9punkt - Die Debattenrundschau

Das Ende einer Belle Époque

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.01.2023. In der taz setzt die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko keinerlei Hoffnung auf Russland: Demokratisierung von unten zu erwarten, wäre sehr naiv. In der FR sorgt sich der Philosoph Markus Gabriel mehr noch als um die Welt um die moralische Integrität der Menschheit. In der taz fürchtet Hans Ulrich Gumbrecht, dass uns die Individualisierung in höchst undramatische Einsamkeit führt. Die SZ möchte nicht mehr übers Gendern diskutieren, sondern Kitas bauen. Aber bitte nicht die Care-Tätigkeiten ökonomisieren, ruft die NZZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.01.2023 finden Sie hier

Europa

In einem ungeheuer interessanten taz-Interview mit Jens Uthoff, von dem man gar nicht weiß, was man zitieren soll, spricht die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko über das Ende der Belle Époque in Europa, den Kriegsterror gegen die Ukraine und falsche Erwartungen an Russland: "Der größte Fehler ist, darauf zu hoffen, dass es den Leuten irgendwann so schlecht geht, dass sie gar nicht anders können, als gegen das Regime aufzubegehren. Ja, den Menschen geht es elendig. Aber das macht sie leichter empfänglich für den Hass, der verbreitet wird. Mit den Technologien der Hasserzeugung waren Putin und der russische Staat in den vergangenen 20 Jahren sehr erfolgreich. In den (sozialen) Medien wird Gewalt und Militarismus gepredigt und gepriesen, die Folge ist ein regelrechter Kriegskult... Auf Selbstorganisation sollte man nicht hoffen. Hannah Arendt hat in 'Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft' gut beschrieben, was der beste Nährboden für Totalitarismus ist: Es ist die Gesellschaft der Einsamen, die atomisierte Gesellschaft. Russland ist eine sehr kranke Gesellschaft. Demokratisierung von unten zu erwarten, wäre sehr naiv."
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Ideen

Nicht die Welt ist in Gefahr ist, erklärt der Philosoph Markus Gabriel im FR-Gespräch mit Martin Hesse, sondern "der moralisch erträgliche Fortbestand der Menschheit". Und in dieser Frage helfe uns Technologie einfach nicht weiter: "Wenn wir zum Beispiel eine Höchstform an Mobilität für wünschenswert halten, und dann entsprechende Lösungen suchen wie sauberer Flugverkehr, funktionierende Bahn, Elektrifizierung der Automobilindustrie, dann ist die andere Frage, warum wir überhaupt so mobil sein wollen. Die relevante Frage ist nicht nur, wie wir eine technologische, umweltfreundliche Lösung für unser Begehren finden, sondern warum wir glauben, das zu wollen, wofür es noch keine Lösung gibt. Dafür brauchen wir keine technische Lösung, sondern eine geistes- und sozialwissenschaftliche Herangehensweise und eine in der Demokratie stattfindende Debatte darüber, wer wir eigentlich sein wollen. Und diese Debatte findet zurzeit eben nicht statt, weil wir stattdessen nur nach technologischen Lösungen suchen."

Hans Ulrich Gumbrecht
, emeritierter Literaturwissenschaftler in Stanford, mäandert im taz-Gespräch mit Peter Unfried durch die Themen, von der fahlen europäischen Utopie bis zum Verblassen des amerikanischen Traums, kommt aber immer wieder auf die Vereinzelung zurück: "Man genießt heute - zumal in Europa - einen früher undenkbar hohen Grad an individueller Freiheit, und kann mehrfach im Leben den Beruf und auch die Lebenspartner wechseln. Dies sind alles auch Bewegungen und Symptome einer fortschreitenden Segmentierung, einer Segmentierung ohne Ziel oder gar Utopie... Die Resonanzfähigkeit ist mit der Individualisierung geschwunden. In der Digitalisierung läuft die Entfaltung des Einzelnen auf etwas hinaus, das er allein verfolgt. Man schaut sich das eine an, ist über das andere informiert, liest plötzlich Gottfried Keller und wird dann Spezialist für sizilianische Gegenwartsliteratur. Aber man findet niemanden, der genauso konzentriert sizilianische Gegenwartsliteratur verfolgt, wie man selbst. Man macht das also ganz allein, in undramatischer Einsamkeit, und es gibt dabei weder Niederlagen noch Siege."

Außerdem meldet Michael Hesse in der FR, dass das Hamburger Philosophie-Magazin Hohe Luft eingestellt wird.
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Politik

Im FAZ-Interview mit Christian Meier spricht der israelische Historiker Tom Segev über die Instrumentalisierung des Holocaust von Rechts und Links, über die BDS-Bewegung und das zunehmende Gefühl der Israelis, dass ein Frieden mit den Palästinensern nicht möglich sei: "Ich gehöre nicht zu denen, die sagen, das Wichtigste ist, dass wir Israelis einig sind. Die Spaltung ist für mich aber nur ein Indiz des wirklichen Problems: der andauernden Unterdrückung der Palästinenser. Schon vor mehr als fünfzig Jahren sagten Israelis, die Besatzung gefährde die Demokratie. Denn eine demokratische Gesellschaft könne nicht auf Dauer Menschenrechte verletzen. Ich dachte immer, das gehe doch, aber in letzter Zeit denke ich auch, dass wirklich unsere Demokratie in Gefahr ist. Auf einmal stehen Dinge zur Debatte wie ein starkes Oberstes Gericht. Ich weiß wirklich nicht, wohin das führt. Ich weiß aber nicht, wie dieser Konflikt zu lösen ist. Alles Mögliche wurde schon ausprobiert, nichts hat funktioniert."
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Stichwörter: Segev, Tom, BDS

Kulturpolitik

Die moralische Emphase, mit der die Benin-Bronzen an Nigeria zurückgegeben wurde, hält die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin in der FAZ für ziemlich heuchlerisch, nicht nur weil sie meint, dass mit der Rückgabe der Skulpturen auch ein wichtiger Handelspartner für Flüssiggas bedient wurde. Auch Annalena Baerbocks Vergleich mit der Gutenberg-Bibel sei verfehlt, die der Demokratisierung des Wissens gedient hatte: "Die Benin-Bronzen stehen für das absolute Gegenteil. Die Rückgabe, so argumentierte Frau Baerbock, gebe Nigeria einen Teil seiner Geschichte zurück, die 'geraubt und gestohlen' worden sei. Abgesehen davon, dass in Nigeria 250 verschiedene Ethnien leben, von denen jede ihre eigene konfliktreiche Vergangenheit hat, kommt es einer Geschichtsklitterung gleich, wenn die Geschichte der Bronzen auf die Konfiszierung der Königsinsignien durch die Briten und den Erwerb deutscher Museen von Teilen der Kriegsbeute reduziert wird. Die ans Larmoyante grenzenden Schuldeingeständnisse und Wiedergutmachungsanstrengungen der deutschen Politik verdecken die bluttriefende Vorgeschichte der Benin-Bronzen: Diese sind auf einem Berg von Leichen und durch Schiffsbäuche voller Sklaven - vom Königreich Benin in Kriegen gegen Nachbarvölker gejagt, versklavt, teilweise den bronzenen Herrscherköpfen als Blutopfer dargebracht und in Massen gegen Bronze-Manillen aus Europa verkauft - entstanden."
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Kulturmarkt

Amazons Algorithmen sortieren Bücher stets auf ein Maximum an Diversifizierung bedacht, oft jedoch recht sinnfrei in den Verkaufscharts, Marc Reichwein erinnert in der Welt daran, dass Robert Harris' Nazi-Thriller "Munich" einst als Bestseller in der Kategorie "Gay & Lesbian Political & Social Issues" geführt wurde. Oder: "So firmiert 'Nur noch ein einziges Mal' von Colleen Hoover zum Zeitpunkt der Abschrift dieses Artikels als 'Nr. 1 in Literatur über Mobbing für junge Erwachsene', zeitgleich aber auch als 'Nr. 1 in WohlfühlLiteratur'. Innere Widersprüche kennt das MaschinenRanking nicht... Die klassische Bestsellerliste lebte von der Suggestion, Übersichtlichkeit zu erzeugen und gesellschaftliche Reichweite beanspruchen zu k önnen (ob dem wirklich immer so war - geschenkt). Amazons digitale Live-Verkaufscharts, die wie ein Baumdiagramm verzweigen und in Special-Interest-Rankings münden, führen die klassische Ranking-Idee, Orientierung bieten zu wollen, durch Desorientierung ad absurdum."
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Stichwörter: Amazon, Bestseller, Algorithmen

Gesellschaft

Nach den Silvesterkrawallen würde Gunnar Hinck in der taz gern über Sozialisation sprechen. Denn natürlich litten junge Migranten unter sozialer Benachteiligung und rassistischer Diskriminierung, aber sie wachsen auch mit gewissen Prägungen auf: "Warum schießen manche arabisch- oder türkischstämmige junge Männer an Silvester gern mit Schreckschusswaffen herum? Weil in ihren Herkunftsländern oder in den Herkunftsländern ihrer Eltern Männer auf Hochzeiten gern Schüsse abgeben, oft auch aus scharfen Waffen. Das zu benennen, ist nicht Rassismus, sondern Sozialanthropologie ... Das enge Männlichkeitsbild, das in Neukölln oder Hamburg-Wilhelmsburg zu sehen ist, steht in einen seltsamen Kontrast zu sich auffächernden Männlichkeitsbildern insgesamt. Es dürfte einen Zusammenhang geben zwischen einem 'Loser'-Dasein (so die Neuköllner Integrationsbeauftragte Güner Balci) und dem Drang, auf der Straße den Macker herauszukehren. Umgekehrt gesagt: Wer auf irgendetwas persönlich Geleistetes stolz sein kann, hat es nicht nötig, sich durch Raketenschüsse auf Passanten mal richtig böse und bedeutend zu fühlen. Soziale Lage und Prägung gehen hier zusammen."

Das Diskutieren übers Gendern kann man sich eigentlich sparen, meint Nele Pollatschek in der SZ, wirklich vorangebracht wird die geschlechtergerechte Gesellschaft nur durch eine bessere Politik: "Gemessen am durchschnittlichen Bruttostundenverdienst der Männer lag die Gender-Pay-Gap in Deutschland 2019 bei 19 Prozent und damit deutlich über EU-Durchschnitt (14 Prozent). Von den 27 EU-Staaten stehen nur drei noch schlechter da als Deutschland. Wobei auch diese Zahlen geschummelt sind, weil Deutschland in Geschlechterfragen nach wie vor aus zwei Teilen besteht: dem ungerechten Westen und der ehemaligen DDR, wo die Pay-Gap bei recht vorbildlichen sieben Prozent liegt. Ohne die Hilfe aus dem Osten und dem DDR-Erbe wäre Deutschland EU-Spitze im Frauen-schlechter-Bezahlen. Dass Ostdeutschland in der Bezahlungsgerechtigkeit so unfassbar viel besser ist als der Westen, hat einen Grund: Kinderbetreuung. Die Gender-Pay-Gap ist an erster Stelle eine Mütter-Pay-Gap."

Immer stärker drängt die Care-Bewegung darauf, Hausarbeit und Fürsorge als Care-Arbeit bezahlen zu lassen. In der NZZ hält Rainer Hank das für einen Irrweg: "Hannah Arendt und mit ihr die philosophische Tradition sprach von 'vita activa': sich sorgen, sich kümmern, sich engagieren für Familie, Nachbarn und Freunde. Niemand hätte das 'aktive Leben' als Synonym für Arbeit gebraucht. Und schon gar nicht daraus geschlussfolgert, dass es für 'vita activa' einen Tarif- oder Mindestlohn geben müsse... Wäre es nicht emanzipierter, die Nichtökonomisierbarkeit wichtiger Bereiche des Lebens zu retten, freilich unter der Voraussetzung, dass die Zuständigkeiten für das sorgend aktive Leben zwischen Frau und Mann Gegenstand von Verhandlungen sein muss, nachdem die Arbeitsteilung der Aufgaben in der bürgerlichen Familie (inklusive Outsourcing der Sorge an Hauspersonal) ihre Selbstverständlichkeit verloren hat?"
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