9punkt - Die Debattenrundschau

Die Kategorie "Frau", die vom Wegfall bedroht ist

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.01.2023. Es ist Deutschlands historische Verantwortung, Waffen an die Ukraine zu liefern, schreibt Timothy Garton Ash im Tagesspiegel. In der NZZ fragt Mario Vargas Llosa: Wann werden die Länder Lateinamerikas endlich aufhören, den Weg Kubas zu gehen? Warum offenbart sich der eine Gott nicht, zumal er allmächtig ist, fragt hpd.de. "Nichts als Leere" wird Putin hinterlassen, fürchtet Leonid Gozman in einer Nowaja-Gaseta-Beilage der taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.01.2023 finden Sie hier

Europa

Leonid Gozman sieht Putins Krieg in einer Nowaja-Gaseta-Beilage der taz als einen Akt der Selbstzerstörung. "Das Land ist verschwunden. Und nicht nur das: Alles, was wir seit Ende der achtziger Jahre aufgebaut haben, ist zerstört worden. Es gibt keine russische Kultur. Ja, die Opernsaison der Mailänder Scala wurde mit Modest Mussorgsky eröffnet und Anton Tschechow wird an allen Theatern der Welt inszeniert. Aber wenn es früher hinter diesen Namen etwas gab, was man große russische Kultur nannte, so stehen Alexander Puschkin oder Pjotr Tschaikowsky heute für sich allein da, ohne Bezug zu einem kulturellen Kontext. Sie sind da, doch hinter ihnen gähnt nichts als Leere."

Mit Blick auf die Panzerlieferungen an die Ukraine, zu denen sich Olaf Scholz bis jetzt noch nicht klar positioniert hat, erinnert Timothy Garton Ash im Tagesspiegel (hinter einer Paywall) die Deutschen nochmal an ihre "historische Verantwortung": "Vor achtzig Jahren führte Nazi-Deutschland einen Terrorkrieg auf eben diesem ukrainischen Boden: Dieselben Städte, Dörfer und Gemeinden, die heute von Russland angegriffen werden,  waren dessen Opfer. (…) Kein historischer Vergleich ist exakt, aber Putins Versuch, die unabhängige Existenz eines Nachbarlandes zu zerstören, mit Kriegsverbrechen, völkermordartigen Aktionen und unerbittlichen Angriffen auf die Zivilbevölkerung, kommt dem, was Adolf Hitler im Zweiten Weltkrieg getan hat, am nächsten. (…) Es ist dabei erwähnenswert, dass Deutschland über eine beeindruckende Rüstungsindustrie verfügt, die sehr profitabel tödliche Ausrüstung an einige recht zweifelhafte Regime in der ganzen Welt exportiert hat. Sollte man sie also nicht jetzt zur Verteidigung einer europäischen Demokratie gegen den neuen Hitler einsetzen?"

In der SZ bemüht auch Sonja Zekri die deutsche Geschichte, aber um zu erklären, weshalb die Deutschen Vorbehalte haben. Es liegt an den "Gespenstern der militaristischen Vergangenheit", schreibt sie: "Keines der Ziele, für die deutsche Soldaten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gestorben waren, erwies sich später als moralisch haltbar. Deutschland war in diesen Kriegen schuldig geworden, war aller Verteidigungsrhetorik der Propagandisten zum Trotz Täter gewesen, nicht Opfer. Das war nicht immer so. Die kollektive Erfahrung von Schuld und Scham war so tief und so prägend und wurde mit zeitlichem Abstand eher noch tiefer und prägender, dass für viele Deutsche ein 'guter Krieg', der es wert sein könnte, gekämpft und gewonnen zu werden, nicht mehr denkbar war. (…) Die historische Erfahrung der Ukraine könnte sich davon nicht fundamentaler unterscheiden. Zu ihren prägenden Zügen gehört das Ringen um die Entfaltung der eigenen Kultur, der eigenen Sprache, einer eigenen Identität, vielfach unterdrückt und bekämpft durch wechselnde Reiche."

"Aus Scholzens Perspektive steckt Deutschland in einem Dilemma", meint Stefan Kornelius ebenfalls in der SZ: "Dem Land kommt als europäischer Führungsnation eine Schlüsselrolle zu - bewegt sich Berlin, folgen alle anderen nach. Exponiert sich die Bundesregierung aber zu sehr, könnte sie eine unkontrollierbare Reaktion Russlands provozieren. Politisch betrachtet ist für Wladimir Putin kaum ein Ziel lohnender: Ließe sich Deutschland herauslösen aus der Phalanx der Unterstützer, dann wäre es leichter angreifbar - politisch, vielleicht sogar mit einem Akt der Gewalt. Wer in Provokationsszenarien denkt, dem fällt sofort die Pipelinesprengung in der Ostsee ein; Trollangriffe könnten wieder merklich zunehmen; oder eine deutsche Patriot-Lieferung würde an der polnischen Grenze zur Ukraine beschossen."
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Politik

Nach dem gescheiterten Putschversuch von Perus Ex-Präsident Pedro Castillo und den sich anschließenden Randalen von linken und linksextremen Gruppen scheint etwas Ruhe in Peru einzukehren, hofft der Schriftsteller Mario Vargas Llosa in der NZZ. Aber nach wie vor läuft es nicht gut in Lateinamerika, hält er fest: "Statt sich für vernünftige Rezepte zu entscheiden - Investitionen fördern, mithilfe der internationalen Gemeinschaft die gewaltigen nationalen Missstände angehen -, scheint Lateinamerika unbedingt dem Beispiel Kubas und Venezuelas folgen zu wollen. Man muss sich nur anschauen, wie viele Menschen aus diesen beiden Ländern auf der Suche nach Arbeit und einer Zukunft ohne Armut ins Ausland fliehen - vor allem in die USA, aber auch in die Länder Lateinamerikas -, um zu erkennen, dass sie keine guten Perspektiven versprechen. Wir sind genug schlechten Beispielen gefolgt, die dazu führen, nicht nur die Situation der Armen zu verschlimmern, sondern auch die der Mittelklasse, die offenbar in den Ruin getrieben werden und in Armut und Arbeitslosigkeit versinken soll."
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Gesellschaft

Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat sich für den Radikalenerlass entschuldigt, mit dem vor gut fünfzig Jahren Anwärter auf den Öffentlichen Dienst belästigt wurden, berichtet Benno Stieber in der taz. Bei näherer Betrachtung erweist sich, wie unsinnig die ganze Idee war: "Baden-Württemberg hatte die Regelüberprüfung der Verfassungstreue unter dem sinnigen Namen 'Schieß-Erlass' besonders lange und besonders konsequent angewandt: Zwischen 1973 und 1990 waren allein im Südwesten 700.000 Anwärter für den öffentlichen Dienst überprüft worden. Die Ergebnisse waren im Vergleich zum Aufwand dürftig. 200 Bewerber wurden nach der Überprüfung abgelehnt, 60 aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Es hatte überhaupt nur in 0,3 Prozent der Anfragen irgendwelche Erkenntnisse gegeben. Kretschmann resümiert: 'Eine ganze Generation wurde unter Verdacht gestellt. Das war falsch.'"

Seit den Nürnberger Prozessen gilt: "Vergehen, die von Regierungen begangen wurden und zum Zeitpunkt der Tat legal waren, lassen sich im Nachhinein trotzdem juristisch verfolgen". Ließe sich das nicht auch auf den menschengemachten Klimawandel übertragen, fragt Felix Stephan in der SZ, etwa dann, wenn man einen Verantwortlichen ausmachen könnte? Beispielsweise den Konzern Exxon Mobil: Hier "verdichten sich tatsächlich die Hinweise, dass die Firma wissenschaftliche Erkenntnisse aus Profitinteresse systematisch vertuscht hat: 2015 haben investigative Journalisten herausgefunden, dass Exxon Mobil spätestens in den Siebzigern über den menschengemachten Klimawandel im Bilde war. Hauseigene Wissenschaftler warnten die Führungsetage schon 1977 vor den 'potenziell katastrophalen' Folgen des menschengemachten Klimawandels. (…) Trotzdem hat der Konzern über Jahrzehnte vorsätzlich und wider besseres Wissen Milliarden aufgewendet, um Zweifel an wissenschaftlichen Erkenntnissen zu sähen, die einen Zusammenhang zwischen der Nutzung fossiler Energien und der Erderwärmung herstellten."

Im FR-Gespräch mit Michael Hesse beklagt die Philosophin Svenja Flaßpoehler die derzeitige Debattenkultur in Deutschland: "Die Debattenkultur ist extrem gereizt. Gleichzeitig gibt es eine zunehmende Feigheit. Anstatt zu differenzieren und offen über heikle Themen nachzudenken, redet man lieber so, dass man sich bloß nicht angreifbar macht. In dieser Hinsicht kann uns Sokrates wirklich ein Vorbild sein. Er war ein Skeptiker, der mutig Mehrheitsmeinungen und vermeintliche Gewissheiten hinterfragt und jeglicher Art von Dogma eine Absage erteilt hat. Stattdessen war er ein Meister des dialektischen Denkens, er hat sich für die andere Seite interessiert, die, die im Dunkeln liegt und von den meisten übersehen wird."

In Berlin diskutierten die Grünen-Abgeordnete Tessa Ganserer und der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker über das geplante Selbstbestimmungsgesetz. Zwei Aktivistengenerationen trafen da auch zusammen, denn Dannecker ist ein Veteran der Schwulenbewegung, schreibt Jakob Hayner in einem Resümee für die Welt. Die Diskussion zeigte sehr deutlich, dass der Streit längst nicht ausgestanden ist, während die Ampel mit dem Gesetz Fakten schafft, so Hayner: "Ist es verräterisch, dass beide dabei nur von der Kategorie 'Frau' sprechen, die vom Wegfall bedroht ist? Was dem Abend nicht wirklich gelingen mag, wäre nun nötig: die gesellschaftspolitische Debatte über Vorannahmen und Folgen eines von der Regierung angestrebten Selbstbestimmungsgesetzes offen zu führen. Es ist, anders als die Politikerin Ganserer denkt, nicht schon alles gesagt."
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Medien

Erst jüngst hat tagesschau.de der Havarie von Fukushima 18.500 Tote zugeschrieben (unser Resümee). Es waren allenfalls drei oder vier - die eigentliche Katastrophe mit vielen Toten war der Tsunami, der auch Fukushima betroffen hatte. Aber die Fehlmeldung hat in Deutschland bereits Tradition, schreibt Stefan Niggemeier bei den Übermedien: "Zum fünften Jahrestag der Katastrophe 2016 gab es einen ganzen, nun ja: Tsunami an falschen Berichten. Während in Japan der Opfer des Erdbebens gedacht wurde, wurde daraus in der Berichterstattung in Deutschland ein Gedenken der Opfer von Fukushima oder konkret sogar der Atomkatastrophe. Unter anderem der NDR, die Süddeutsche Zeitung und die Augsburger Allgemeine schrieben ihr die 18.000 Todesopfer zu. In anderen Medien wurden die Opfer von Tsunami und Reaktorkatastrophe mindestens missverständlich, wenn nicht irreführend zusammengefasst. Das hatte damals auch die schwarz-rote Bundesregierung in den Sozialen Medien getan."
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Religion

Warum offenbart sich der eine Gott nicht, zumal er allmächtig ist, fragt Hugo Stamm in hpd.de: "Wenn es den einen wahren Gott oder die wahren Götter einer Religion gibt, wie die große Mehrheit der Menschen glaubt, wäre es ein Segen, wenn er die Ungewissheit ein für alle Mal beseitigte. Man denke nur an die freigesetzten Energien und Ressourcen, die sinnvoller eingesetzt werden könnten. Jede der Zehntausenden Glaubensgemeinschaften und Sekten baut eigene Gotteshäuser, Tempel oder Versammlungsräume. Jede braucht eine Infrastruktur, die immense Summen verschlingt. Vieles davon wäre überflüssig, wenn die Gottesfrage ein für alle Mal geklärt wäre."
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Stichwörter: Religion, Sekten

Kulturmarkt

Der C.H. Beck Verlag hat sich nach Kritik von Hans-Georg Maaßen getrennt, der an einem Grundgesetzkommentar des Hauses mitgearbeitet hat. Für Benedict Neff "ein Lehrbeispiel, wie Menschen mit unangepassten Meinungen aus dem Verkehr gezogen werden. Die medialen Mechanismen sind perfid", schrieb er gestern in der NZZ. In der Welt sieht das Mladen Gladic anders: Das Fass zum Überlaufen brachte ein Tweet vom 13. Januar, in dem Maaßen schrieb: "Die treibenden Kräfte im politischen-medialen Raum" hätten einen "eliminatorischen Rassismus gegen Weiße" im Sinne. Gladic hätte sich vom Verlag allerdings ein deutlicheres Statement gewünscht: "Gerade in einem Fall wie dem Maaßens wären klarere Gründe und Belege zu nennen, warum er untragbar ist. Dass es sie gibt, steht außer Frage, genauso wie es außer Frage steht, dass sich ein Verlag nicht in der Position sehen will, mit seinem guten Namen politisch fragwürdige Positionen, werden sie auch außerhalb des Verlagsprogramms getätigt, zu adeln. Schon stehen nämlich diejenigen in den sozialen Medien Schlange, die insinuieren, C.H. Beck sei eingeknickt, hätte sich von politisch interessierten Kampagnen abhängig gemacht. Die Rede von 'Druck' auf den Verlag aber verkennt, dass eine demokratische Öffentlichkeit davon lebt, mit Argumenten für die eigenen Überzeugungen einzustehen."
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