9punkt - Die Debattenrundschau

Konflikte, die überhaupt nicht zu lösen sind

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.01.2023. Heute ist Auschwitz-Gedenktag. Die deutsche Vergangenheitsbewältigung ist reichlich selektiv, konstatieren die Osteuropahistorikerinnen Katja Makhotina und Franziska Davies im Tagesspiegel. In einem aufsehenerregenden Text für Zeit online widmet sich die Autorin und Dramaturgin Stella Leder der Verfolgung von Juden in der frühen DDR. Der Bundestag wird erstmals verfolgter Homosexueller und Lesben gedenken, berichtet die taz. In der SZ spricht  Amir Reza Koohestani über die iranische Revolution, die weniger einen radikalen Buch als Permanenz suche: "Deswegen ist es jetzt von so großer Dringlichkeit, auf die Frauen zu hören."
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.01.2023 finden Sie hier

Geschichte

Der Bundestag gedenkt zum heutigen Tag der Befreiung von Auschwitz zum ersten Mal verfolgter queerer Menschen, berichten Klaus Hillenbrand und Nicole Opitz in der taz. Was genau "queer" zur Nazizeit war, ist dabei nicht immer ganz leicht zu umreißen. Bekannt ist, das 15.000 homosexuelle Männer umgebracht und 80.000 Männer aktenkundig wurden: "Tatsächlich, so die neuere Forschung, sind aber auch Lesben verfolgt worden. Ihre sexuelle Präferenz galt als 'verwerflich' und entsprach nicht dem 'gesunden Volksempfinden', sagt die Historikerin Claudia Schoppmann. Ebenso wie schwule wurden lesbische Treffpunkte nach 1933 geschlossen oder polizeilich überwacht. Bei der Gestapo gingen Denunziationen wegen lesbischem Verhaltens ein, doch die Geheimpolizei musste bedauernd feststellen, dass eine strafrechtliche Verfolgung dieser Beziehungen nicht vorgesehen war. Freiräume verschwanden. Die Angst ging um. Lesben ließen sich plötzlich die Haare länger wachsen, um weniger aufzufallen. Viele von ihnen heirateten einen Mann. Die große Mehrzahl von ihnen konnte die NS-Zeit so möglichst unauffällig überstehen - im Gegensatz zu Jüd:innen. Das gilt auch für homosexuelle Männer."

In einem Kommentar schreibt der taz-Autor Lutz van Dijk, auf den die Initiative zum Gedenken im Bundestag zurückgeht: "Unter Historiker*innen setzt sich die Kontroverse darüber fort, wer als NS-Verfolgter anzuerkennen sei, zumal das Wort queer damals noch nicht gebräuchlich war. Es sollte jedoch niemals um eine Hierarchisierung der Opfer gehen, sondern darum, die unterschiedlichen Verfolgungskriterien der Nazis zu demaskieren, um konkrete Schicksale überhaupt erst zu erkennen."

In einem Statement von Ferda Ataman, der "unabhängigen Bundesbeauftragten für Antidiskriminierung" zum Auschwitz-Gedenktag liest sich das so: "Vor allem homo- und bisexuelle Männer wurden unter dem Unrechtsparagrafen 175 vom NS-Regime verfolgt und ins Gefängnis gesteckt. Lesbische und bisexuelle Frauen wurden als 'Asoziale' verhaftet. Sie alle landeten auch in Konzentrationslagern, Tausende starben dort."

In einem aufsehenerregenden Text für Zeit online widmet sich die Autorin und Dramaturgin Stella Leder am heutigen Auschwitz-Gedenktag der Verfolgung von Juden in der frühen DDR - also einem Kapitel, das außer wenigen Spezialisten bisher kaum jemand bekannt war. Die Verfolgungen geschahen  im Kontext der Prager Slansky-Prozesse und des Stalinschen "Weißkittel"-Wahns, der allerdings maßgeblich einige bis heute wirksame Muster des linken Antisemitismus etablierte. "In der DDR mehren sich um den Jahreswechsel 1952/53 - nicht nur durch die Verhaftung (jüdischen SED-Parteifunktionär Paul) Merker - sondern auch durch den Druck, dem der jüdische SED-Abgeordnete Julius Meyer ausgesetzt ist, die Zeichen, dass hier ähnliche Dinge geschehen könnten. Es folgt, vor ziemlich genau siebzig Jahren, die größte jüdische Fluchtbewegung aus Deutschland nach 1945. Etwa 500 Jüdinnen und Juden verlassen zwischen Januar und Februar 1953 die DDR." Leder wundert sich auch sehr über das Schweigen, das diese Geschichte bis heute umgibt: "Zwar gibt es einige Wissenschaftler:innen, Bücher und Projekte, die sich mit jüdischer Geschichte in der DDR oder auch mit Antisemitismus in der DDR befassen. Aber selbst in einem Jahr, in dem die Flucht von 1953 einen runden Jahrestag hat, gibt es keine öffentlichen Veranstaltungen hierzu."

Die weithin gerühmte deutsche Vergangenheitsbewältigung ist reichlich selektiv, konstatieren die Osteuropahistorikerinnen Katja Makhotina und Franziska Davies im Tagesspiegel. Vor allem verblasst neben Auschwitz der "Holocaust durch Kugeln", der kaum Zeitzeugen übrig ließ und die peinliche Mittäterschaft der Wehrmacht implizierte. "Die Selbstwahrnehmung Deutschlands als 'Meister der Erinnerung' steht im Widerspruch zu den vielen Wissenslücken über den Raub- und Versklavungskrieg im Osten. Bis heute haben viele in Deutschland noch nie von Orten der Massenvernichtung wie Malyj Trostenez, Salaspils, Kaunas Neuntes Fort, Babyn Jar, Berditschiw, Chatyn oder Korjukivka gehört."

In der taz erinnert Rodothea Seralidou an den vor hundert Jahren beschlossenen "Bevölkerungsaustausch" zwischen osmanischen Griechen und griechischen Muslimen, der bis heute Bitternis in den betroffenen Bevölkerungsgruppen hinterlässt. Durch die In Lausanne verhandelte "Konvention zum Bevölkerungsaustausch", wird "rückwirkend die längst vollzogene Vertreibung von rund 1,5 Millionen Griechinnen und Griechen aus Anatolien legitimiert. Fast 400.000 Muslime aus Griechenland schickt man in die Türkei."

Außerdem: In der NZZ weist der Historiker Volker Reinhardt darauf hin, dass die Debatte zwischen "Moralisten" und "Staatsräsonisten", die gerade zum Ukrainekrieg tobt, schon eine jahrhundertelange Vorgeschichte hat.
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Europa

Die notorische deutsche "Ostpolitik" und die Energiewende lasten heute schwer auf aller Politik in Deutschland, schreibt Michael Thumann in seiner Zeit-online-Kolume. "Die Ampel-Koalition macht es sich zu leicht, wenn sie mit dem Finger nur auf Angela Merkel zeigt. Die Ostpolitik und die Energiewende weg von Kernkraft und hin zu Erdgas aus Russland (plus Kohle und Erneuerbare) seit Anfang der Nullerjahre war ein Gemeinschaftswerk der SPD, der Grünen, der Union und der FDP, die von 2009 bis 2013 den Außen- und den Wirtschaftsminister stellte. Russland galt als sicherer Lieferant, weil ja die Sowjetunion immer geliefert hatte. An Putins wachsenden Revanchismus schauten viele Politiker vorbei."

Jahrelang saß Oleg Nawalny, der Bruder von Alexej Nawalny, selbst im Gefängnis. Jetzt kämpft er für seinen Bruder und ist gerade in Berlin. Er spricht im Tagesspiegel-Interview mit Maria und Kotsev Cornelius Dieckmann einerseits von der Zermürbungsfolter im "Strafisolator", in den sein Bruder verlegt wurde, andererseits, wie vielleicht nur ein Russe es kann, über die Kultur der Gefängnisse in Russland. "Naja, das erste Jahr war hart, weil ich oft verlegt wurde. Was ich meine: Man stellt fest, dass Kriminelle im Knast auch nur wie normale Leute rumsitzen und quatschen. Viele Jungs auf einem Haufen, das kann lustig sein. Es ist wie ein großes Ferienlager - bloß halt mit Mördern. Am Ende verstand ich, dass man sich nur an ein russisches Sprichwort halten muss: 'Vertraue nicht, fürchte nicht, frage nicht.'"

Sehr große Nervosität erzeugt eine Äußerung Annalena Baerbocks vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, wo sie Europa zur Einheit gegenüber Russland aufruft und dabei das Wort Krieg in den Mund nimmt, im Original: "We do not do the blame game in Europe, because we are fighting a war against Russia and not against each other." Die Empörung war groß. Jesko zu Dohna verteidigt sie Baerbock in der Berliner Zeitung: "Nun ist das natürlich, lieber Julian Reichelt und liebe empörte und vielleicht auch verängstigte Leser, wahrlich keine Kriegserklärung an Russland. Es handelt sich hier lediglich um einen ganz ehrlichen und ungeschönten Blick der Außenministerin und Politikerin Baerbock auf die Lage. Die in ihrer Rede - zu Recht, wie ich finde - genervt vom Zögern und Zaudern ihres Bundeskanzler in den vergangenen Tagen wirkt und dieses Gefühl hier mit klaren Worten äußert."

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Internet

Die Zeit der Witze über dier AI-Software Chat GPT ist vorbei, konstatiert Andrian Kreye in der SZ: "Die ganze digitalisierte Welt spielte mit dem Ding herum. Doch nun setzt Panik ein. Vor ein paar Tagen bestand Chat GPT die Zulassungsprüfung für amerikanische Ärzte, dann die für Anwälte und schließlich auch noch die Diplomprüfung für den Masters of Business Administration an der Ivy-League-Wirtschaftsuniversität Wharton School. Immerhin mit der Note Zwei minus." Inzwischen wurde schon eine App namens GPT Zero programmiert, die nachweisen kann, ob ein Text mit Künstlicher Intelligenz geschrieben wurde: "Mehr als 6.000 Dozenten und Professoren von Universitäten wie Harvard, Princeton und Yale haben sich schon auf die Warteliste eingetragen. Die Testversion ist dauerüberlastet."
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Politik

Mit Sorge blickt Natan Sznaider im Gespräch mit Christian Gampert in der FAZ auf die Situation in Israel. Die Zweistaatenlösung sei ein Zombie, sagt er: "Das Siedlungsprojekt in den besetzten Gebieten ist so weit fortgeschritten, dass es eigentlich unmöglich ist, die Siedler wieder ins Kernland zurückzubringen. Es würde in Israel dafür keine Mehrheit geben. Aber ich glaube auch nicht, dass es unter den Palästinensern eine Mehrheit für die Zweistaatenlösung gibt. Man muss anfangen, über neue Konzepte nachzudenken. Und man muss auch davon ausgehen, dass es Konflikte gibt, die überhaupt nicht zu lösen sind. Und dass der israelisch-palästinensische Konflikt ein solcher Konflikt ist, der in der nächsten Zeit keine Lösung finden wird. Man kann natürlich immer von der Zweistaatenlösung reden, aber zurzeit ist das ein Wort ohne Inhalt."

Sehr klug spricht der iranische Regisseur Amir Reza Koohestani im SZ-Interview mit Till Briegleb über den weiblichen Aspekt der Revolution im Iran, die weniger einen radikalen Buch als Permanenz suche: "Es gibt hier eine Kontinuität der Revolution. Wir hatten eine Konstitutionelle Revolution bereits vor 120 Jahren, um die Monarchie zu beenden. Und auch die heutige Revolution verlangt nach einer Säkularisierung des Staates. In der Tiefe geht es um das Ende des patriarchalen Systems. Denn das ist die Lehre aus der Revolution von 1978. In einer männlich dominierten Herrschaftsform ist es letztlich egal, ob der Schah sie führt oder die Kleriker. Deswegen ist es jetzt von so großer Dringlichkeit, auf die Frauen zu hören."

So sieht es aus, wenn der iranische Botschafter die spanische Königin begrüßt:

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