9punkt - Die Debattenrundschau

Er sucht sie wie im Wahn

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.01.2023. In der SZ erklärt Moskaus Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt, warum er die Juden aufruft, Russland zu verlassen. Die NZZ kann auf keinen Putsch im Kreml mehr hoffen. Die FAS erzählt, wie nach der Verhaftung von Mafiaboss Matteo Messina Denaro über Sizilien ein Kübel Eiswürfel ausgeschüttet wurde. Die FAZ beobachtet, wie eisern im Westen Frankreichs der alte Kulturkampf um religiöse Symbole geführt wird. Und in der taz opponiert die Restitution Study Group dagegen, die einstigen Profiteure des Sklavenhandels mit der Rückgabe der Benin-Bronzen zu belohnen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.01.2023 finden Sie hier

Europa

Im SZ-Interview mit Moritz Baumsteiger erklärt Moskaus geflohener Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt, warum er Russlands Juden dazu aufruft, ebenfalls das Land zu verlassen: "wir sehen, dass offizielle, hohe Regierungsbeamte wieder vermehrt antisemitisches Vokabular und antisemitische Losungen benutzen... Außenminister Sergej Lawrow verglich jüngst die Unterstützung der westlichen Regierungen für die Ukraine mit Hitlers Endlösung, die zur Ermordung von sechs Millionen Juden während der Shoah führte. Eine völlige Entgleisung und Verkehrung der Tatsachen. Marija Sacharowa, seine Sprecherin, redet davon, dass Selenskij gar kein Ukrainer sei, sondern zu einer ganz anderen Kultur gehöre. Das spielt natürlich auf seine Religion an, im Englischen nennt man das dogwhistling - eine codierte Botschaft, die in diesem Fall darauf abzielt, dass Selenskij als Jude anderen Loyalitäten folgt. Dazu kommt die Rhetorik vom Kampf Russlands gegen ein angebliches faschistisches Regime in Kiew unter Selenskijs Führung: Dass Juden die wahren Nazis sind, ist ein weiterer, wenn auch modernerer antisemitischer Klassiker."

In der SZ findet Daniel Brössler in der Debatte um Panzerlieferungen grundsätzlich richtig, eine Eskalation des Krieges zu vermeiden, aber eine solche Gefahr sei für die Nato doch stark gesunken: "Dabei dürfen elf Monate der Erfahrung mit Wladimir Putin und dessen Kriegsverbrecher-Clique allerdings nicht ausgeblendet werden. Natürlich ist Putin zur Eskalation bereit, er sucht sie wie im Wahn. Opfer dieser Eskalation aber sind die Ukrainer. Der von Putin entfesselte Terror gegen die Zivilbevölkerung zeugt davon. Während die westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine quantitativ und qualitativ immer wieder neue Ebenen erreicht haben, veranlasste keine davon den Kremlchef dazu, ein Nato-Land und damit das ganze Bündnis anzugreifen. Putin missachtet das Völkerrecht. Was er respektiert, ist das Recht des Stärkeren."

Mit Wladimir Putin wird es keinen Frieden geben, ist sich Andreas Rüesch in der NZZ sicher, Verhandlungen mit Moskau sind daher völlig unrealistisch: "Solange der frühere KGB-Agent im Kreml waltet, wird es keinen echten Frieden in Europa geben. Einem Nachfolger, selbst jemandem aus der zweiten Reihe des Regimes, fiele der Weg aus der Sackgasse viel leichter. Doch auf einen Putsch im Kreml kann der Westen nicht zählen. Auf absehbare Zeit bleibt nichts anderes übrig, als die Ukraine in ihrem Überlebenskampf militärisch und finanziell zu unterstützen."

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Karen Krüger ruft in der FAS noch einmal die Euphorie auf, mit der in Italien die Verhaftung des Mafiaboss Matteo Messina Denaro aufgenommen wurde, der nach der Ermordung von Giovanni Falcone zum Kronprinz von Toto Riina und dann zum Capo dei Capi aufgestiegen war. Offenbar hielt er sich die ganzen letzten dreißig Jahre in Sizilien auf. Doch die Begeisterung verflog sehr schnell: "Keine 48 Stunden später machte im Internet ein weiteres Video die Runde. Es zeigte ein Interview mit Salvatore Baiardo, einem ehemaligen Eisverkäufer und früheren geständigen Mafia-Mitglied. Denaro sei 'sehr krank', sagt Baiardo. Möglicherweise nehme er bald Verhandlungen auf, um sich selbst auszuliefern; möglicherweise stehe eine sensationelle Verhaftung bevor. Im November, als das Interview im Rahmen der Fernsehsendung 'Geister der Mafia' ausgestrahlt wurde, war es kaum beachtet worden. Jetzt wirkte es wie ein über dem Kopf ausgeschütteter Kübel Eiswürfel. Die Ernüchterung war total."
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Religion

Mit Inbrunst wird in Frankreich stets der Streit um religiöse Symbole geführt. Gerade wieder haben die kompromisslosen Freidenker von La Libre Pensée vor Gericht erstritten, dass auf der Île de Ré eine Marienstatue aus der Öffentlichkeit entfernt werden muss, berichtet Niklas Bender in der FAZ, und in Les Sables d'Olonne in der erzkatholischen Vendée muss eine Statue von Erzengel Michael abgebaut werden: "Die Fälle gleichen sich in vieler Hinsicht: Lokalpolitiker errichten ein religiöses Symbol, örtliche Sektionen der Fédération de la Libre Pensée wenden sich an die Justiz. La Libre Pensée ist selbst eine traditionsreiche Vereinigung, die Wurzeln reichen ins 19. Jahrhundert zurück. 'Für sie sind die Religionen die schlimmsten Hindernisse einer Emanzipation des Denkens', heißt es in ihrer Grundsatzerklärung - das Pochen auf Laizität ist also militant. Das verrät auch das Motto der Freidenker: 'Ni dieu, ni maître, à bas la calotte et Vive la Sociale!' (Weder Gott noch Meister, nieder mit dem Scheitelkäppchen und Es lebe der soziale Fortschritt!), das auf den antiklerikalen Bildungspolitiker Paul Bert (1833 bis 1886) zurückgeht. Gleiche Konstellationen: Die Verteidiger einer harten Laizität, die das Trennungsgebot strikt anwenden wollen, stehen gläubigen oder traditionalistischen Franzosen gegenüber, welche die christlichen Wurzeln der 'ältesten Tochter der Kirche' betonen. Dazwischen treten schüchtern Vertreter einer weichen Laizität, die, je nach Wunsch der lokalen Bevölkerung, religiöse Symbole akzeptieren wollen."
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Gesellschaft

Christian Gampert streift in der FAZ durch Tel Aviv, in dem von Jahr zu Jahr mehr Hochhäuser aus dem Boden schießen, besucht Fotografen und Tanzkompanien und erkennt die große Bredouille, die manche in den Zynismus flüchten lässt : "Die meisten Israelis sind der ständigen militärischen Auseinandersetzungen mit den Palästinensern müde und sehen von deren Seite keinerlei Angebote. Zwar würde eine Mehrheit der Wähler die Besatzungspolitik gerne aufgeben; die Voraussetzung dafür wäre aber eine Anerkennung des Staates Israel durch die palästinensischen Organisationen. Die ist nicht in Sicht. So ergibt sich politisch die absurde Situation, dass ein großer Teil der Israelis links denkt, aber rechts wählt - weil die Sicherheit des Landes an erster Stelle steht. Dass man damit unfreiwillig Netanjahus Siedlungspolitik unterstützt, ist vielen eher unangenehm."
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Kulturpolitik

In der Debatte um die Benin-Bronzen bringt taz-ler Fabian Lehmann nun die Nachfahren afrikanischer Sklaven ins Spiel. Die in New York ansässige Restitution Study Group opponiert dagegen, ausgerechnet die Profiteure des Sklavenhandels zu restituieren, die Könige von Benin, anstatt ihre Opfer: "Denn ein Ausgangsmaterial für die Bronzegüsse waren aus Kupfer, Bronze oder Messing hergestellte Armreifen, sogenannte Manillas. Der Hof von Benin hatte die Manillas von europäischen Händler:innen erhalten, im Tausch gegen versklavte Afrikaner:innen, mit dem das Benin-Reich die Sklavenroute über den Atlantik fütterte. 'Portugiesische, britische, niederländische, amerikanische Händler:innen - so ziemlich alle, die im Sklavenhandel mit dem Königreich Benin involviert waren, bezahlten sie mit den Manillas. Wir nennen sie deshalb Blut-Metall', so Farmer-Paellmann im Gespräch mit der taz. Die Benin-Kunst nun an die Erben der Sklavenhändler:innen zurückzugeben sei geschichtsvergessen, sagt die Aktivistin."
Archiv: Kulturpolitik