9punkt - Die Debattenrundschau

Mit drinstecken im Konflikt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.01.2023. Kann es sein, dass Olaf Scholz, der wochenlang wegen seines Zögerns geschmäht wurde, sich nun mit der Leopard-Entscheidung als gewiefter Taktiker erwies? Die Medien sind jedenfalls froh, dass die Amerikaner durch ihre Zusage von Panzerlieferungen mit an Bord sind. Syrien ist vergessen:  Der Schriftsteller Khaled Khalifa schildert in der NZZ das düstere Leben in Aleppo. Chat GPT tendiert nach rechts, fürchtet die taz, nach links, fürchtet die FAZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.01.2023 finden Sie hier

Europa

Kann es sein, dass Olaf Scholz, der wochenlang wegen seines Zögerns geschmäht wurde, sich nun mit der Leopard-Entscheidung als gewiefter Taktiker erwies? Liest man die gründliche Analyse von Peter Dausend, Tina Hildebrandt und Jörg Lau in der Zeit, dann ist eben dies der Fall, und Scholz hat genau das geschafft, was er wollte: die Amerikaner mit ins Boot zu holen und das Risiko für Deutschland zu minimieren: "Nur im 'Geleitzug der Verbündeten' werde man weitere Schritte tun, sagte Scholz. Und meinte: nur zusammen mit den Amerikanern. Wobei zusammen heißt: Der große Verbündete soll nicht nur sagen, dass er hinter dem steht, was Europa tut, er soll mit drinstecken im Konflikt und im schlimmsten Fall auch in einer militärischen Eskalation."

Ähnlich sieht es Berthold Kohler in der FAZ. "Nicht ohne die USA: Der Gleichschritt mit Washington hat für Berlin größere Bedeutung als für Paris und London, weil Deutschland in der Konfrontation mit einer Macht, die unverhohlen mit dem Einsatz von Atomwaffen droht, auf den amerikanischen Schutzschirm angewiesen ist."

Die SZ titelt mit "Historische Entscheidung". Aber Stefan Kornelius sieht Scholz' Agieren im Leitartikel der SZ wesentlich kritischer: "Wäre der Bündnisschutz etwa plötzlich entfallen, wenn Deutschland mit vielen anderen europäischen Staaten schwere Kampfpanzer schickt, und die USA nicht? Überhaupt trägt die Unterstützung der Ukraine längst einen starken Allianzcharakter: Es sind doch alle Nato-Staaten involviert, die USA und Großbritannien haben in Analyse und Aufklärung die Führung. Deutschland aber ist qua Größe und wirtschaftlicher Leistungskraft Europas Primus inter Pares."

Auch im Feuilleton der SZ wird über Scholz' Entscheidung nachgedacht. Nele Pollatschek schreibt über sein berühmtes Zaudern: "Vielleicht kommuniziert Scholz gar nicht schlecht, sondern hat einen Weg gefunden, für die deutsche Nachkriegsgeschichte beispiellose militärische Entscheidungen zu treffen, ohne von jenen schroff abgestraft zu werden, die diese Entscheidungen ablehnen."

In einem zweiten Zeit-Artikel sieht Alice Bota immer noch ein Defizit: "Obwohl beide - Deutschland und die USA - nun bereit sind, schwere Panzer zu liefern, nach einigem Zögern, gibt es einen Unterschied: Die Amerikaner bekennen sich klar zu einem Sieg der Ukrainer, Scholz bekennt sich zu einer Niederlage Russlands. Der Unterschied scheint klein, markiert aber verschiedene Grade des Vertrauens in die Ukraine - wie auch verschiedene Grade der Furcht vor einer russischen Eskalation. Die Leopard-Lieferung ist ein starkes Zeichen und ein wichtiges - aber kein Bekenntnis."

Ein Gutes hat die Sache aber, findet Tobias Schulze in der taz: "Lange wird sich die Waffendebatte in dieser symbolisch aufgeladenen Form nicht mehr fortsetzen. Nachdem die Panzer durch sind, könnte es zwar mit den Kampfjets weitergehen. Hier wird Deutschland aber nicht so sehr im Fokus stehen." Mit der Entscheidung ist der "westliche Strategiewechsel" jedenfalls perfekt, meint Dominic Johnson ebenfalls in der taz: "Nach knapp einem Jahr Krieg soll die Ukraine nicht mehr nur russische Angriffe abwehren können, sondern selbst in die Offensive gehen, besetzte Territorien befreien." Auch Pascal Beucker begrüßt die Entscheidung im großen Debattenartikel der taz.


=====================

Roberto Saviano kommentiert in der Zeit die Festnahme des palermitanischen Mafiabosses Matteo Messina Denaro mit einiger Skepsis. Denaro stehe in seiner frühen Phase für die Brutalität der Mafia und in seiner späteren für eine Mafia, die Geschäfte macht und Geld wäscht, ohne viel Aufsehen zu erregen - und diese Mafia ist für Saviano eher noch gefährlicher: "Die heutige Cosa Nostra ist kein Anti-Staat mehr, sondern vielmehr ein Teil von ihm, sie ist in alle Bereiche des täglichen Lebens eingedrungen, sie beherrscht das Bauwesen ebenso wie die Krankenhäuser. Man muss sich nur eine Figur wie Michele Aiello vor Augen halten: hoher Manager im Gesundheitswesen, Besitzer einer der besten Privatkliniken im Mittelmeerraum - und Strohmann des Clan-Chefs Bernardo Provenzano. Die heutige Mafia ist darauf konzentriert, die Geldflüsse von Parteien und Politikern zu steuern, sie sieht zu, die Männer und Frauen auf den Staatsposten und in der Bürokratie unter ihre Kontrolle zu bringen, sie schleust ihre Vertreter ein an allen Stellen, wo über Posten und Geld entschieden wird."

Der Bundestag ist nicht zu groß. Die Debatte um das aufgeblähte Parlament enthält antiparlamentarische Reflexe, findet Jasper von Altenbockum in der FAZ: "Die Wahlrechtsdebatte hinterlässt den fatalen Eindruck, Ansehen und Legitimation des Bundestags hingen von seiner Größe ab. Überhangmandate sollen abgeschafft werden, indem Wahlkreisgewinner mit relativ schwachem Ergebnis nicht zum Zuge kommen. Wähler müssen also akzeptieren, dass ihr Kandidat nicht in den Bundestag kommt, obwohl er eine Wahl gewonnen hat. Wie will man das einem Wähler erklären?"

Tayyip Erdogan bereitet sich mit Manipulationen auf die Wahlen im Mai vor (die eigentlich für Juni angesetzt waren), und dennoch schwankt seine Gefolgschaft in einem Kontext rasender Inflation, notiert Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne: "Wer sich dem von Erdogan verursachten wirtschaftlichen und sozialen Ruin entziehen will, wählt eine der beiden verbliebenen Alternativen, Antidepressiva oder Ausland. Laut jüngst veröffentlichten Zahlen verbrauchten die 85 Millionen Einwohner unseres Landes innerhalb eines Jahres 60 Millionen Schachteln Antidepressiva. Und den Zahlen der EU zufolge stieg die Anzahl der Asylsuchenden aus der Türkei binnen Jahresfrist um 46,5 Prozent auf 924.000."
Archiv: Europa

Geschichte

Vor hundert Jahren beschloss die internationale Diplomatie einen Austausch von türkischen Griechen und griechischen Muslimen, die zu Hunderttausenden ihrer jahrhundertelangen Heimaten entrissen wurden. Es war der Auftakt für eine fatale Serie ethnischer Säuberungen im ganzen 20. Jahrhundert. "Die Diplomaten von Lausanne glaubten, sie hätten mit ihrem Vertrag eine Lösung gefunden, die den Frieden sichert", schreibt der Historiker Andreas Kossert in der Zeit. "Die ethnische Homogenität, von der sie träumten, aber war ein gefährliches Konstrukt. Es ignorierte gewachsene regionale Identitäten und Selbstzuschreibungen, die gerade in den historischen Grenzregionen Europas und Kleinasiens komplex waren. Die vermeintliche Befriedung eines Konflikts durch einen 'Bevölkerungsaustausch' etablierte damit endgültig den fatalen Gedanken, dass ethnisch gemischte Regionen per se ein Problem darstellten."
Archiv: Geschichte

Politik

Syrien haben wir ja quasi vergessen. Der syrische Schriftsteller Khaled Khalifa schildert im Gespräch mit Ueli Bernays von der NZZ die Situation in Aleppo: "Es ist so schlimm, dass sich einige sogar fragen: War es nicht noch etwas besser während des Krieges? Es gibt zu wenig zu essen. Es mangelt an Benzin und Öl, dabei ist es sehr kalt. Es gibt auch kaum Elektrizität; in den Städten gibt es nur alle fünf, sechs Stunden etwas Strom. Ausßrdem herrscht Inflation. Die meisten Syrer sind abhängig von dem Geld, das ihnen exilierte Verwandte zukommen lassen."

Alexander Gogun nennt in der taz den "Grund für die Ruhe" um Syrien: "Der russische Präsident Putin, der sein Militär 2015 nach Syrien schickte und es bis heute nicht vollständig abgezogen hat, hat seine wichtigsten Ziele erreicht. Das Assad-Regime hat mit russischer Unterstützung weite Teile des Landes wieder unter seine Kontrolle gebracht. Moskau konnte also den Schwerpunkt seiner militärischen Aktivitäten in die Ukraine verlegen."
Archiv: Politik

Internet

Der Internetkritiker Adrian Lobe schlägt in der taz Alarm. KI-Programme wie Chat GPT, die von immer mehr Menschen genutzt werden, um scheinbar versierte Texte zu erstellen, schöpfen ihre Formulierungsvorschläge aus Texten, die im Internet vorliegen und reproduzierten damit Stereotypen: "So haben Forscher der Entwicklerorganisation Open AI in einer Studie herausgefunden, dass GPT-3 weibliche Pronomina mit tendenziell sexistischen Adjektiven wie 'naughty' (unanständig, verrucht) und 'gorgeous' (wunderschön) verknüpft, während Männern eher geschlechtsneutrale Eigenschaften wie 'sympathisch' oder 'groß' zugeschrieben werden." Und dann ist da noch die Gefahr des Eurozentrismus: "Die westliche Kultur fängt jedoch gerade erst an, die vielstimmige afrikanische Literatur zu hören - die Vergabe des Literaturnobelpreises 2021 an den tansanischen Schriftsteller Abdulrazak Gurnah liefert davon Zeugnis. Wie also lässt sich mehr Diversität herstellen?"

Auch der Medienrechtler Rolf Schwartmann fürchtet in der FAZ, dass die Datenbasis von Chat GPT politische Schlagseite haben könnte: "Welche Partei würde ChatGPT wählen? Das lässt sich feststellen, indem man die Wahl-O-Mat-Fragen, mit denen jeder seine potenzielle Wahlentscheidung auf Basis von Wahlprogrammen ermitteln kann, dem Bot stellt. Das im Netz geteilte Ergebnis ergab eine Präferenz von jeweils gut 76 Prozent für Grüne und Linke, 73 für SPD, 56 für FDP, 48 für CDU/CSU und 31 für AfD. Die Auswertung der Datenbasis, auf die der Bot zugreift, bildet offenkundig nicht die Realität ab. Sie erzeugt einen Zerrspiegel zugunsten des linken Parteienspektrums." Wie das Programm zugleich mit 76 Prozent für Grüne und Linke, 73 für SPD votieren kann, erklärt der Professor nicht.
Archiv: Internet

Gesellschaft

Betroffenenverbände fordern, dass das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) schärfer formuliert wird, berichtet Oskar Paul in der taz. Hundert Verbände haben der  Bundesbeauftragten für Antidiskriminierung, Ferda Ataman einen Forderungskatalog übergeben. "Für sie sei die Stellungnahme 'ganz wichtig', weil diese aus der Zivilgesellschaft komme, sagte Ataman. 'Das kann nicht unerhört bleiben.'" Es geht um Diskriminierung am Arbeitsplatz. Frauen, die das Gefühl haben, sie seien wegen ihres Kopftuchs nicht eingestellt werden, und andere Diskriminierte sollen nicht zwei Monate, sondern ein ganzes Jahr lang dagegen klagen dürfen. Und "bisher deckt das AGG sechs Kategorien ab: Ethnie, Geschlecht, Religion, Behinderung, Alter und sexuelle Identität. Das Bündnis sieht hier Lücken. So würden etwa viele Menschen wegen ihres Körpergewichts diskriminiert, was das AGG bisher ausblende."
Archiv: Gesellschaft

Medien

Bertelsmann will Gruner + Jahr bekanntlich komplett abwickeln. Nur der Stern soll eine Marke von RTL werden. Die Mitarbeiter von Zeitschriften wie Brigitte, Gala, Barbara, Guidos Deko Queen, Beef, Schöner Wohnen, Art und Geo haben gestern protestiert, berichtet etwa Anna Ernst in der SZ. Es sieht aber so als, als gäbe es Interessenten für die Titel oder einige von ihnen: "Der Ausverkauf, so wird gehofft, könnte noch im ersten Quartal über die Bühne gehen." In der taz berichtet René Martens.
Archiv: Medien