9punkt - Die Debattenrundschau

Nicht nichts

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.01.2023. Benedikt XVI. ist gestorben. Seine größte Tat als Papst war sein Rücktritt, finden die taz und die SZ. In Großbritannien droht eine neue Welle des Populismus, auch weil die Folgen des Populismus, der zum Brexit führte, nicht benannt werden, schreibt John Harris im Guardian. Die FAS veranstaltet ein Dossier mit Blicken internationaler Schriftsteller auf Deutschland. Hat es eine Mitschuld am Ukrainekrieg? Zweifellos ja, meint Viktor Jerofejew. Und der Perlentaucher wünscht allen Lesern und Leserinnen ein frohes neues Jahr!
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.01.2023 finden Sie hier

Europa

Korrektur vom 3. Januar: Wir hatten den Guardian-Kommentar von John Harris aus Versehen Martin Kettle zugeordnet, pardon!

Wladimir Putin hat den Ukrainern an Silvester deutlich zu verstehen gegeben, dass 2023 erneut ein annus horribilis für sie werden soll. Bombenangriffe begleiteten die Ukrainer ins neue Jahr, berichtet der Guardian.  Die FAS veranstaltet ein Dossier mit Blicken internationaler Schriftsteller auf Deutschland. Hat es eine Mitschuld am Krieg? Zweifellos ja, meint Viktor Jerofejew in einem Text, der sich teils als Hommage, teils als Kritik an Deutschland liest: "Die deutsche Politik der letzten zwanzig Jahre in Bezug auf Russland ließe sich als lächerlich bezeichnen, wenn sie nicht eine Ermunterung für Putins Diktatur gewesen wäre. Letzten Endes hat sich unser Diktator in vieler Hinsicht an der Fahrlässigkeit Deutschlands orientiert, die sich schon bei der Einnahme der Krim im Jahr 2014 zeigte. Die deutsche Ordnung hauchte dem russischen Chaos Stärke ein, das die Züge eines imperialen Patriotismus annahm."

Jurko Prochasko denkt in seinem Text für das Dossier über den Stolz Deutschlands auf seine Vergangenheitsbewältigung nach, aus der es die falschen Konsequenzen zog. Nun müsse Deutschland einsehen, "dass es historische Momente gibt, wo es nicht mehr hilft, sich in Ungefährheiten, Relativierungen und Ausreden zu flüchten, sich hinter ihnen zu verstecken. Und dass die Wahrheit nicht immer unbedingt irgendwo in der Mitte zu suchen ist. Dass das Primat des unbedingten Pazifismus ein falscher Schluss aus der missverstandenen Geschichte und nicht nur eine schlechte, sondern die schlechtestmögliche Antwort auf die akute Bedrohung sein kann."

Die Ukraine hat die moralische Pflicht, dem Aggressor um des Friedens willen Konzessionen zu machen, hatte der Rechtsprofessor Reinhard Merkel unter akademischem Brimborium in der FAZ erklärt (unser Resümee). Darauf antwortet heute der  Völkerrechtler Helmut Philipp Aust. Merkels Sichtweise privilegiert den Aggressor, so Aust: "Durch die faktische Konsolidierung einer Besatzungssituation würden so die Voraussetzungen geschaffen, um die Souveränität und die territoriale Integrität eines anderen Staates scheibchenweise zu beseitigen. Damit würde aber endgültig die Axt an die normative Autorität des Gewaltverbots gelegt, das von Merkel zwar einerseits als 'Stabilitätsbedingung jeder Normenordnung' anerkannt wird, dessen Wert er aber andererseits aufgrund seiner vorgeblichen moralischen Entleerung gering schätzt."

Die gesamte politische Klasse in Britannien, inklusive Labourchef Keir Starmer, traut sich nicht, die desaströsen Folgen des Brexit zu benennen, konstatiert John Harris im Guardian. Das führt auf schräge Art zum zweiten Mal zum einem drohenden Triumph der Populisten: "'Großbritannien ist kaputt', sagt Nigel Farage, aber aus Angst, den Brexit selbst in Frage zu stellen, scheint niemand in der Politik bereit zu sein, darauf hinzuweisen, dass Farage selbst zu den Hauptverantwortlichen gehört, die das Land kaputt gemacht haben. Damit wird eine große Wahrheit ignoriert, die bis in die 1930er Jahre zurückreicht, wenn nicht sogar noch früher: Wenn Sie nicht wollen, dass die Politik mit Verratsmythen und Verschwörungstheorien überschwemmt wird - die einen viel größeren Einfluss auf die öffentliche Meinung haben, als man in der Politik und den Medien derzeit zu realisieren scheint - dann sollten Sie unbequeme Fakten nicht ignorieren. Wenn sich Mainstream-Politiker der Verdrängung überlassen, haben Demagogen Erfolg."

Für viel Freude in den sozialen Medien sorgten, so weit verständlich, die feierlichen Worte der Verteidigungsministerin Christine Lambrecht zum Jahreswechsel:

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Urheberrecht

Am 1. Januar ist Tag der Gemeinfreiheit. Die Wikipedia veröffentlicht eine Liste mit Urhebern, die im Jahr 1952 gestorben sind und deren Urheberrechte jetzt frei sind. Aber siebzig Jahre sind so lang, dass sie oft für einen zweiten Tod sorgen: Die meisten Namen sind vergessen. Zu den nicht vergessenen zählen: Knut Hamsun, John Dewey, George Santayana, Benedetto Croce, Alexandra Michailowna Kollontai, Charles Maurras, Paul Eluard.
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Stichwörter: Wikipedia, Urheberrecht

Religion

Benedikt XVI. ist gestorben. Die größte Tat Josef Ratzingers als Papst war sein Rücktritt, schreibt Philipp Gessler in der taz: "ein ungeheurer Akt, den vor ihm seit rund 720 Jahren kein Pontifex maximus gewagt hatte. Ratzinger trat als Papst zurück, weil er sah, dass er seiner Aufgabe, eine Weltkirche absolutistisch und mit einem eher frühneuzeitlichen Apparat zu führen, nicht mehr gewachsen war, wie er etwas verschlüsselt bei seiner Rücktrittserklärung auf Latein erklärte." In frommer Beschaulichkeit konnte er seine letzten Jahre allerdings nicht verbringen: "Denn die Sünden seiner Vergangenheit holten ihn ein, das lange und bewusst Verdrängte, das Ratzinger und seine konservativ-reaktionären Fans in aller Welt und in der Kirche so gern weiter unter dem Teppich gehalten hätten. Der Papa emeritus (ein Titel, den er sich selbst anmaßte - ebenso wie sein weiterhin weißer Talar) wurde verfolgt von den Meldungen des weltweiten Skandals um sexualisierte Gewalt, die in den vergangenen Jahren einfach nicht stoppen wollten, und das zu Recht."

Als Johannes Paul II. starb, erscholl unter den Trauernden der Ruf "Santo subito". Auf den Tod Benedikts XVI. gab es kaum spontane Reaktionen, notiert Daniel Deckers in der FAZ: "Selbst die Kirchen weltweit füllten sich am letzten Tag des Jahres 2022 nicht mit Betern, die Trauer um einen Großen der Geschichte vereint hätte. Und die Beisetzung am Donnerstag wird ein deutlich bescheideneres Gepräge haben als jene seines Vorgängers."

Sein größtes Verdienst war gewissermaßen sein Rücktritt, meint auch Annette Zoch in der SZ. Damit "hat er das Papstamt auf Dauer verändert; er hat es geerdet und menschlicher gemacht. Und er hat damit auch Papst Franziskus möglich gemacht, der - bei aller Kritik an seiner Zögerlichkeit - immerhin die ganze Weltkirche auf einen synodalen Prozess geschickt hat. Der die Kurie reformiert, der Frauen dort in Leitungsämter gehoben hat. Ja, es sind nur Trippelschritte, und ob sich am Ende etwas ändert, ist ungewiss. Aber es ist nicht nichts." Ebenfalls in der SZ sieht der Theologe Werner G. Jeanrond Benedikt strenger, nämlich als Verhinderer jeder Reform: "Kirche ist für ihn hierarchisch gedacht und verortet. Nicht die Gläubigen begründen die Kirche, sondern immer erst das geweihte und von Männern ausgeübte Amt."

An der Hamline University Universität wurde eine Dozentin gefeuert, weil sie in einem Seminar eine Abbildung Mohammeds aus einer persischen Universalgeschichte des Islams aus dem 14. Jahrhundert gezeigt hatte (unser Resümee). Einige muslimische Studenten hatten dagegen protestiert, und die Uni-Leitung knickte umstandslos ein. Der Iran-Historiker Michael Bonner ergänzt im Newlinesmag den historischen Kontext, und er macht klar, dass die Studenten die heute ihre von der "Islamophobie" beleidigte Seele geltend machen, selbst in einer bestimmten Tradition des Islams stehen, nämlich der fundamentalistisch-wahhabitischen: Die von Abd al-Wahhab vertretene "düstere Sicht auf das islamische Erbe setzte sich vielerorts durch. Sie war der Grund dafür, dass viele muslimische Heiligtümer und Moscheen in der ganzen Welt weiß getüncht wurden und ein großer Teil der islamischen Kunst verschwand. Vergleiche mit dem byzantinischen Ikonoklasmus (726-842) drängen sich auf, ebenso wie mit den schlimmsten Auswüchse der protestantischen Reformation im 16. und 17. Jahrhundert. Denken Sie an die Plünderung des afghanischen Nationalmuseums durch die Taliban und Al-Qaida oder an die Zerstörung muslimischer Schreine und Mausoleen durch Ansar Dine in Timbuktu in Mali."
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Geschichte

Ralph Bollmann schreibt in der FAS einen Nachruf auf das Kaufhaus, das zumindest in Deutschland seine letzten Tage zu erleben scheint. Gleichzeitig erzählt er die Geschichte der deutschen Kaufhausketten, die allesamt aus  der "Arisierung" jüdischer Kaufhäuser unter den Nazis hervorgingen: "Lediglich der Name Karstadt blieb trotz 'Arisierung' erhalten. Trotz aller Anti-Warenhaus-Propaganda entstand 1936 sogar ein ganz neuer Konzern, als der Kaufmann Helmut Horten eine Reihe von Warenhäusern aus einst jüdischem Eigentum günstig übernahm. Hertie und Horten, Kaufhof und Karstadt: So entstand ausgerechnet unter den Nationalsozialisten, die das Warenhaus ursprünglich abschaffen wollten, jenes Konsum-Quartett, das für die Bonner Nachkriegsrepublik der Wirtschaftswunder-Zeit prägend werden sollte."
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Stichwörter: Kaufhäuser

Ideen

Verteidigen die Iranerinnen wirklich "unsere Werte", wie Annalena Baerbock kürzlich erklärte? Wohl kaum, meint Solmaz Khorsand im Standard. Was die Iranerinnen fordern, waren mal unsere Werte, aber heute? "Wenn in unseren Breitengraden von Freiheit, Demokratie und der Gefahr von Diktaturen gesprochen wird, sprechen zumeist jene, die gelernt haben, diese Begriffe zu pervertieren. Jene, die Karrieren daraus gemacht haben, diarrhöisch in der Öffentlichkeit gegen jede zivilisatorische Errungenschaft zu wettern und das auch noch als Denkanstoß zu verkaufen. Jene, die in obskuren Netzwerken die große Weltverschwörung herbeifantasieren. Und jene, die nach verlorenen Wahlen Parlamente stürmen und sich am Ende aus dem Untergrund mit Schattenarmee und Schattenregierung ihren terroristischen Wahn zu erputschen versuchen. ... Vielleicht ist es in diesem Jahr an der Zeit, sich endlich an den Gedanken zu gewöhnen, dass der Referenzrahmen für 'unsere Werte' nicht länger bei uns zu verorten ist, sondern überall dort, wo sich die Menschen ihrer Kostbarkeit tatsächlich bewusst sind."
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Stichwörter: Baerbock, Annalena