9punkt - Die Debattenrundschau

Wenn er den Brei lobt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.01.2023. Die Sowjetunion hat Russland nie verlassen, schreibt die Autorin Irina Rastorgujewa in der FAZ: Terror, Spitzelei, Denunziation, der ganze Repressionsapparat ist noch da. Putin ist nicht Hitler, Parallelen gibt es dennoch, sagt Heinrich August Winkler im Tagesspiegel. Die westlichen Eliten mögen diverser geworden sein, aber sind die Gesellschaften deshalb gleicher, fragt Kenan Malik im Observer. In der FAS wendet sich Ralf Fücks gegen das "zukunftsängstliche Schrumpfgermanien" der Klimaaktivisten. Die FAS recherchiert auch über den Terror iranischer Geheimdienste gegen deutsche Staatsbürger.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.01.2023 finden Sie hier

Europa

"Die Sowjetunion hat Russland nie verlassen", schreibt die Autorin Irina Rastorgujewa in der FAZ über die sich - bestärkt durch die brutalen Wagner-Söldner - immer stärker radikalisierende Atmosphäre in ihrem Heimatland. "Das Fließband der Repression hat nie wirklich aufgehört zu laufen, es hat sich nur verlangsamt und vielfältigere Formen angenommen. Das Wesentliche ist geblieben: Wenn du heute nicht folterst, wirst du morgen gefoltert werden. ... Die Denunziationskultur ist mit dem Fortgang des Krieges aufgeblüht. Roskomnadsor, die Überwachungsbehörde für 'Informationstechnologie und Massenkommunikation', meldet für das erste Halbjahr 2022 exakt 144.835 'Appelle' von Bürgern betreffs anderer Bürger. Die meisten dieser Denunziationen standen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine: Russische Bürger beschwerten sich über Falschmeldungen über Aktionen des russischen Militärs und 'pro- ukrainische Propaganda'. Auch in der Sowjetunion ging die Denunziation Hand in Hand mit Stalins Terror und hörte nach seinem Tod nicht auf. Vielleicht, weil dies die einzige Möglichkeit war, am politischen Leben eines totalitären Landes teilzunehmen. Das ist immer noch so."

Putin ist kein zweiter Hitler. Weder will er die Juden umbringen, noch ganz Europa erobern, sagt Heinrich August Winkler im Tagesspiegel-Gespräch mit Hans Monath. Aber das ist kein Grund zur Beruhigung: "Putin stellt dagegen den Status quo radikal infrage. Da gibt es erschreckende Parallelen zu bestimmten Aspekten der Politik Hitlers. Ich denke etwa an Hitlers Vorgehen bei der Zerschlagung der Tschechoslowakei in den Jahren 1938 und 1939. Putin hat beim Krieg gegen Georgien 2008 und gegenüber der Ukraine seit 2014 ähnliche Methoden angewandt. Heute führt er einen Angriffskrieg gegen die Ukraine, der Züge eines Vernichtungskriegs angenommen hat." Mit einer Umbenennung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz wäre Winkler übrigens nicht einverstanden: "Es gibt das Preußen des Rechtsstaates, das liberale Preußen. Das sozialdemokratisch regierte Preußen wirkte in der Weimarer Republik als Bollwerk der Demokratie, weit mehr als andere deutsche Länder. Preußen-Bashing ist auch deshalb so beliebt, weil es bequemer ist als deutsche Selbstkritik."

Oliver Jens Schmitt erinnert in der NZZ an den vor hundert Jahren in Lausanne beschlossenen "Bevölkerungsaustausch" zwischen türkischen Griechen und griechischen Muslimen, der das konfliktuelle Verhältnis der beiden Länder bis heute prägt. Der nationalistische Diskurs Erdogans unterschlägt in seiner Berufung auf das Osmanische Reich die einstige ethnische Vielfalt, so Schmitt: "Die moderne Türkei ist auch erbaut auf dem Genozid an den Armeniern, der Ermordung, Vertreibung und Flucht der orthodoxen und der assyrischen Christen. Die religiöse und ethnische Vielfalt, die das Osmanische Reich wie auch andere Imperien bestimmte, kommt im offiziellen türkischen Geschichtsbild nicht vor, in dem selbst muslimische Minderheiten wie die Kurden oder mit dem Islam in Beziehung stehende Glaubensgemeinschaften wie die Aleviten marginalisiert und oft stigmatisiert werden."

Die SZ bringt Ulrich Wickerts Rede zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus des rheinland-pfälzischen Landtags - er redet eigentlich nur über die deutsch-französischen Beziehungen, die ihm am Herzen liegen: "In der deutschen Politik fehlt seit Jahren auf strafwürdige Art und Weise das emotionale Bekenntnis zur deutsch-französischen Freundschaft - wenn wir grad mal von den üblichen Festreden zum 60. Jahrestag des Elysée-Vertrages absehen. Vor einigen Monaten hat der französische Präsident Emmanuel Macron sogar bemängelt, Deutschland isoliere sich zunehmend in Europa."
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Politik

Livia Gerster berichtet im Aufmacher der FAS, wie iranische Geheimdienste Oppositionelle im Ausland schikanieren und in Einzelfällen sogar entführen. Unter anderem erzählt sie die Geschichte des deutschen Staatsbürgers und Oppositionellen Jamshid Sharmahd, der auf einer Geschäftsreise nach Indien bei einem Zwischenstopp in Dubai in den Iran verschleppt wurde. Die Familie wurde von den deutschen Behörden gebeten, den Fall nicht öffentlich zu machen, weil das die Chancen auf Freilassung erhöhe. Aber die Familie hält sich nicht daran, und die Tochter erzählt von den furchtbaren Haftbedingungen ihres Vaters. "Ab und zu darf sie mit ihrem Vater sprechen, fünf oder zehn Minuten lang. Man könne den Druck hören, der sich bei diesen Telefonaten in Form von Wächtern um ihn herum aufbaue, erzählt sie. Mit der Zeit lernte die Tochter, die Botschaften zwischen seinen Worten zu verstehen: Wenn er etwa den Brei lobt, den er auch ohne seine Zähne so wunderbar essen könne. So erfährt sie dann, dass ihrem Vater die Zähne ausgeschlagen wurden. Dass er nie Tageslicht sieht. Dass er mit niemandem sprechen kann außer seinen Peinigern."

In Algerien werden unter dem vom Militär gestützten Präsidenten Abdelmadschid Tebboune die demokratischen Errungenschaften seit den achtziger Jahren nach und nach kassiert. So hat die Regierung jetzt ohne jede Begründung die Algerische Liga für Menschenrechte aufgelöst, "ein schwerer Schlag gegen die Zivilgesellschaft im Land, ist die Organisation doch eine der aktivsten Menschenrechtsgruppen Algeriens", schreibt Sofian Philip Naceur in der taz. "Überraschend ist das behördliche Vorgehen gegen die Liga allerdings nicht. Nachdem das Regime den Ausbruch der Coronapandemie 2020 instrumentalisiert hatte, um der 2019 formierten Protestbewegung Hirak sukzessive den Garaus zu machen, waren algerische Behörden zunehmend systematisch gegen die regierungskritische Zivilgesellschaft, Oppositionelle und unabhängige Medien vorgegangen. Seither waren mehrere den Hirak unterstützende Oppositionsparteien aus dem linken und liberalen Lager gerichtlich verboten worden."
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Stichwörter: Iran, Algerien

Religion

Die Psychologin Pia Lamberty, Koautorin des Buchs "Gefährlicher Glaube - Die radikale Gedankenwelt der Esoterik" , spricht mit Lisa Berins in der FR über Esoterik, die sie sozusagen automatisch dem rechten politischen Spektrum zuordnet, obwohl sie auch die Anthroposophie dazu zählt: "Die deutsche Esoterik hatte ihren Startpunkt mit Helena Blavatsky; sie hat die Theosophie und das Konzept der Wurzelrassen begründet. Davon abgespalten haben sich dann die Ariosophie und die Anthroposophie, die Rudolf Steiner noch mal christlicher interpretieren wollte. Esoterik ist immer ein Patchwork aus allen möglichen Religionen. Auffallend sind heute auch antimodernistische und antifeministische Haltungen. Da gibt es dann oft die Überzeugung, dass die Natur das Gute, die Technik das Böse ist, oder es gibt eine Sehnsucht nach dem Früher, und die moderne Welt wird als belastend, als künstlich verstanden. In Extremvarianten geht es so weit, dass Russland romantisiert wird, das Ursprüngliche, Naturverbundene, der starke Führer verehrt wird."
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Geschichte

Der Historiker Thomas Weber hat gerade den Sammelband "Als die Demokratie starb" vorgelegt, der neunzig Jahre danach Hitlers Aufstieg beleuchtet. Im Gespräch mit Peter Riesbeck erinnert er - ausgerechnet in der FR - an die Wichtigkeit konservativer Parteien für den Erhalt von Demokratie. Das Beispiel der Niederlande habe das gezeigt. Weber bezieht sich dabei auf einen Beitrag des Harvard-Politikwissenschaftler Daniel Ziblatt in seinem Buch: "Starke konservative Parteien bieten radikalen Parteien weniger Chancen, im Zentrum zu wachsen. Zudem müssen sie das Gefühl haben, in der Demokratie gibt es für Parteieliten und eigene Wählerschaft etwas zu holen. Daniel Ziblatt hat das in seinem Buch 'Konservative Parteien und die Geburt der Demokratie' auch gezeigt, etwa am Beispiel der britischen Konservativen. Es geht weniger um eine Liebesbeziehung zur Demokratie. Ziblatt spricht von einem 'buy in' - einem sich Einkaufen in die neue Ordnung: dem sehr berechnenden Kalkül, dass die Demokratie sich langfristig auszahlen könnte."

Auch der Politologe Ulrich Schlie betrachtet Hitlers Aufstieg in der NZZ im europäischen Kontext, denn manche Voraussetzungen waren in vielen Ländern ähnlich, und sie rutschten dennoch nicht in eine ähnliche Katastrophe. "Hitlers Aufstieg war nicht nur der Schwäche der Weimarer Republik geschuldet, sondern auch der Stärke des Nationalsozialismus. Ohne den revolutionären Schwung der nationalsozialistischen Bewegung wäre die Machtübernahme Hitlers nicht möglich gewesen."

Außerdem: In der SZ bewältigt Robert Probst in einem nützlichen Überblick die Flut der Bücher zum Jahr 1923.
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Ideen

Im Interview mit der FAS übt der Grüne Ralph Fücks scharfe Kritik an den Klimaktivisten in Lützerath: Ein "zukunftsängstliches Schrumpfgermanien" wie es diesen vorschwebe, sei im Grunde nur mit einer Diktatur zu erreichen. "Dagegen müssen wir ein anderes Konzept setzen: Klimatransformation als Aufbruch zu einer ökologischen Industriegesellschaft, die nicht mehr auf Raubbau an der Natur beruht und Raum gibt für bald zehn Milliarden Menschen mit ihren Bedürfnissen und Ambitionen. Degrowth ist eine Form von Realitätsflucht angesichts der realen Wachstumsdynamiken, mit denen wir im globalen Süden konfrontiert sind. Es geht nicht um den Rückbau der industriellen Moderne, sondern um den Sprung in eine postfossile Zukunft. Das ist keine Fata Morgana. In den fortgeschrittenen Industriegesellschaften hat die Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Naturverbrauch bereits begonnen. Wir verzeichnen in Deutschland einen Rückgang der CO2-Emissionen um knapp 40 Prozent seit 1990 bei steigendem Sozialprodukt - Außenhandelseffekte einberechnet."

Die westlichen Eliten mögen diverser geworden, aber sind die Gesellschaften deshalb gleicher? Dass das eine nicht unbedingt mit dem anderen zu tun hat, hat Kenan Malik aus dem Buch "No Politics But Class Politics" (bestellen) von Walter Benn Michaels und Adolph Reed Jr. gelernt, wie er im Observer schreibt: "Das Streben nach mehr Vielfalt wird gemeinhin als ein Vorstoß zu mehr Gleichberechtigung und ein Versuch gesehen, Barrieren der Ausgrenzung zu beseitigen. Gleichheit und Vielfalt sind jedoch nicht gleichbedeutend. Auch wenn die Gesellschaften und Institutionen vielfältiger geworden sind, sind viele auch ungleicher geworden. Das Ergebnis ist eine 'moralische Ökonomie', wie Reed sarkastisch anmerkt, in der 'eine Gesellschaft, in der 1 Prozent Bevölkerung 90 Prozent der Ressourcen kontrolliert, als gerecht angesehen werden könnte, vorausgesetzt, dass etwa 12 Prozent der 1 Prozent Schwarze, 12 Prozent Latinos, 50 Prozent Frauen und der entsprechende Anteil an LGBT-Personen sind'. Mit anderen Worten: Maßnahmen zur Förderung der Vielfalt bekämpfen nicht unbedingt die Ungleichheit, sondern machen diese lediglich 'gerechter'."

Der Antisemitismusforscher Peter G. J. Pulzer ist im Alter von 93 Jahren gestorben. Raphael Gross, Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum,schreibt für die SZ den Nachruf und erzählt, wie Pulzer am Leo-Baeck-Institut London einmal eine Resolution gegen BDS verhindert. "Zwar hatte Pulzer nie einen Hehl daraus gemacht, dass er BDS von ganzem Herzen verabscheute - nun aber ging es ihm um ein Prinzip und er beendete als Chairman die Diskussion mit der knappen Frage: 'Ich bin etwas verwirrt von diesen Argumenten, sind wir denn nun für oder gegen Boykott? Alle lachten. Niemand war für Boykott. Also mochte man auch den Boykott nicht boykottieren. Die Resolution wurde nicht verabschiedet." Und nun? Da der Boykott nicht boykottiert wird, kann also fröhlich boykottiert werden?
Archiv: Ideen