9punkt - Die Debattenrundschau

Das Chaos ist da

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.12.2022. Die ukrainische Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk sagt den Deutschen und Europäern in der Welt ein paar ungemütliche Wahrheiten: "Die Menschen in Deutschland und im gesamten Westen haben die Demokratie geerbt. Sie sind nur noch Konsumenten demokratischer Werte." Die SZ erinnert  an die herzliche Verbundenheit deutscher Dienste mit den syrischen. Die taz beleuchtet die katastrophale chinesische Coronapolitik. In der FAZ kommentiert David Grossman die Lage in Israel.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.12.2022 finden Sie hier

Europa

"Die sogenannten entwickelten Demokratien dealen seit Jahrzehnten mit Diktaturen", sagt die ukrainische Friedensnobelpreisträgerin Oleksandra Matwijtschuk im WeltOnline-Gespräch mit Klaus Geiger: "Die Menschen in Deutschland und im gesamten Westen haben die Demokratie geerbt. Sie sind nur noch Konsumenten demokratischer Werte." Außerdem fordert sie, Russland aus dem Sicherheitsrat zu werfen und beklagt die späten Waffenlieferungen aus Deutschland: "Jetzt brauchen wir Hilfe aus dem Ausland, besonders aus Deutschland, weil dieses Land eine besondere Verpflichtung hat. Die Bundesrepublik war zusammen mit Frankreich über Jahre der Vermittler zwischen Russland und der Ukraine im sogenannten Normandie-Format und hat diesen großen Krieg nicht verhindert."
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Politik

In rasender Geschwindigkeit stecken sich die schlecht geimpften Chinesen jetzt mit Corona an. Gleichzeitig nennt das Regime absurd niedrige Totenzahlen. Felix Lee beleuchtet in der taz das katastrophale Hin und Her der chinesischen Regierung und versucht die wahren Dimensionen zu erfassen: "Das in London ansässige Forschungsinstitut Airfinity geht mit Modellrechnungen von 5.000 Toten am Tag schon in den kommenden Wochen aus. Und es dürfte noch sehr viel schlimmer kommen. Denn längst hat das Virus auch die abgelegenen Gegenden erreicht, in denen das Gesundheitssystem nur schlecht entwickelt ist. Die Modellierer in London rechnen mit 3,7 bis 4,2 Millionen Infizierten am Tag rund um das chinesische Neujahrsfest Mitte Januar, wenn viele zu ihren Familien in die Provinzen reisen. Die Zahl der Toten werde bis dahin bei mehreren Millionen liegen." Helfen lassen will sich Xi Jinping natürlich nicht. "Das ist Ostblock-Verhalten: Dem Ausland gegenüber keine Schwächen zugeben und stattdessen lieber die eigene Bevölkerung sterben lassen."

In einem kurzen und düsteren Text für die FAZ kommentiert David Grossman die Lage in Israel, wo Benjamin Netanjahu bekanntlich rechtsextreme Politiker eingebunden hat, die viele demokratische Grundsätze des Landes in Frage stellen. Wenn Netanjahu glaubt, die Kräfte bändigen zu können, die er da entfesselt, irrt er sich, so Grossman: "An diesem Punkt dürfte er feststellen, dass es von dem Ort, an den er uns geführt hat, kein Zurück mehr gibt. Es wird unmöglich sein, das Chaos, das er angerichtet hat, zu beseitigen oder auch nur zu bändigen. Seine Chaos-Jahre haben bereits etwas greifbar Beängstigendes in die Realität geätzt, in die Seelen der Menschen, die sie durchlebt haben. Sie sind da. Das Chaos ist da, mit all seiner Sogkraft."

Der deutsch-iranische Autor Behzad Karim Khani schildert in einem öffentlichen Facebook-Post die rasende Inflation im Land: "Seit ein bis zwei Wochen versuchen die Menschen einen Bank Run und heben ihre Gelder von der Bank ab. Viele machen das als Teil einer landesweiten Kampagne des zivilen Ungehorsams. Andere aus Panik, ihre Ersparnisse nie wieder zu sehen. Banken zahlen nur noch kleine Beträge aus, viele sind zahlungsunfähig. Überall wird gestreikt." Auch im Regime zeigen sich laut Khani Risse: "Lager werden ausverkauft. Milliarden Dollar verschwinden gerade aus dem Land. Ein Teil nach Venezuela, wo Regimeangehörige so viele Anwesen kaufen, dass die Grundstückspreise gestiegen sind."

In der FR warnen die Marburger Konfliktforscher Tareq Sydiq und Sara Kolah Ghoutschi westliche Staaten davor, ihre Außenpolitik im Iran von einem Stabilitätsparadigma leiten zu lassen: "Demzufolge wird die Stabilität eines autoritär regierten Staates höher bewertet als revolutionäre Phasen oder Phasen politischer Umbrüche. Diese Perspektive beruht aber auf einer eurozentrischen und orientalistischen Sichtweise und ist vor allem vom Interesse nach Stabilität im eigenen Kontext geleitet. Für die Iraner:innen selbst bedeutet Stabilität ein Leben in Unfreiheit. Ein Ende der Proteste würde für die aktuell 18.500 politischen Gefangenen, die laut der Human Rights Activists News Agency seit Beginn der diesjährigen Proteste inhaftiert wurden, und ihre Familien keine Stabilität und Sicherheit bedeuten, sondern vielmehr eine massive Gefährdung ihrer Leben."
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Kulturpolitik

Schön, dass über einen neuen Namen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz diskutiert wird (Unser Resümee), findet Christiane Peitz im Tagesspiegel. Aber: "Mit der Reform hin zu mehr Autonomie und Attraktivität der Museen und einer flexibleren Verwaltung des 1900-Mitarbeiter:innen-Ladens geht es nur zäh voran. Die dringlichste Frage ist weiterhin offen: die der (Unter-)Finanzierung durch Bund und Länder, die allesamt im Stiftungsrat vertreten sind. Für eine Verschlankung müsste ein Bundesgesetz geändert werden. Da erscheint einem der Namensdisput - der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse und der Historiker Hubertus Knabe werfen den Grünen Geschichtslosigkeit und Ersatzhandlung vor - wie ein Ablenkungsmanöver von den eigentlichen SPK-Baustellen."
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Geschichte

In Deutschland wurde der weltweit erste Prozess gegen Täter des syrischen Geheimdienstapparates wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit geführt. Jetzt ist es an der Zeit, auch Deutschlands Involviertheit zu beleuchten, fordert Ronen Steinke im SZ-Feuilleton. Von 1948 bis 1954 wurde der Mukhabarat genannte syrische Geheimdienstapparat auch von geflüchteten Nazis mit aufgebaut, später half die DDR gern, indem sie etwa Syriens "Politische Polizei" in Ostberlin für Trainingsstunden empfing oder die Syrer mit Materialien, darunter ein "Anti-Mensch-Serum", versorgten, so Steinke: "Den Stasi-Leuten fiel zwar auf, wie brutal ihre syrischen Zöglinge waren. Letztlich störten sie sich daran aber kaum, 1988 wünschte der Stasi-Chef Erich Mielke dem syrischen Innenminister 'viel Erfolg im Kampf gegen Israel'. Allenfalls mäkelten die deutschen Ausbilder, weil sich Syrien so viele Geheimdienste parallel leistete. So ist es bis heute: Selbst wenn Bürger den Reisepass verlängert haben wollen, müssen sie zu mehreren Diensten pilgern, überall wird ein Tee getrunken, Geld unter dem Tisch zugeschoben. Das hat in Syrien Methode, die Idee ist, dass kein einzelner Dienst allein zu mächtig werden soll. Worüber die Stasi allerdings nur den Kopf schüttelte, das sei ja Arbeitsverschwendung, alles redundant, ineffizient."

Übersetzer haben ein intimeres Verhältnis zu Texten als die Autoren selbst, die oft nicht bedenken, was sie schreiben. Das gilt zumal für Hitler in "Mein Kampf". Olivier Mannoni hat "Mein Kampf" neu ins Französische übersetzt und nun einen Essay darüber veröffentlicht, den Niklas Bender in der FAZ aufschlussreich findet, auch wenn er nicht überall zustimmt. Mannonis Argument etwa, dass "die Schwurbelsyntax bereits die Täuschungsabsicht offenbare, überzeugt nur bedingt. Es ist eher, wie er später schreibt: dass sie 'ein perverses Denken' anschaulich werden lässt, das alles verbiegt, Logik, Sachverhalte, Syntax - 'die pathologische Argumentation folgt dem mäandernden Faden verdorbener Sätze'."

Ebenfalls in der FAZ erinnert Tim Allert an den Soziologen Theodor Geiger, der schon um 1930 die "Panik im Mittelstand" diagnostizierte, welche dann für Hitlers Schwurbelsyntax solche Resonanzräume schuf.
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Gesellschaft

Marita Liebermann, Direktorin des Deutschen Studienzentrums in Venedig, denkt in einem kleinen Essay für die FAZ über die Tourismuskritik in der Kulturszene nach, die sie exemplarisch in einem im Dogenplalast ausgestellten Werk von Anselm Kiefer verwirklicht sieht. Kiefer mokiert sich hier über Touristen und ihre Rollkoffer. Diese Art der Kritik verkennt, so Liebermann, dass die Kulturszene selbst zu dem Tourismus, den sie kritisiert, maßgeblich beiträgt, und sei es nur, indem sie durch Biennalen Touristen anzieht. Sie plädiert für eine aufgeklärtere Sicht auf das Phänomen: "Die Motivation einer postnormalen, die Muster verlassenden Tourismuskritik wäre die gleiche wie jene, die der bisherigen 'Normalkritik' unterstellt werden darf: mehr Bewusstsein für die gefährliche Zuspitzung der Lage zu schaffen und so zur Besserung beizutragen, idealerweise einen Bewusstseinswandel zu bewirken, der dazu führt, dass wir alle intensiver darüber nachdenken, wie wir reisen, und verantwortungsvoller mit den bereisten Orten umgehen. Aber die postnormale Annäherung würde die Erkenntnis einbeziehen, dass die heute normale Kritik am Tourismus, die in Touristen immer nur 'die anderen' sieht, schon immer ein Bestandteil des 'touristischen Codes' war.

Fassungslos blickt Claudia Mäder in der NZZ auf die Liste mit hundert Wörtern und Wendungen, die das IT-Department der Universität Stanford auf den Index gesetzt hat: "Wörter wie 'landlord/landlady', welche die Geschlechtervielfalt nicht ausreichend abbilden, machen nur einen kleinen Teil der Liste aus. Nein, in der Mehrheit geht es um Alltagswörter wie zum Beispiel 'crazy': Dieses Adjektiv, lehren die Verfasser der Liste, trivialisiere die Erfahrungen von Menschen mit psychischen Problemen. Weg soll bitte auch der 'Indian summer'. Denn dieser Sommer kommt spät im Jahr und lege folglich nahe, dass Indigene chronisch unpünktlich seien. Der 'user' wiederum sei problematisch, da über das darin mitklingende Verb 'to use' auch schmerzhafte Drogenabhängigkeiten oder Missbrauchserfahrungen aufgerufen werden könnten; besser würde man 'client' sagen."
Archiv: Gesellschaft

Kulturmarkt

Ein für die Kulturbranchen eher deprimierendes Jahr geht zu Ende, und der Buchreport präsentiert wie zum Hohn noch die Jahresbestsellerliste des Spiegel:

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