Die Debattenrundschau

Das Wort "Frau"

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.12.2022. Sollte Deutschland anerkennen, dass Polen recht hatte und sich von der deutsch-französischen Achse abwenden, fragen AutorInnen in der Welt und New Eastern Europe.  In der FR erklärt Meron Mendel, warum es quasi unmöglich ist, Postkolonialisten und BDS-Kritiker an einen Tisch zu holen. Der niederländische Premier Mark Rutte hat für sein Land wegen der jahrhundertelangen Praxis der Sklaverei um Entschuldigung gebeten, die FAZ berichtet. Das Volk hat gegen Elon Musk gestimmt, aber bisher ist er noch nicht als Twitter-Chef abgetreten, notiert die New York Times.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.12.2022 finden Sie hier

Europa

In der Welt überlegen Peter Oliver Loew, Direktor des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt, und Waldemar Czachur, Germanist an der Universität Warschau, wie Deutschland und Polen aus ihrer Vertrauenskrise kommen. Dazu müsste sich beide jedoch ernsthaft mit ihren Grundproblemen auseinandersetzen: Deutschland müsste seine gescheiterte Russlandpolitik aufarbeiten und Polen in seinem Land den Rechtsstaat wiederherstellen. "Zukunftskonzepte sowohl für eine neu gedachte europäische Sicherheitsarchitektur als auch für eine Stärkung rechtsstaatlicher Prinzipien in Europa können jeweils bilateral oder auch in Zusammenarbeit mit weiteren Staaten entstehen. Damit könnte Europa nicht nur zukunftsfest gemacht werden, sondern sich auch auf eine Aufnahme der Ukraine in die Europäische Union vorbereiten, die zwangsläufig zu einer weiteren Schwerpunktverlagerung in Europa nach Osten und damit zu einer steigenden Bedeutung der Achse Berlin-Warschau führen wird. Um die Bedenken von Paris und anderen Ländern des Westens vor einer solchen Veränderung zu zerstreuen, wäre ein abgestimmtes Auftreten Deutschlands und Polens umso wichtiger.""

In einem Kommentar für das polnische Magazin Tygodnik Powszechny, den New Eastern Europe ins Englische übersetzt hat, fordert - allerdings ganz anders im Ton - auch Anna Kwiatkowska, Leiterin der Abteilung für Deutschland und Nordeuropa am Centre for Eastern Studies in Warschau, eine neue Achse Berlin - Warschau. Berlin - Paris habe abgedankt, und die Deutschen hätten mit ihrer verfehlten Russlandpolitik jede Glaubwürdigkeit verloren. Gewiss, Polen habe auch ein paar Probleme, aber die findet Kwiatkowska "weniger schwerwiegend". Die Deutschen hingegen müssten eine neue Identität finden: "Wäre es nicht ein regelrechter metaphysischer Schock für deutsche Politiker, anzuerkennen, dass der deutsch-französische Motor an Schwung (oder gar an Funktionsfähigkeit) verloren hat und dass die mittel- und osteuropäischen Staaten in vielerlei Hinsicht eine vernünftigere Politik betreiben? Es wäre auch schwer zuzugeben, dass die polnische Politik gegenüber Russland und dem postsowjetischen Raum zwar nicht frei von Fehlern, aber grundsätzlich richtig war und eine parteiübergreifende und strategische Dimension hatte, die nicht nur auf Erfahrung, sondern auch auf ständig wachsendem Fachwissen beruhte. Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass unser Verständnis von den USA als Pfeiler der europäischen Sicherheit vernünftiger war als die deutsche Haltung in dieser Frage. Es hat sich auch gezeigt, dass Polens Migrationspolitik nicht emotional ist (in der deutschen politischen Kultur gilt 'emotional sein' als Beleidigung) und nicht auf Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit beruht, sondern auf rationalen Annahmen, die finanzielle, sicherheitspolitische und - vor allem - soziale Aspekte berücksichtigen. Warschau hat vorgelebt, dass Patriotismus eine Tugend ist, eine der wertvollsten Tugenden, und nichts mit Nationalismus zu tun hat."

Vor sechs Jahren verübte Anis Amri seinen Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz. Er brachte 13 Menschen um, viele wurden zum Teil schwer verletzt. Die Behörden konnten den Anschlag nicht verhindern, sind schlurig mit den Opfern umgegangen und haben die Ermittlungen bis heute nicht abgeschlossen, resümiert Konrad Litschko in der taz: "So stand Amri beim Anschlag via Telegram in Kontakt mit einem libyschen IS-Mentor mit dem Alias 'Moumou1'. Auch bewegte er sich zuvor im Netzwerk des Hildesheimer Predigers Abu Walaa, der als IS-Statthalter in Deutschland galt. In Berlin war er Vorbeter in der inzwischen verbotenen Fussilet-Moschee. Zudem fanden sich DNA-Spuren im Tat-Lkw, die bis heute nicht zuzuordnen sind. Auch ist unklar, wie Amri an seine Tatwaffe kam, mit der er den Lkw-Fahrer erschoss."

"Das größte Debakel ihrer Kanzlerschaft ist für Angela Merkel nach deren Ende eingetreten", schreibt Markus Wehner in der FAZ in einer kleinen Aufarbeitung von Merkels Verhältnis zu Russland. Als Politikerin, die die Dinge legendärer Weise "vom Ende her" denkt, sei ihr ihre Russlandpolitik auf die Füße gefallen. Aber er schildert auch den Kontext, in dem sie agierte. Sie war es, die sich nach 2014 für Sanktionen gegen Russland starkmachte, gegen starke Widerstände: "Auch in Deutschland schlug ihr breiter Widerstand gegen die Sanktionen entgegen, angeführt von SPD-Politikern wie Schröder, Gabriel, den Ministerpräsidenten Stephan Weil, Manuela Schwesig und Dietmar Woidke und flankiert vom Ostausschuss der deutschen Wirtschaft. Dass Merkel eisern an ihnen festhielt, das war ein Einschnitt in der Politik gegenüber Moskau. Die Kanzlerin überraschte Putin damit. Dass die Sanktionen nicht weit genug gingen und vielfältig umgangen wurden, stimmt allerdings ebenso."
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Medien

Die öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland gehörten zu den wichtigsten Finanziers der Fußball-Weltmeisterschaft. Aber die Quoten haben die Hoffnungen nicht erfüllt, berichtet Michael Hanfeld in der FAZ: "Bei der WM 2018 in Russland hatte es 20 Übertragungen mit mehr als zehn Millionen TV-Zuschauern gegeben. Beim Turnier in Qatar waren es vier. Das Finale vor vier Jahren zwischen Frankreich und Kroatien (4:2) hatten 21,45 Millionen Menschen im ZDF geschaut, während es am Sonntag bei Argentiniens 4:2-Sieg im Elfmeterschießen gegen Frankreich nur 13,86 Millionen waren. ARD und ZDF erlebten einen Einbruch von rund 40 Prozent bei der Reichweite." Das stärkste Ergebnis eines Spiels von Nationalmannschaften erzielte übrigens der Finale der Europameisterschaft der Frauen, so Hanfeld.
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Ideen

Einen Ort zu schaffen, an dem Postkolonialisten und BDS-Gegner diskutieren können, ohne sich an die Gurgel zu gehen, das wollten wohl Meron Mendel und Sina Arnold mit ihrem Buch "Frenemies", das sie zusammen mit Saba-Nur Cheema herausgegeben haben. Es hat ums Haar nicht geklappt. Texte wurde abgelehnt, Autoren zogen sich zurück, aber jetzt ist das Buch doch erschienen, wenn auch weniger vielfältig als gewünscht. "Ich denke, dass es in diesen Konflikten den Beteiligten nicht darum geht, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, sondern generell die Deutungsmacht zu gewinnen", meint Mendel im Interview mit der FR. "Selten erlebe ich, dass Argumente und Gegenargumente ausgetauscht werden. Vielmehr geht es darum, Forderungen durchzusetzen, wer eingeladen, ausgeladen oder zurücktreten soll, wer sprechen darf und wer ausgeschlossen wird. Dahinter steckt die Logik, dass der Andere nicht nur falsch liegt, sondern dass hinter seiner Position eine böse Absicht steckt. Der andere ist nicht nur Gegner, sondern gleich der Feind. Ein Ausweg ist nur möglich, wenn sich Beteiligte die Frage nach eigenen blinden Flecken stellen. Es ist natürlich bequem, sich innerhalb eigener Blase zu bewegen, damit ist man dann ja auch immer - gefühlsmäßig - auf der richtigen Seite. Aber es ist auch brandgefährlich."
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Geschichte

Der niederländische Premier Mark Rutte hat für sein Land in einer kurzen, aber bedeutsamen Ansprache um Entschuldigung für die jahrhundertelange Praxis der Sklaverei gebeten. Thomas Gutschker berichtet für die FAZ: 600.000 Menschen seien zwischen 1600 und 1814 als Handelsware verschifft worden. "Die staatliche Westindienkompanie transportierte Waren aus Europa nach Westafrika und tauschte sie dort gegen Arbeitskräfte ein. Die wiederum brachte sie als Sklaven nach Südamerika und in die Karibik, wo sie auf den Plantagen der Kolonialherren arbeiten mussten. Mit Kaffee, Baumwolle und Zucker beladen, fuhren die Schiffe wieder zurück nach Europa - ein sehr einträgliches Geschäft, das die Niederlande reich machte und auch von anderen Staaten praktiziert wurde. Jeder fünfte Sklave war noch minderjährig, mehr als jeder zehnte kam schon während der Überfahrt ums Leben." Hier ein Link zum Text und zum Video von Ruttes Rede mit englischen Untertiteln.
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Stichwörter: Sklaverei, Niederlande, Westafrika

Politik

Die Kurden sind bei den Protesten im Iran besonders aktiv, aber auch die Repression ist dort am schlimmsten, schreibt Kourosh Ardestani in der taz. Das Regime behandelt protestierende Kurden als Separatisten, dabei wollen die Kurden eher weitgehende Autonomie innerhalb eines föderalen Irans, so Ardestani: "Die Absage an den Separatismus hat neben dem nationalen Selbstverständnis als 'kurdische Iraner' auch ganz praktische Gründe. Die kurdischen Gebiete sind vergleichsweise arm an Rohstoffen, ein entwickeltes und prosperierendes Kurdistan ist ohne den restlichen Iran nicht möglich. Was es bedeutet, sich ohne Ressourcen selbst verwalten zu müssen, erfuhren die iranischen Kurden 1945, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Unter dem Schutz der UdSSR war es den Kurden damals gelungen, eine eigenständige Republik zu errichten, die Republik von Mahabad. Doch die Isolierung hatte Engpässe in vielen Bereichen zur Folge, von militärischem Equipment bis zu Lebensmitteln. 1946, nur ein Jahr nach der Unabhängigkeitserklärung, wurde Mahabad durch iranische Truppen zurückerobert."
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Gesellschaft

Die biologische Definition von "Frau" wird jetzt auch nach dem Cambridge-Wörterbuch - das Oxford English Dictionary und der Merriam-Webster Dictionary waren schon vorausgegangen - aufgelöst durch einen Zusatz, wonach "eine erwachsene Frau, die als Frau lebt und sich als solche identifiziert, obwohl von ihr gesagt werden kann, dass sie bei Geburt ein anderes Geschlecht hatte" auch Frau sein könne, erzählt Birgit Schmid in der NZZ. "Das Wort 'Frau' oder eben 'woman' ist so aufgeladen, dass es die Website Dictionary.com zum Wort des Jahres 2022 wählte. Damit würdigt sie auch die Debatte um die Frage, wer sich als Frau definieren darf. Die Antwort kann man nun im 'Cambridge Dictionary' nachschlagen. So erhält man gleich noch eine Ahnung, wie sich eine ideologische Strömung allmählich in Definitionen festsetzt. Wörterbücher legen fest, wie Begriffe zu lesen sind, was ihr Sinn ist. Damit gestalten sie auch die Wirklichkeit. Und verändern sie mit."

Die New York Times legt eine Statistik zu Todesursachen von amerikanischen Kindern bis zu 18 Jahren vor. Erstmals steht Tod durch Schusswaffen prozentual vor Verkehrsunfällen:

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Internet

Elon Musk hat bekanntlich (unser Resümee) über sein weiteres Schicksal bei Twitter abstimmen lassen. Seitdem herrscht Funkstille, notiert Eshe Nelson in der New York Times: "Mehr als 17 Millionen Stimmen wurden abgegeben und ergaben ein klares Urteil: 57,5 Prozent sprachen sich in der Twitter-'Umfrage', die am Montag nach 12 Stunden geschlossen wurde, für seinen Rücktritt aus. Musk hatte erklärt, er werde sich an das Ergebnis der Abstimmung halten. Doch auch Stunden nach Abschluss der Abstimmung gab es keine Bestätigung von Musk auf Twitter."
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Stichwörter: Musk, Elon