9punkt - Die Debattenrundschau

Es wird weniger Parkplätze geben müssen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.01.2023. In der NZZ schildert Timothy Snyder, wie Putin mit seinem Krieg die russische Bevölkerung "reinigen" will. Ebenfalls in der NZZ beschreibt Grigori Judin das aktuelle Russland als ein faschistisches Regime. Die Menschenrechte sind nicht universell, sagt der britische Historiker Tom Holland in der FR. Die FAZ erzählt, wie innig deutsche Unis mit chinesischen Instituten zusammenarbeiten, dabei geht es auch schon mal um Überwachungstechnologien.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.01.2023 finden Sie hier

Europa

Putin betreibt eine "ehrgeizige Politik rassischer Umgestaltung", schreibt Timothy Snyder in einem von uns gestern übersehenen Gastkommentar in der NZZ: "Dabei ist nicht die völkermörderische Politik gemeint, mit der Russland militärisch gegen die Ukraine vorgeht (…), sondern die russische Eugenik als Versuch, durch den Kampf ein 'gesünderes' russisches 'Volk' heranzuziehen." Mit Kriegsausbruch habe bereits ein Großteil der russischen Intelligenzia und des Bürgertums Russland verlassen. "Aus Putins Sicht handelte es sich dabei um eine notwendige 'Selbstreinigung', bei der Russland Verräter (so seine eigene Formulierung) wie Insekten 'ausspucke'." Außerdem werden Inhaftierte in den Kampf zum Sterben geschickt, so Snyder weiter: "Eine weitere rassenpolitische Maßnahme gleicht dies mehr als aus. Es handelt sich um das systematische Aufgreifen von ukrainischen Frauen und Kindern sowie ihre Deportation in die Weiten Russlands. Aus den von Russland besetzten Gebieten wurden etwa drei Millionen Menschen deportiert, unter ihnen auffällig viele junge Frauen und Kinder. Mindestens 200.000 Frauen und bis zu 700.000 Kinder wurden mit Gewalt nach Russland verschleppt. (Zum Vergleich: Nazi-Deutschland deportierte während des gesamten Zweiten Weltkriegs rund 200.000 polnische Kinder zwecks Assimilierung.) Die Logik dahinter ist, dass die ukrainischen Frauen russische Männer heiraten müssen und die Kinder als Russen aufwachsen werden."

"Was wir jetzt in Russland haben, ist ein faschistisches Regime", sagt der russische Soziologe Grigori Judin im NZZ-Gespräch mit Markus Ziener, in dem er auch erläutert, weshalb es in der russischen Bevölkerung kaum Widerstand gibt. "Es gibt eine große Enttäuschung und Unzufriedenheit mit allem, was politisch ist. (…) Es gibt dafür mehrere Gründe. Einer davon hat mit dem Zustand der späten sowjetischen Gesellschaft zu tun, die stark fragmentiert war. Noch wichtiger aber ist das Trauma der neunziger Jahre, als ein absolut wilder neoliberaler Kapitalismus nach Russland kam. Der Staat gab die Parole aus: Wenn es euch schlechtgeht, dann kümmern wir uns nicht. Und wenn du schwach bist, wenn du zum Beispiel alt bist, dann ist es wahrscheinlich Zeit für dich, abzutreten. In Russland gab es keine Strukturen, um dieser brutalen Logik Einhalt zu gebieten. Das haben die Menschen verinnerlicht. Es ist kein Zufall, dass Putin aus den neunziger Jahren kommt. Er hat das beim russischen Volk gelernt." Dazu komme, dass die Russen erlebten, dass egal, was Putin tat, ihm vom Westen immer neue "lukrative Geschäfte" angeboten wurden.

Das deutsch-polnische Verhältnis ist "zerrüttet", schreibt Jacques Schuster in der Welt. Deutschland glaubte zu lang, dass  eine "enge Wirtschaftsbeziehung zu Russland und ein einträchtiges Verhältnis zu Polen" möglich sei, die polnische PiS-Partei nutzt indes das "Zerrbild des hässlichen Deutschen, um innenpolitisch voranzukommen. Längst übertreffen die Vorwürfe und Unterstellungen aus Warschau den Flohzirkus kleinlicher Feindseligkeiten, der in Europa sonst üblich ist. Brutal und hasserfüllt geht es auf Seiten der polnischen Regierung zu. Konsequent verschließt sie sich der Tatsache, dass aus dem Volk der Richter und Henker zwischen 1933 und 1945 eine durch und durch zivile, friedliche Gesellschaft geworden ist, die sich um Aussöhnung bemüht und mit ihrem Nachbarn verständigen will."
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Geschichte

Der überwältigende Einfluss für die Entstehung des Westens ging vom Christentum aus, sagt der britische Historiker Tom Holland, der ein Buch zum Thema geschrieben hat, im FR-Gespräch mit Michael Hesse: "Der Grund dafür ist der, dass der Westen in den vergangenen 200, 300 Jahren die größte hegemoniale zivilisatorische Kraft gewesen ist, das Christentum konnte so rund um die Welt exportiert werden. Vieles, was die Menschen im Westen als universell ansehen oder als menschliche Natur, sind in Wirklichkeit kulturelle Spannungsfelder, die durch spezifisch christliche Begriffe verbreitet wurden. Die Genialität des Abendlandes bestand darin, diese kulturell beschwerten Begriffen so einzurahmen, als hätten sie nichts zu tun mit dem kulturellen Aufstieg des Westens und damit des Christentums. Deshalb denke ich auch, dass der Rückzug der westlichen Politik, Ökonomie oder des Militärs einen Rückzug der kulturellen Macht darstellt, von Kategorien wie die Menschenrechte oder dem Begriff des Säkularen. Die Menschen im Westen denken immer, dass sie universal gültig wären, das sind sie aber nicht, wie es der Aufstieg der post-christlichen Welt nun demonstriert."
Archiv: Geschichte
Stichwörter: Westen, Christentum, Holland, Tom

Kulturpolitik

Während man sich in anderen Ländern immer häufiger Asche aufs Haupt streut, ist man in Großbritannien, der Kolonialmacht schlechthin, noch kaum geneigt, geraubtes Kulturgut zurückzugeben, notiert Gina Thomas in der FAZ. Das gilt zumal für die "Elgin Marbles", die ja eigentlich die Partehnon-Friese sind. Der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis soll zwar Sondierungsgespräche mit Granden des British Museum geführt haben. Der eigentliche Stein des Anstoßes sei aber "die Weigerung Griechenlands, den Besitzanspruch des Britischen Museums anzuerkennen. Mitsotakis, der kürzlich noch von einer 'Win-win'-Lösung sprach, hat in dieser Woche denn auch die Hoffnung seiner Landsleute auf eine baldige Rückkehr der Skulpturen gedämpft, als er sagte, dass eine Leihgabe nicht infrage komme, weil sie der Anerkennung des britischen Besitzanspruchs gleichkäme."

Wir stecken nicht zuletzt dank "überschießendem Regulierungswahn" und "immer absonderlicheren, kleinteiligeren, regional unterschiedlichen Baugesetzgebungen" in der größten Wohnungskrise seit dem Zweiten Weltkrieg, schreibt Gerhard Matzig in der SZ und denkt über Lösungen nach: "Die in Ungnade gefallenen, weil in der Nachkriegsära eilig und oft nicht sonderlich menschenfreundlich an den Stadträndern abgestellten Großsiedlungen wurden bald stigmatisiert und zum Tabu von Soziologie und Stadtentwicklung. Als hocheffiziente Typologie der Wohnraumentwicklung könnte man sie längst rehabilitieren. (…) Die postpandemische Stadt, die als Produkt der Digitalisierung zur Telepolis wird, kann zugleich die angestammten, allmählich verödeten Zentren für das Wohnen zurückerobern. Es wird weniger Parkplätze geben müssen, weniger Kaufhäuser, weniger Straßenraum, weniger Büroburgen. Unsere Städte müssen zugleich dichter besiedelte und grünere, menschenfreundlichere Städte sein."
Archiv: Kulturpolitik

Wissenschaft

Es gibt eine intensive Kooperation deutscher Universitäten und Forschungsinstitute mit chinesischen Stellen, berichtet der Wissenschaftsjournalist Hinnerk Feldwisch-Drentrup in der FAZ. Diese Kooperationen würden zwar verstärkt auf den Prüfstand gestellt, aber teilweise lässt sich der miltärische oder repressive Charakter der Forschung nicht verbergen, so Feldwisch-Drentrup, der sich auf einen gerade veröffentlichten Bericht des US-Sicherheitsexperten Jeff Stoff bezieht: "Stoffs Bericht führt auch 450 problematische Artikel zum Maschinellen Sehen an. Kürzlich wurde etwa ein Artikel von Bernt Schiele, Direktor des Max-Planck-Instituts (MPI) für Informatik, veröffentlicht, bei dem es um die Identifizierung von Personen über mehrere Kameras hinweg geht - diese Technik sei für Überwachungssysteme wichtig, etwa zur Verfolgung von Personen und der Analyse ihrer Aktivitäten, so die Studie. Seine Partner: Forscher einer Universität in Schanghai, von der laut Experten Cyberangriffe ausgehen, und des chinesischen Digitalkonzerns Alibaba, der in vielen Städten Chinas eingesetzte Überwachungssysteme entwickelt."
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Stichwörter: Cyberangriffe

Gesellschaft

Oskar Paul besucht für die taz die Neukölllner Gemeinschaftsschule Campus Efeuweg, einen sozialen Brennpunkt. Dass die Jugendlichen, die in der Gegend zu Silvester über die Stränge schlugen, oft Migrationshintergrund haben, leugnet er nicht. Er schildert, wie Schule und Polizei neue Formen der Zusammenarbeit suchen: "Gerade die Zusammenarbeit mit der Polizei scheint wichtig, denn viele Kinder haben schlechte Erfahrungen mit den Beamten gemacht. Jasmin erzählt von einem Video, das sie auf Tiktok gesehen hat, in dem ein Polizist zu einem Mann vor dessen Kindern sagt: 'Ihr seid nur zu Besuch in Deutschland.' Sie sagt: 'Würde das jemand zu meinem Vater sagen...' Das Mädchen mit dem schwarzen Kopftuch und der goldenen Brille, das akribisch die Redner:innenliste führt, wird richtig wütend, wenn sie davon erzählt. 'Die respektlosen Polizisten, die brauchen Schläge', sagt sie. Sie ist nicht die Einzige, die so spricht. Die Schüler:innen haben Respekt vor der Polizei, sie fordern aber auch Respekt ein."

Deutschland ist auf ausländische Fachkräfte angewiesen, aber die CDU will nach den Silvesterkrawallen lieber über gescheiterte Integration und unkontrollierte Migration sprechen, ärgert sich Naika Foroutan, Leiterin des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung in der SZ. Sie will künftig überhaupt keine Integrationsdebatten mehr führen: "Wer hat schon Lust, hier einzuwandern, die Sprache zu lernen oder Arbeiten zu verrichten, die niemand mag, wenn am Ende dann der Vorname ausreicht, um nicht dazuzugehören?"

"Bis heute werden Homosexuelle qua Richtlinie benachteiligt, wenn sie Blut spenden wollen", erinnert Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung : "Männer, die mit Männern Sex haben, werden für vier Monate gesperrt, wenn sie einen neuen Partner haben. Bei heterosexuellen Spendern gilt diese Sperre nur, wenn sie den Partner häufig wechseln. Bis 2021 galt nach Angaben der Deutschen Aidshilfe sogar, dass schwule Männer ein Jahr lang keinen Sex gehabt haben dürfen, bevor sie ihr Blut geben dürfen. Es gehe darum, 'das Übertragungsrisiko für durch Blut übertragbare schwere Infektionskrankheiten' zu reduzieren. Wer könnte leugnen, dass hier gruppenbezogene Ressentiments im Spiel sind?"
Archiv: Gesellschaft