9punkt - Die Debattenrundschau

Sozusagen die kirchliche Speerspitze

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.12.2022. Es weihnachtet ziemlich, und es dominieren quasi religiöse Debatten. Aleida Assmann versucht in der FR, den antipostkolonialen Historiker Egon Flaig mit dem Höcke-Nolte-Stoß ins definitive Aus zu katapultieren. Der Ökonom Otmar Issing fragt in der FAZ, warum Intellektuelle eigentlich immer schon gegen den Kapitalismus sind und macht als Ursprung das Christentum aus. Die amerikanische Kusnthistorikerin Christiane Gruber erzählt im Newlinesmag, dass eine Kollegin an der Hamline University gefeuert wurde, weil sie islamische Kunst gezeigt hat. Und der Politikwissenschaftler Ali Fathollah-Nejad fragt in der FR, warum ein Teil der Linken die säkulare Freiheitsbewegung im Iran lieber nicht unterstützt .
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.12.2022 finden Sie hier

Geschichte

In der FR resümiert die Historikerin Aleida Assmann sehr ausführlich die beiden FAZ-Artikel von Egon Flaig zur postkolonialen Debatte (Unsere Resümees), um dem Kollegen schließlich den Todesstoß des Rechtsextremismusvorwurfs zu versetzen: Flaig stehe für ein Ideal einer "von Wert- und Identitätsfragen gereinigten Form der Geschichtswissenschaft" - wie sein Vorbild, schreibt sie: "Das ist Ernst Nolte, der Jürgen Habermas im ersten Historikerstreit unterlag. Flaig kehrt diese Situation jetzt um: Er rehabilitiert Ernst Nolte als einen Helden, der die Gedächtnispolitik von Jürgen Habermas unerschrocken in die Schranken wies, indem er für eine unparteiische Form der Geschichtsschreibung eintrat. Flaigs Angriff auf die deutsche Erinnerungskultur ist wesentlich subtiler als der von Björn Höcke, der das Berliner Mahnmal ein 'Denkmal der Schande' nannte, aber er hat dasselbe Ziel: Er spricht dieser Erinnerung jegliche Berechtigung ab. Flaig negiert damit ein normatives Fundament, das im ersten Historikerstreit gelegt wurde und in die demokratischen Strukturen der Gesellschaft eingegangen ist. Und er tut dies im Kontext der kolonialen Debatte des zweiten Historikerstreits, in dem er gegen die 'universitär legitimierten Unwahrheiten' der Tochter Rebekka Habermas zu Felde zieht."
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Religion

Die Miniatur "Mohammed erhhält Offenbarung durch den Erzengel Gabriel" stammt aus einer frühen Geschichte des Islams des persischen Autors Rashid al-Din aus dem 14. Jahrhundert. Quelle: Wikimedia Commons. 

Viel retweetet wurde ein in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerter Newlinesmag-Artikel Christiane Grubers, einer amerikanischen Professorin für islamische Kunstgeschichte, die für eine Kollegin an der Hamline University in Minnesota eintritt. Die Kollegin hatte in einem Seminar über islamische Kunst das obige Bild gezeigt, das den Propheten Mohammed im Moment der Offenbarung durch den Erzengel Gabriel zeigt - ein weithin bekanntes, oft gezeigtes Motiv, so Gruber. Studenten der Universität kritisierten das Zeigen des Bilds als einen islamophoben Akt, woraufhin der Präsident und Gleichstellungsbeauftragte der Uni dekretierte, dass "Respekt vor den strenggläubigen muslimischen Schülern in diesem Seminarraum vor der akademischen Freiheit hätte Vorrang haben müssen". Die Dozentin wurde daraufhin entlassen. Bemerkenswert an Grubers Artikel ist, dass sie das Bild dann zwar analysiert, aber dass es im Artikel nicht gezeigt wird. Auch der Name der geschassten Dozentin wird nicht genannt. Zu dem Bild schreibt Gruber: "Es ist in der Geschichte der islamischen Kunst keineswegs einzigartig. Im Gegenteil, es gehört zu einem Korpus von Darstellungen, die vor allem in Persien, der Türkei und Indien zwischen dem 14. und 20. Jahrhundert immer wieder produziert wurden. Neben anderen illustrierten Manuskripten und Gemälden haben Poster und Postkarten diese besondere ikonografische Tradition durch technologische Innovationen bis in die Neuzeit verlängert."

Ausgelöst wurde der Streit durch einen Artikel in der Studentenzeitschrift der Uni, The Oracle, hier eine Zusammenfassung des Streits aus dieser Zeitschrift.
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Stichwörter: Bildverbot

Europa

Serbien wird durch den Ukraine-Krieg zutiefst verändert, erzählt Michael Martens in der FAZ. Schon nach dem 24. Februar seien Zehntausende Russen nach Belgrad gekommen, nach der Teilmobilisierung folgte eine zweite Welle. Fast alle sind aus politischen oder auch nur persönlichen Erwägungen gegen Putins Krieg - aber sie treffen auf ein weithin proputinistisches Land. Da ist etwa der russische Künstler Gleb Puschew, der zusammen mit seiner Frau Anja Gladischew ein Wandbild in Belgrad anfertigte, das die ukrainische Dichterin Lesya Ukrainka feiert. Ihm begegne oft eine unreflektierte Putin-Liebe: "Gleb Puschew erwidert dann ungerührt, dass er Putin hasse. Wenn er Russlands Diktator mit derben Schimpfworten eindeckt (das russische Wort für 'Kot', das er in diesem Zusammenhang gern benutzt, ist im Serbischen das gleiche, nur anders betont), führt das oft zu Irritationen. Puschew erläutert serbischen Gesprächspartnern regelmäßig, dass man entweder Putin oder Russland lieben könne, aber nicht beides."

Moritz Baumstieger hat SZ-Kolumnistin Oxana Matiychuk im bisher von Bomben verschonten Czernowitz besucht. Aber auch dort "spüren die Bewohner die Auswirkungen des Nervenkrieges, mit dem Wladimir Putin und seine Armee die ukrainische Bevölkerung zu demoralisieren versuchen. Die russischen Raketen zerstören systematisch die Energieinfrastruktur, und was in Deutschland bislang als Dystopie ausgemalt wird, ist in Czernowitz und den anderen Städten des Landes längst Realität: Blackouts. Während auf der rumänischen Seite der nahen Grenze alle Variationen von Weihnachtsbeleuchtungen an den Häusern um die Wette blinken, ist es auf der ukrainischen Seite ab 16.30 Uhr, wenn die Dämmerung einbricht, dunkel."

Was ist nur in Deutschland los?, fragt sich der Österreicher Karl-Markus Gauß in der SZ: "Die öffentliche Infrastruktur ist nach und nach so heruntergekommen, dass man glauben könnte, Deutschland stünden nicht die Steuereinnahmen Deutschlands zur Verfügung, sondern es müsse mit denen eines Landes an der südlichen oder östlichen Peripherie der Europäischen Union haushalten. Trotzdem habe ich es mir nicht träumen lassen, dass die Kinderstationen renommierter Spitäler eines Tages zu wenig Betten haben werden, um im Falle einer winterlichen Virusinfektion alle Säuglinge und Kleinkinder, die es benötigen, auch tatsächlich aufnehmen und behandeln zu können. Das heißt, teure Betten gibt es natürlich genug, aber nicht genügend billiges Personal, das wegen notorischer Überlastung bei notorischer Unterbezahlung erschöpft aufgegeben und die Spitäler verlassen hat." Sein Weihnachtswunsch: Die Deutschen sollten sich endlich selbst mehr gönnen!
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Politik

Der Iran ist "in revolutionären Gewässern", sagt der Politikwissenschaftler Ali Fathollah-Nejad im FR-Gespräch mit Sereina Donatsch, denn die Proteste seien erstmals schichtübergreifend. Aber: "Das Schweigen der Linken wird in die Geschichte eingehen", glaubt er. "Insgesamt beobachten wir ein ohrenbetäubendes Schweigen in bestimmten Teilen der Linken und der deutschen Friedensbewegung. Diese Reserviertheit hat eine lange Vorgeschichte und liegt nicht zuletzt daran, dass innerhalb dieser Milieus eine gewisse Sympathie für antiamerikanische Regimes vorherrscht, einhergehend mit einer Obsession mit dem amerikanischen Imperialismus, während andere außer Acht gelassen werden. Dieser Antiamerikanismus beeinflusst ihre Wahrnehmung der Situationen. Es entsteht eine Verklärung von antiamerikanischen Autokratien, seien es jene in Iran, Syrien, Russland oder Venezuela. (…) Dieser antiamerikanische Dogmatismus zeigt, dass Konflikte eher anhand einer ideologischen Schablone aus dem Kalten Krieg betrachtet werden."

Die neue israelische Regierung droht die Gewaltenteilung auszuhebeln, fürchtet der in Herzlia lehrende Rechtsprofessor Adam Shinar, den Judith Poppe für die taz befragt. Besondere Sorgen macht er sich über die sogenannte "Außerkraftsetzungsklausel". "Sie würde es dem israelischen Parlament ermöglichen, das Oberste Gericht zu überstimmen, wenn dieses ein Gesetz als verfassungswidrig zurückweist. Wenn also das Oberste Gericht ein Gesetz aufhebt, weil es gegen eines der Menschenrechte verstößt, das in den Grundgesetzen verankert ist, kann die Knesset über diese Entscheidung hinweggehen und das Gesetz verabschieden. Das heißt, der Schutz der Menschenrechte wird vollständig vom Willen der Mehrheit abhängig sein. Gerade in Israel ist das problematisch, weil es hier ohnehin ein sehr schwaches System der Kontrolle und Gegenkontrolle gibt."

In der Berliner Zeitung fordert Hanno Hauenstein von der europäischen Politik eine "klare Abgrenzung" von den rechtsextremen Kräften in Israel: "Es spricht einiges dafür, das Bild Israels als alleiniger Demokratie des Nahen Ostens, das Israel vor der Weltgemeinschaft selbstbewusst für sich beansprucht, gerade jetzt kritisch zu hinterfragen."
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Ideen

Otmar Issing, ehemals Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank, sucht in den Wirtschaftsseiten der FAZ nach einer Antwort auf die Frage, warum Intellektuelle eigentlich seit eh und je (er nennt Platon als Anfang) gegen den Kapitalismus sind. Der Text bringt nicht viel Neues. Interessant ist aber, dass er den Ursprung der bis heute anhaltenden dezidierten Kapitalismuskiritik im Christentum verortet: "Die Geschichte vom Kommunismus in den Gemeinden der Urkirche dient immer wieder als Referenzpunkt für eine bessere Gesellschaft. Die Entwicklungsgeschichte des Christentums verlief zu vielschichtig, als dass man seine Position zur Wirtschaft auf einen einfachen Nenner bringen könnte. Aber man wird den beiden christlichen Kirchen keinen großen Tort antun, wenn man sie nicht gerade als Verteidiger des Kapitalismus einschätzt. (Die Schule von Salamanca oder die katholische Soziallehre bilden die große Ausnahme. Der jetzige Papst verkörpert sozusagen die kirchliche Speerspitze gegen den Kapitalismus.)"
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