9punkt - Die Debattenrundschau

Ein echter Mangel an Toilettenpapier

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.01.2023. Die Silvesterkrawalle lassen die Zeitungen einfach nicht los. Tja, irgendwie waren es schon Jugendliche mit Migrationshintergrund, sagt der Neuköllner Bürgermeister Martin Hikel in der FAZ. Aber in Sachsen haben auch Nazis randaliert, notiert die taz. Die Polizei hat bei den Berliner Zahlen sowieso übertrieben, außerdem waren es "überwiegend Deutsche", meint die SZ. Und falls sie Migrationshintergrund hatten, hat es bestimmt nur soziale Ursachen, diagnostiziert Oliver Nachtwey in der FAZ. Außerdem trauern die Zeitungen um Christoph Stölzl .
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.01.2023 finden Sie hier

Europa

Die großen Brüder verrecken im Matsch. Währenddessen werden die Geschwister an den russischen Schulen gehirngewaschen. Am Montag müssen sie eine Stunde früher in die Schule kommen, um sich "Gespräche über Wichtiges" eintrichtern zu lassen, berichtet Kerstin Holm in der FAZ. Dafür gibt es neue Lehrmaterialien zur Ukraine: "Demnach gehörten deren östliche Landesteile stets zu Russland, in Kiew habe aber 2014 infolge eines Staatsstreichs ein faschistisches, von Amerika gelenktes Regime die Macht übernommen, das Russland hasse und es früher oder später überfallen hätte. Außerdem wird montags feierlich die russische Fahne gehisst und gemeinsam die Nationalhymne gesungen."

Tayyip Erdogan übt massivsten Druck auf ausländische Regierungen aus, um Dissidenten im Exil ruhig zu stellen oder ihrer sogar habhaft zu werden, erzählt Can Dündar in der Zeit. Er selbst steht auf einer Terrorliste Erdogans. Aber er erzählt viele andere Geschichten, etwa die des ehemaligen Insiders des Erdogan-Regimes, Mafiaboss Sedat Peker, der von Vereinigten Arabischen Emiraten aus Interna über den Palast verbreitete: "Also reiste Erdogan vergangenes Jahr nach Abu Dhabi. Dreizehn bilaterale Abkommen wurden unterzeichnet. In dem Video, das Peker nach dieser Reise veröffentlichte, erklärte er, 'wegen eines hohen Sicherheitsrisikos' sei er von den Zuständigen der Emirate gewarnt worden und werde seine Videobotschaften nun für eine Weile aussetzen. Woraufhin er vollkommen verstummte. Zuletzt ließ er über sein Umfeld verlautbaren, angesichts der Gefahr, ermordet zu werden, habe er die Informationen und Dokumente, über die er verfüge, aufgezeichnet und in zwei verschiedene Länder geschickt. Sollte er umgebracht werden, würde die gesamte türkische Öffentlichkeit davon erfahren."

Und auch nach innen verschärft sich die Repression immer weiter, schreibt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne: "In der Türkei kam unterdessen heraus, dass der von Erdogan eingesetzte Verkehrsminister Ausschreibungen von rund 105 Millionen Euro für den Straßenbau an seinen Onkel vergeben hat. Anschließend wurde der Zugang zu 53 Websites gesperrt, weil sie darüber berichtet hatten."

Fünf gegensätzliche Gesellschaftsentwürfe prägten die politische Diskussion vor dem Krieg in der Ukraine, schreibt der Politologe Bogdan Kolesnyk in der NZZ: Ein Modernisierungsnarrativ, ein nationales Narrativ, ein Pluralisierungsnarrativ, ein konservatives Narrativ und ein neosowjetisches Narrativ. "Zurzeit macht das politische Leben in der Ukraine Pause. Die Fernsehkanäle senden 'Einheitsnachrichten' und geben die offizielle Sicht auf den Krieg wieder. Es gibt eine Art inneren Waffenstillstand: Die Politiker halten sich an einen Burgfrieden und kritisieren die Regierung nicht. Das Parlament winkt Gesetze diskussionslos durch. Die öffentliche Debatte in den sozialen Netzwerken ist in Filterblasen fragmentiert, die wenig miteinander kommunizieren. Manche sehen vor diesem Hintergrund einen neuen Autoritarismus entstehen. Vor dem russischen Überfall rivalisierten die einzelnen Narrative miteinander und versuchten sich gegenseitig auszulöschen."
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Medien

Am 4. Januar erschien in der FAZ ein Artikel von Thomas Thiel über die Zweistaatenlösung für Israel und Palästina (Unser Resümee). In der Online-Ausgabe der FAZ wurde der Artikel kurze Zeit später gelöscht und durch eine Korrektur ersetzt, laut Redaktion soll er zehn sachliche Fehler enthalten haben, berichtet Alan Posener in der Welt. An sich kein Problem, einige "gravierende" Fehler waren durchaus dabei, so Posener: "So sprach Thiel von einem israelischen 'Verteidigungskrieg gegen die Palästinenser' 1967, während der Sechstagekrieg tatsächlich gegen die arabischen Staaten Ägypten, Syrien und Jordanien geführt wurde." Aber in der Korrektur "schießt die FAZ-Redaktion weit übers Ziel hinaus", findet Posener. "So sei der Sechstagekrieg 'kein Verteidigungskrieg' gewesen, sondern 'ein Überraschungsangriff' Israels. Jenseits arabischnationalistischer und islamistischlinker Propaganda dürfte es jedoch klar sein, dass Israel damals einem geplanten Vernichtungskrieg seiner Nachbarn zuvorkam." Posener glaubt, dass Teile des FAZ-Feuilletons die Fehler als Chance nutzten, "einen Artikel zu torpedieren und einen Redakteur öffentlich zu diskreditieren, der dem herrschenden deutschen Narrativ über den 'Nahost-Konflikt' widersprach. (…) Einmal den Gedanken zuzulassen, dass nicht Israels Politik das Haupthindernis für den Frieden darstellt, sondern die Nichtanerkennung des Rechts von Juden, in ihrer alten Heimat zu leben, nicht als Dhimmis von Gnaden ihrer muslimischen Herren, sondern als Bürger ihres eigenen Staates: dagegen scheint es nicht nur in Brüssel, sondern auch in der FAZ-Redaktion erheblichen Widerstand zu geben."
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Politik

Es gibt einen doppelten Triumph: den der rechten Parteien in Israel, und den der linken "Israelkritiker" in Deutschland, die sich nun bestätigt fühlen, notiert Sarah Cohen-Fantl in der Jüdischen Allgemeinen. Aber eigentlich ist es egal, wer in Israel regiert. "Was mich am meisten irritiert: Die letzte Regierung in Israel war das Gegenteil der jetzigen. Links, liberal, mit großem Frauenanteil und - aufgepasst - einer arabischen Partei. Anstatt das zu feiern oder zumindest positiv bis wertfrei anzuerkennen, suchte die woke deutsche Bubble auch hier ständig nur nach Argumenten, was alles schiefläuft im 'Apartheidstaat' - ganz anders als im perfekten Deutschland natürlich."
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Stichwörter: Israelkritik, Woke

Ideen

Slavoj Zizek meditiert in der Zeit mit heiterem Ansatz vor ernstem Hintergrund über Zwangsläufigkeit in der Geschichte. Was geschehen kann, obwohl es nicht geschehen soll, macht er mit einer Schnurre aus seiner sozialistischen Vergangenheit deutlich: "Aus heiterem Himmel kam das Gerücht auf, es gebe nicht mehr genügend Toilettenpapier in den Geschäften. Die Behörden versicherten prompt, es sei genügend Toilettenpapier für den normalen Verbrauch vorhanden, das Gerücht sei falsch. Überraschenderweise stimmte das nicht nur, sondern die meisten Menschen glaubten es auch. Ein Durchschnittsverbraucher überlegte jedoch wie folgt: Ich weiß, dass es genügend Toilettenpapier gibt und das Gerücht falsch ist. Was aber, wenn einige Leute das Gerücht ernst nehmen und panisch anfangen, Toilettenpapier zu horten, womit sie einen echten Mangel verursachen? Also gehe ich besser los und lege mir selbst einen Vorrat an. Ich muss noch nicht einmal glauben, dass einige das Gerücht ernst nehmen; es genügt die Annahme, dass manch andrer glaubt, es gebe Leute, die das Gerücht ernst nehmen - der Effekt ist letztlich derselbe: ein echter Mangel an Toilettenpapier in den Geschäften."

In der FR gräbt Michael Hesse ein Interview aus, dass der Forscher und Begründer der Gaia-Hypothese James Lovelock der FR kurz vor seinem Tod im vergangenen Sommer gab. "Ein Thema war dabei die globale Erwärmung und die Frage, ob die Menschheit diesen Prozess überhaupt noch aufhalten könne. 'Die globale Erwärmung schreitet ja nur deshalb so voran, weil wir darin gescheitert sind, die Verbrennung fossiler Energieträger zu stoppen', antwortete der britische Forscher. 'Nukleare Energie ist deutlich weniger gefährlich, als Kohlenstoff basierte Treibstoffe zu verbrennen. Wir müssen so schnell wie möglich mit Letzterem aufhören', lautete sein Appell. Und dass Deutschland aus der Atomenergie ausgestiegen sei, ist eindeutig ein Fehler gewesen'. Vorausgesetzt, dass wir Menschen die nötige Sensibilität entwickeln, sei es noch nicht zu spät, etwas gegen den Klimawandel zu unternehmen. Wenn wir die richtigen Maßnahmen ergreifen, werde der Planet in 30 Jahren noch genauso aussehen wie heute, glaubte er."
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Gesellschaft

Sehr offen spricht der Neuköllner Bürgermeister Martin Hikel (SPD) mit Markus Wehner von der FAZ über die Silvesterkrawalle in seinem Bezirk. Das Neue sei, dass Polizisten direkt in Hinterhalte gelockt worden seien. Wer es war, lässt sich nicht immer so leicht sagen: "Wenn Sie die Leute in den betroffenen Quartieren fragen, dann sagen sie: Unsere Jungs waren das nicht, die machen das nicht. Wenn Sie mit Polizisten sprechen, dann sagen die: Doch, manche Anwohner haben ja zum Teil die Türen offen gehalten, damit die Jungs fliehen konnten. Vielleicht sind auch einzelne Gewalttäter speziell nach Neukölln gekommen. Aber insgesamt kann man sagen: Hier im Neuköllner Norden waren das junge Männer mit Migrationsgeschichte. Die meisten haben wohl einen deutschen Pass. Die Mehrzahl dieser jungen Berlinerinnen und Berliner, wie ich sie unabhängig von ihrem Pass nennen möchte, lebt nicht in der ersten Generation hier, sondern in der zweiten, dritten oder vierten."

Auch im im sächsischen Borna war es übrigens zu Silvesterkrawallen gekommen. Da waren es die in der Gegend endemischen Nazis, die die Polizisten beschossen. Doris Akrap ärgert sich in der taz, das diese Krawalle viel weniger thematisiert werden: "Wegen 38 böllernder Spätpubertierender ängstigen sich deutsche Medien und Politik vor der Zertrümmerung unserer stabilen Demokratie. 200 böllernde Nazis, die ihren Sturm aufs Kapitol im Kleinen üben, sind dagegen noch heute eine Randnotiz."

Erst am 8. Januar korrigierte die Berliner Polizei ihre Aussage zu den Silvesterkrawallen: Aus "145 überwiegend ausländischen Böllertätern" wurden schließlich "38 überwiegend deutsche", schreibt Ronen Steinke in der SZ. Für Steinke ein Fall von "bewusst einseitiger" Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch die PR-Abteilung der Polizei: "Pressemitteilung, Schlagzeilen, politischer Punktgewinn. In der Welt der Public Relations, im Milieu der Spindoktoren, könnte man anerkennend nicken: Hier hat eine Polizei, die sich gerade im links regierten Berlin nicht immer ausreichend politisch geliebt sieht und die außerdem dauernd um Ressourcen kämpfen muss, eine 'kommunikative Chance' erkannt und sie kraftvoll ergriffen."

Der Soziologe Oliver Nachtwey bringt in der FAZ das linke Gegenargument zur "moralischen Panik" über Silvester. Es war gar nicht die (sonst immer verteidigte) andere "Kultur": "Die Krawalle haben mehr mit der Krise moderner Gesellschaften und ihrer (jungen) Männer zu tun als mit Migration. In Berliner Stadtteilen wie Mitte oder Charlottenburg, die ebenfalls einen hohen Bevölkerungsanteil mit Migrationsanteil aufweisen, wurden deutlich weniger Gewalttaten gemeldet. Aber in Bezirken wie Neukölln konzentrieren sich soziale Probleme: schwierige und beengte Wohnverhältnisse, Armut, Ausgrenzung, Stigmatisierung von Gruppen, kaputte Schulen."
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Kulturpolitik

Der Historiker und Kulturpolitiker Christoph Stölzl ist im Alter von 78 Jahren gestorben und in der SZ verabschiedet Gustav Seibt "eine historische Figur, mit deren Tod eine ganze Epoche ins Grab sinkt". Als Gründungsdirektor des Deutschen Historischen Museums im wiedervereinigten Berlin konnte der "elegante" und "grenzenlos gebildete" Stölzl mit historischen Einordnungen "als Salonlöwe wie mit Konfetti um sich werfen", erinnert Seibt: "Er war als Ausstellungsmacher eher ein Impresario und Theaterdirektor, der mit Knalleffekten und Kolophonium lieber hantierte als mit Bestandsverzeichnissen und geschichtsdidaktischen Strategien. (…) Als Politiker, erst für die FDP, später für die CDU, kam ihm seine Gabe zum historischen Assoziieren … störend in die Quere, so wenn er Berliner Wahlergebnisse mit Erdrutschsiegen der Dreißigerjahre verglich oder den Eintritt der Linkspartei in die Berliner Stadtregierung im Abgeordnetenhaus mit tonlosem Pathos als Machtergreifung des Kommunismus darstellte. Solchen Parallelen konnten nicht einmal seine eigenen Parteigenossen aus Reinickendorf oder Zehlendorf folgen, aus Mangel an historischer Bildung nämlich." Weitere Nachrufe unter anderem in Berliner Zeitung, Welt und Tagesspiegel.
Archiv: Kulturpolitik
Stichwörter: Stölzl, Christoph, FDP