9punkt - Die Debattenrundschau

Nicht in die Knie gehen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.12.2022. In der Welt beschwört Karl Schlögel die "Resilienzreserven, an die wir nicht mehr denken". In der NZZ erzählt Sergei Gerasimow , wie man im ukrainischen Winter ohne Strom überlebt. Claudia Roth will die Stiftung Preußischer Kulturbesitz umbennen, und Hermann Parzinger ist auch dafür, melden Spiegel, SZ und FAZ. In der FAZ untersucht der Religionswissenschaftler Reinhard Flogaus religiöse Motive in der Kriegspropaganda Putins und des Patriarchen Kyrill. Die SZ blickt entsetzt auf das Elend der Frauen in Afghanistan.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.12.2022 finden Sie hier

Politik

Nach dem Ausschluss der Frauen aus der Hochschulbildung und anderen Maßnahmen der Taliban blickt SZ-Autorin Antonia Rados entsetzt auf das Elend der Frauen in Afghanistan: "Sogar angesichts vieler dramatischer Krisen, die Frauen erleben, von der Ukraine bis zum Iran, behaupte ich: Die Afghanistan-Krise ist schlimmer als alle anderen. Denn wo sonst ist die Hälfte der Bevölkerung so rechtelos? Wo müssen Frauen unsichtbar wie Geister sein? Nur in Afghanistan." Schändlich findet sie aber auch, dass der Westen diese Barbarei ignoriert - auch die deutsche Außenministerin. "Worauf wartet sie noch? Soll das so gehen, bis die Taliban alle aktiven Frauen in Afghanistan hinter Gittern sperren oder vertreiben? Warum spricht sie nicht ein ernstes Wort mit den Kataris, die keine der Praktiken der Taliban ernsthaft verurteilen? Warum verteilt sie nicht unbürokratisch Visa, damit bedrohte Frauen zumindest vorübergehend in Sicherheit gebracht werden? Warum gibt es keine groß promoteten Fotos von Baerbock mit afghanischen Frauen, wo wir doch wissen, ein Bild sagt mehr als tausend Worte? Erfolgreiche Methode des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenski Meister der Bildsprache. Declare victory and leave - das ist einfach von gestern."

Die iranische Schachmeisterin Sara Khadem al Sharieh ist trotz des Sportlerinnen auferlegten Kopftuchzwangs ohne Kopftuch bei den Weltmeisterschaften in Almaty angetreten.
Tief beunruhigt blickt Yves Kugelmann, Redakteur der Schweizer jüdischen Magazine Tacheles und Aufbau in einem Gastartikel für die taz auf die neue teils rechtsextreme israelische Regierung. Auch für die Diaspora ist diese Regierung ein großes Problem, schreibt er und wünscht sich, dass sie Einfluss nimmt: "Mit Blick auf die Zionistenkongresse zeigte sich die Stärke Israels, die aus einer jahrhundertealten, ortsunabhängigen Kultur stammt und die der westliche-christliche Außenblick kaum durchdringt. Widerspruch ist integraler Teil von Israel, einem Land, das längst mündig geworden ist, mit Kritik umgehen kann und Solidarität einfordert. Die Feinde, teils auch die falschen Freunde Israels, die Ultranationalisten wollen hingegen ein israelisches Ghetto errichten, einen abgeschotteten Hochsicherheitstrakt mit geschlossenen Grenzen, teils einen Gottesstaat. Die jüdische Idee der Freiheit ist das nicht. Ghettos waren immer von außen aufgezwungen."
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Europa

Andrea Seibel hat sich für die Welt in Berlin mit dem Osteuropahistoriker Karl Schlögel getroffen. Schlögel ist immer noch fassungslos über den Einmarsch der Russen in die Ukraine, aber er gibt die Hoffnung nicht auf: "Gerade hat eine weitere Ukraine-Konferenz eine Milliarde Euro Hilfe beschlossen. Es geht neben der Waffenhilfe der Nato um Katastrophenschutz im großen Maßstab zur Bewältigung des Winters. Schlögel, der Historiker, denkt an Generatoren, an Überlebenstechniken und -erfahrungen der europäischen Städte im Zweiten Weltkrieg. Was war mit Leningrad? Das belagert war, die Heizungen eingefroren, und am Ende eine Million Tote zählte? Was war mit den zerbombten deutschen Städten? Wie haben die Menschen in den Ruinen überlebt? Kiew oder Odessa zu evakuieren gehe nicht. Stattdessen lösten sich Städte im Krieg auf, die Menschen gingen aufs Land, wo es noch familiale Bindungen gebe, Brennholz, Brunnen und Gärten. 'Es gibt Resilienzreserven, an die wir nicht mehr denken.'" Daran sollten auch wir uns erinnern, meint Schlögel: "'Man muss unbedingt gefasst sein, seine Arbeit weitermachen, nicht in die Knie gehen. Das will Putin. Er will, dass wir aufgeben. Man muss stark bleiben, und ich muss an die Vorkriegszeit der 30er-Jahre erinnern, das war eine Zeit der Resignation, der Einschüchterung, des Suizides. Diese Erfahrung, auf dem Boden der Wirklichkeit aufzuschlagen und tapfer zu bleiben, standhaft zu bleiben. Das ist es.'"

In der NZZ schickt Sergei Gerasimow ein Update seines Tagebuchs aus Charkiw, wo der Winter sich schon Ende November furchteinflößend ankündigte: "Es wird immer schwieriger, meine Notizen niederzuschreiben, denn manchmal funktionieren unsere Computer tagelang nicht. Der Stromausfall ist immer noch total. Wir haben kein Wasser, keinen Strom, keine Mobilfunkverbindung und keine Zentralheizung. In der letzten Nacht war es bitterkalt, und es war schwierig, mit so vielen Pullovern zu schlafen. Unsere Trinkwasservorräte gehen zu Ende, aber das Wasser ist mir ziemlich egal." Verhungern werde man nicht, Gerasimow macht sich eher "Sorgen wegen der Kälte. Wir können nichts gegen die Kälte tun, außer uns warme Kleidung anzuziehen und zu warten, bis die Heizkörper in unserer Wohnung wieder warm werden."

Auch Nick Cohen hat jetzt ein Substack-Blog. In einem seiner ersten Artikel macht er sich Gedanken darüber, dass Menschen in Großbritannien wieder hungern und die Tafeln in Anspruch nehmen müssen, wozu die konservative Regierung nur schmallippige Kommentare gibt. Nebenbei fällt ihm ein für säkular gesinnte Menschen unangenehmes Detail auf: "Schaut man sich die Tafeln genauer an, fällt einem noch etwas anderes auf. Wohltätige Hilfe ist keine gemeinschaftliche Anstrengung des fortschrittlichen Großbritannien. Sie ist ein Nischenthema. Es ist mir peinlich, das als Atheist zuzugeben, aber die meisten Lebensmittelbanken werden von religiösen Organisationen betrieben. Der Trussell Trust selbst verkündet, dass er 'auf christlichen Prinzipien basiert, von ihnen geprägt und geleitet wird'. Bitte korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege, aber soweit ich sehe, gibt es so etwas wie eine sozialistische, progressive, atheistische oder humanistische Tafel nicht."
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Kulturpolitik

Bei Twitter war es der Aufreger der Weihnachtstage. Claudia Roth will die Stiftung Preußischer Kulturbesitz umbenennen - Preußen soll raus. "Was haben Andy Warhol und Joseph Beuys mit Preußen zu tun?", zitieren sie Dirk Kurbjuweit und Christoph Schult im Spiegel. Die FAZ greift das Thema auf: "Preußen war nach Meinung vieler der Grund, warum Deutschland in den Abgrund von zwei Weltkriegen geraten war. Militarismus, Staatsvergottung, Gehorsams-Fixierung und Intoleranz", erläutert der anonyme Bericht. Und "auch der Präsident der SPK, Hermann Parzinger, fände einen anderen Namen besser. 'Wenn ich SPK sage, muss ich fast immer erklären, welche Institution ich vertrete', sagt er. Es sei nicht einfach, einen neuen Namen zu finden, gute Vorschläge nehme er gern entgegen. Noch gibt es aber keinen."

Auch die SZ zitiert Roth: "Der aktuelle Name bringe nicht 'die Weltläufigkeit der Kulturgüter zum Ausdruck', sagte Roth. 'Neben der umfassenden Strukturreform, die den einzelnen Institutionen jetzt mehr Autonomie und Handlungsfähigkeit verschafft, brauchen wir in einem zweiten Schritt auch einen attraktiven, zukunftsgewandten Namen.'" (Die "umfassende Strukturreform" war zwar bisher nur ein Minireförmchen, aber vielleicht hat Roth mit der Umetikettierung mehr Glück.)
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Religion

Der Ostkirchenkundler Reinhard Flogaus untersucht in der FAZ religiöse Motive in der Kriegspropaganda Putins und des Patriarchen Kyrill. Dieser verspricht gefallenen Soldaten sozusagen automatisch das Himmelreich und die Vergebung aller Sünden: "Diese Behauptung widerspricht nicht nur der orthodoxen Lehre, sie erinnert auch fatal an jenes Ablassversprechen, das Papst Urban II. 1095 mit der Teilnahme am Ersten Kreuzzug verbunden hatte. Damals wurde den Kreuzrittern der Nachlass aller Sünden und ein 'nie verwelkender Ruhm im Himmelreich' versprochen. Heute findet sich Ähnliches in der islamistischen Lehre des Schahidismus, der zufolge ein Krieger, der im Kampf gegen Ungläubige sein Leben verliert, die Vergebung all seiner Sünden empfängt und direkt ins Paradies gelangt. Umso symptomatischer, dass sich Kyrill schon 2016 Putins Meinung anschloss, das orthodoxe Christentum sei dem Islam näher als dem Katholizismus, was er damit begründete, dass Orthodoxie und Islam, anders als der Katholizismus, an der traditionellen Moral festhalten würden."

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