9punkt - Die Debattenrundschau

Der kollektive Putin

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.02.2023. Stalin hat mit Hilfe Maxim Gorkis den Hass auf Schwule nach Russland gebracht, schreibt  Viktor Jerofejew in der Zeit. Auch Slavoj Zizek schreibt in der Welt über dieses Thema und die Rolle der Religion darin. Der ukrainische Holocaust-Überlebende Roman Schwarzmann hat im Tagesspiegel keine Angst, Putin mit Hitler zu vergleichen. Katarzyna Wielga-Skolimowska, die neue Leiterin der Kulturstiftung des Bundes, spricht in der SZ über ihre Pläne mit dem globalen Süden und dem europäischen Osten. Zu BDS äußert sie sich unklar.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.02.2023 finden Sie hier

Europa

"In der Ukraine leben noch etwa tausend Menschen, die die Ghettos und Konzentrationslager der Nazis überlebten. Wir sind alle sehr alt und wollten eines natürlichen Todes sterben, aber nicht von modernen Faschisten getötet werden", sagt der Holocaust-Überlebende und Vorsitzender des Verbandes der Juden in Odessa, Roman Schwarzmann im Tagesspiegel-Gespräch mit Maria Kotsev (hinter Paywall), in dem er auch erklärt, weshalb es für ihn zwischen Putins Russland und Hitler-Deutschland keinen Unterschied gibt: "Ist es heute nicht das Gleiche wie unter Hitler? Es ist genau dasselbe. Hitler tötete und vernichtete unschuldige Juden. Putin und sein Gefolge - oder wie wir sagen, 'der kollektive Putin' - töten eine ganze Nation, ein ganzes Land. Ich habe nie verstanden, wie man eine ganze Nation für schlecht halten kann. Aber Russland hat mir gezeigt, dass eine ganze Nation sehr wohl schlecht sein kann. Putin selbst betont, wie groß die Unterstützung im Land für ihn ist. Wie kann man bitte einen Faschisten wie Putin unterstützen, der einfach so unschuldige Menschen, unschuldige Kinder tötet? Russland hat lediglich Hitlers Methoden in ein modernes Zeitalter übertragen. Er zerstört uns mit höchst moderner Technik, mit Marschflugkörpern, die 300 Kilometer weit auf friedliche Städte schießen können und die Infrastruktur treffen."

Putin schürt Hass auf Homosexuelle, um die Russen hinter sich zu scharen. Heute kann er sich dabei auf wohlwollende Resonanz in der Bevölkerung verlassen, aber Russland war gegenüber Homosexuellen nicht immer illiberal, schreibt Viktor Jerofejew in der Zeit: "Die Februarrevolution von 1917 in ihrem Bemühen um ein demokratisches Russland lehnte es gänzlich ab, Homosexualität als etwas Anormales anzusehen. Und auch in den ersten Jahren nach der bolschewistischen Novemberrevolution desselben Jahres war die staatliche Toleranz gegenüber Homosexualität noch ganz offensichtlich. Gezielt zerstört wurde das alles durch Stalin. Anfang der 1930er-Jahre an die absolute Macht gelangt, erklärte er die Homosexuellen zu angeblichen Gründern von geheimen Schlupfwinkeln für Ausschweifungen und politische Umtriebe von Spionen und Konterrevolutionären. Es war Maxim Gorki, der Stalin 1934 mit einem Artikel half, in dem er Homosexualität mit dem deutschen Nazismus gleichsetzte." Maxim Gorki, nach dem in Berlin ein Theater benannt ist.

Die Nachfolge Putins wird derzeit zwischen Oligarchenbanden und informellen Machtzentren verhandelt, schreibt Slavoj Zizek, der in der Welt "das Zusammenspiel der Regression Russlands zu einem Schurkenstaat mit einer spezifisch russischen Version des religiösen Fundamentalismus" untersucht: "Die Feier des Todes im heutigen Russland begann mit religiösen Predigern, die ihren Zuhörern versicherten, dass die Russen nur dadurch, dass sie anderen den Tod bringen, 'sie selbst werden' könnten - und dass in der Ukraine 'Gottes ganze Schöpfung' auf dem Spiel steht. (…) Magomed Kitanaev, Kommandeur einer russischen Kampfeinheit in der Ukraine, sprach seinen Soldaten gegenüber aus, warum dieser heilige Krieg geführt wird: 'Wir fragen: 'Ukrainer, warum habt ihr Schwulenparaden in Kiew, Charkiw und Odessa zugelassen? Warum habt ihr euch nicht dagegen gewehrt und gegen eure Regierung, die von Faschisten unterwandert wurde?' Ohne Scham vor Gott, sagt der Militär, würde in der Ukraine 'offen und offensichtlich Dreck' verbreitet."

Alexey Schischkin, der nach Tallinn geflohen ist, erzählt in der taz, was es für einen Russen im Exil, der keine zweite Staatsangehörigkeit hat, bedeutet, Russe zu sein: "In der Pikk-Gasse in Tallinn steht ein Gebäude, das an eine Torte erinnert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde es vom Architekten Jacques Rosenbaum gebaut, der später auch für die NS-Bautruppe Todt gearbeitet hatte. Auf dem Haus weht eine Trikolore - es ist die Botschaft der Russischen Föderation in Estland. Ich weiß, dass ich irgendwann einmal durch die Tür dieser Einrichtung gehen muss, für eine Bescheinigung, eine notariell beglaubigte Übersetzung oder einen neuen Pass. Selbst um meine Staatsbürgerschaft abzugeben, braucht es den guten Willen russischer Diplomaten. So einfach lässt einen die Heimat nicht gehen. Jeder russische Staatsbürger wird von der Machtvertikale als Untertan wahrgenommen. Ich weiß, dass ich in der Botschaft nicht auf Wohlwollen zählen kann."

Nicola Sturgeon, die "Erste Ministerin" Schottlands, nutzt die Transdebatte, um Schottland populistisch gegenüber England abzusetzen, schreibt Gina Thomas in der FAZ - und das obwohl sechzig Prozent der schottischen Bevölkerung dagegen waren, das Alter für eine Geschlechtsveränderung auf 16 Jahre herabzusetzen. "Die Erste Ministerin hat alle Bedenken über die möglichen Folgen einer Vereinfachung des Prozesses zur Erlangung der rechtlichen Anerkennung des Geschlechts beiseitegefegt. Ein Änderungsantrag, der verhindern sollte, dass Transfrauen Zugang zu Frauenbereichen bekämen, wurde abgelehnt."

Der Brexit reiht sich nach Suez und dem Irak-Krieg in die großen Irrtümer der britischen Geschichte ein, schreibt der prominente britische Journalist Ian Dunt in Inews.co.uk. Vieles funktioniere schlechter als vorher, vieles bleibe unerledigt."Aber die tiefste Narbe ist die, über die wir am wenigsten sprechen. Sie heißt Verdrängung. Wir haben Jahre verschwendet - Jahre, die wir damit hätten verbringen können, das NHS zu reparieren, Pläne für ein langfristiges Wirtschaftswachstum umzusetzen oder in grüne Energie zu investieren, regionale Ungleichheit zu bekämpfen oder uns um Wohnungsbau und Sozialfürsorge zu kümmern. Dies ist letztlich die große Tragödie des Brexit: Nicht was er bewirkt hat, sondern wovon er uns abgehalten hat."
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Kulturpolitik

Jörg Häntzschel fragt im großen SZ-Gespräch mit Katarzyna Wielga-Skolimowska, der neuen Leiterin der Kulturstiftung des Bundes, wie sie die ihr zur Verfügung stehenden 40 Millionen Euro pro Jahr verteilen will. Unter anderem setzt sie auf "Kooperation mit dem sogenannten Globalen Süden. Die Frage ist: Wie kann man fair kooperieren? Wichtig ist mir, dass wir in Deutschland über längere Zeiträume mit Akteuren aus dem Globalen Süden arbeiten. Kurzfristige Projekte reichen nicht." Weiter "wäre es wichtig, sich dem Thema Kolonialität im postsowjetischen Raum zu widmen. In diesen Ländern gewohnt oder gearbeitet zu haben: Was bedeutet das, was hat das mit dem jetzigen Krieg zu tun? Diesen Diskurs gibt es in der Ukraine, den gibt es in Polen, in Deutschland ist er nicht präsent genug. Wir denken Kolonialität sehr eng." Auch zum BDS-Beschluss des Bundestags positioniert sie sich, die Fragen fehlen allerdings in der Print-Ausgabe der SZ: "Wie man den BDS-Beschluss überhaupt umsetzen könnte, bleibt eine praktische Frage und eine Herausforderung für Kulturinstitutionen. Ich bin generell gegen Boykott, unabhängig davon, welches Land es betrifft."

Gestern sprach Hermann Parzinger schon in der Berliner Zeitung über die Reformen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (Unser Resümee), heute erklärt er gemeinsam mit Museumsdirektor Matthias Wemhoff im Tagesspiegel, weshalb die Stiftung mehr Geld, mehr Personal - und nach wie vor einen Stiftungspräsidenten mit Richtlinienkompetenz braucht: "Als Präsident trage ich am Ende für alles die Verantwortung. Entscheidender ist die Dezentralisierung. Die SPK der Zukunft ist ein Verbund autonomer Einrichtungen. Das holt aus den Häusern das Beste heraus. Und wenn wissenschafts- oder kulturpolitisch agiert werden muss, dann ist man im Verbund wiederum stärker."

Außerdem: 121 Jahre nach der Ernennung zur Wilhelms-Universität will die Uni Münster Wilhelm II. als Namensgeber canceln, meldet Harry Nutt in der Berliner Zeitung, perplex über so viel "geschichtspolitischen Aktionismus".
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Gesellschaft

"Die Bundesrepublik ist politisch eine Demokratie, aber auch eine Klassengesellschaft", schreibt der Schriftsteller Christian Baron in der SZ. Das zeigte erst die Pandemie und nun in besonderem Maße die Inflation, die eben doch nur auf den ersten Blick alle gleich treffe: "Mit Einmalzahlungen in Höhe von wenigen Hundert Euro hilft man weder kleinen Betrieben, noch verbessert sich dadurch die Lage von Familien mit geringem Einkommen. Der Kinderschutzbund rechnet für 2023 mit einer drastisch steigenden Kinderarmut - in einem Land, in dem schon jetzt mehr als jedes fünfte Kind akut von Armut bedroht ist oder sich schon in armen Verhältnissen befindet." Baron fordert unter anderem eine Übergewinnsteuer.

Ähnlich argumentiert auf Zeit Online die Philosophin Jule Govrin, die für "Gemeinwohlökonomien" plädiert, vor allem aber auf die gesundheitlichen Folgen von Armut eingeht: "Diese Form der ökonomischen Gewalt zeigt sich bei all denen, deren Lohn seit Langem nicht erlaubt, Geld zu sparen, deren Gehalt kaum die Kosten Miete und Lebensmittel abdeckt. Ihnen droht zusätzlich der Druck von Schulden. Sie zeigt sich in den Körpern der Pflegekräfte, mit deren physischen und psychischen Kapazitäten bis in die Überlastung kalkuliert wird. Die Berichte erzählen von der Erschöpfung, die nicht mehr aus dem Leib weicht, von der Verzweiflung, wenn sie Patientinnen und Patienten aufgrund des Notstands nicht mehr ausreichend versorgen können. Ebenso sichtbar wird ökonomische Gewalt in den Berichten alleinerziehender Mütter, die der Zeitmangel zwischen Sorge- und Lohnarbeit zwingt, Arbeitsstunden zu verkürzen, was wiederum zum Geldmangel führt."

Kaufhäuser wie Karstadt scheinen ihre letzten Stunden zu erleben. Svenja Bergt schlägt in der taz vor, daraus alternative Stadtteilzentren zu machen: "Was wäre etwa mit Orten, die niedrigschwellige Begegnungen ermöglichen? Vielleicht unter dem gleichen Dach wie Bildungsangebote, Werkstätten, um selbst kreativ zu werden oder gemeinsam Dinge zu reparieren und aus Altem Neues zu schaffen? Nichtkommerzielle Orte des Miteinanders - eine Art moderne und erweiterte Agora in Zeiten von gesellschaftlichen Umbrüchen und Polarisierungen? Und wie wäre es, die Umgebung gleich mit neu zu denken? Sichere Orte zu schaffen, und zwar für alle gesellschaftlichen Gruppen."
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Religion

Ausschweifend geht der Philosoph Otfried Höffe in der NZZ der Frage nach, weshalb auch friedliche Religionen gewalttätig werden: "Religionsstifter pflegen Anhänger, Jünger, zu finden, häufig versammeln sie diese bewusst um sich. Wird nun die Jüngerschar, was sich auf Dauer kaum vermeiden lässt, organisiert, so entstehen soziale Einheiten, Religionsgemeinschaften, die sich gegen andere Einheiten absetzen. Nun gehört zu einer Religion, auch einer Weltanschauung in der Regel die Auffassung, die allein wahre Lehre zu vertreten und den allein richtigen Weg zu gehen. Infolgedessen halten die Anhänger sich gern, teils ausdrücklich, teils implizit, für besser als die anderen." Dennoch liegen die Grundlagen für die Gewaltbereitschaft nicht im Wesen einer Religion, schreibt er, sondern "in Eigenheiten der sozialen und politischen Ordnung, in die die jeweilige Religion sich einbettet, und in den davon geprägten Einstellungen, Mentalitäten der Menschen."
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Stichwörter: Höffe, Otfried