9punkt - Die Debattenrundschau

Kinder des Liberalismus

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.02.2023. In der Welt wünscht sich die Politikwissenschaftlerin Barbara Zehnpfennig mehr Debatte über die geistigen Grundlagen der liberalen Demokratie, bevor man sie angreift. In der NZZ glaubt der Politikwissenschaftler Michael Bröning, dass ein von der "Letzten Generation" geforderter "Gesellschaftsrat" nur für gewünschte Ergebnisse gut ist. Die SZ fragt sich, ob das Erdbeben Erdogans Regierung retten wird. Wenig Verständnis haben die Zeitungen für den großen Ausverkauf bei Gruner und Jahr: Wie kann heute marginalprofitabel sein, was letztes Jahr noch als höchst rentabel galt, fragen Zeit online, SZ und Welt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.02.2023 finden Sie hier

Ideen

Die Philosophin und Politikwissenschaftlerin Barbara Zehnpfennig hat Hitlers "Mein Kampf" analysiert, zudem hat sie sich mit Marxismus und Islamismus beschäftigt. In einem langen Interview mit der Welt rückt sie die Klimaaktivisten in die Nähe dieser Ideologien und warnt mit Blick auf die RAF auch vor deren Gewaltpotenzial. Deshalb rät sie zu Ursachenbekämpfung: "Man kann historisch sehr gut zeigen, dass die drei großen Ideologien, die wir schon nannten, Kinder des Liberalismus sind. Sie sind aus inneren Schwächen des Liberalismus heraus entstanden, alle drei. Das gilt tatsächlich auch für den Islamismus, der sich antiwestlicher Stereotype bedient, die der Westen selbst hervorgebracht hat. Es ist, wie ich finde, ein Grundproblem unserer liberalen Demokratie, dass sie sich über ihre geistigen Grundlagen viel zu wenig Gedanken macht. Freiheit ist etwas ganz Wunderbares, aber es ist nur die Bedingung der Möglichkeit für etwas. Und was ist dieses Etwas, mit dem man Freiheit sinnvoll ausfüllt und nicht nur hedonistisch, konsumistisch et cetera? Was ist das Großartige am westlichen Modell, das wir beispielsweise auch Putin entgegenhalten können? Das wird viel zu wenig reflektiert, das ist viel zu wenig Gegenstand unserer Selbstverständigung."

Die "Letzte Generation" fordert zur Bekämpfung der Klimakrise einen "Gesellschaftsrat", besetzt nach Kriterien wie Alter, Geschlecht, Bildungsabschluss und Migrationshintergrund. Der Politikwissenschaftler Michael Bröning (SPD) hält davon in der NZZ wenig: "Denn es geht den Fürsprechern tatsächlich nicht um mehr Partizipation, sondern um weniger. Trotz allen Lippenbekenntnissen ist der mündige Bürger nicht das Ziel, sondern das Problem. Es geht darum, fehlende Mehrheiten an der Wahlurne durch den Kunstgriff der vermeintlich legitimeren paritätischen Abbildung zu umgehen, um zu den gewünschten Ergebnissen zu gelangen. (…) Für die Aktivisten bringen 'Expert:innen' die 'Teilnehmenden' auf 'einen möglichst gleichen Wissensstand'. Dieser aber wird nicht dem Zufall überlassen. Er wird von einem Beirat bestimmt, der 'Vertreter:innen aus dem Parlament, der Wissenschaft, Wirtschaft, der Zivilgesellschaft' vereint - nicht zuletzt 'von der Klimakatastrophe besonders betroffene Akteur:innen'."
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Gesellschaft

Pro Familia informiert: Genitalverstümmelung bei Menschen mit Uterus, früher häufig auch "Frauen" genannt, ist ein Verbrechen.

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Stichwörter: Genitalverstümmelung

Europa

Das Erdbeben in der Türkei und Syrien, das bis jetzt mehr als 8.500 Menschenleben gekostet hat, könnte die politische Zukunft der Türkei bestimmen, glaubt Thomas Avenarius in der SZ: "Manches spricht dafür, dass der Amtsinhaber am Ende der politische Profiteur sein könnte. Außenpolitisch könnte ihm die schnelle Hilfe etwa aus Schweden einen Ausweg aus den Spannungen bieten. Vor allem aber: Die von der Katastrophe betroffenen Türken, die Angehörige verloren haben, verletzt in den Krankenhäusern liegen oder kein Dach mehr über dem Kopf haben, haben jetzt andere Sorgen als die große Politik, unübersehbare Versäumnisse, krasses Versagen und offene Korruption beim Katastrophenschutz und bei der im Erdbebenland Türkei zwingenden Vorsorge. Sie brauchen Hilfe, jetzt. Und die kommt vom Staat, der Regierung. Und damit von Erdoğan."

Doch die Regierung war mitverantwortlich für die Auswirkungen des Bebens: "Man weiß seit Jahrhunderten, wie man sich baulich gegen Erdbeben schützt, das ist keine Geheimwissenschaft. Die Toten sind keine Opfer des Erdbebens, sie sind Opfer von Armut und Korruption", zitiert Gerhard Matzig in der SZ den Bauingenieur und Experten für erdbebensichere Baukonstruktionen Norbert Gebekken. "'Die Türkei weiß', sagt er, 'wie man erdbebensicher baut.' Dort gibt es auch gute Baugesetze, zumal nach dem letzten großen Erdbeben von 1999. Aber die Bilder zeigen laut Gebbeken wieder einmal: 'Die Normen werden nicht angewendet, man spart sich die Kosten für erdbebensichere Konstruktionen.' Menschen sterben nicht am Beben, Menschen sterben an Armut und Gier. An Baukosten. (…) Aus Syrien und der Türkei wird berichtet von Wänden, die man nicht wie vorgesehen gebaut habe, um mehr Raum zu gewinnen. Erzählt wird von Stahl, den man nicht in dichter Reihung, sondern mit großen Abständen in den Beton eingelegt habe: Stahl kostet Geld. Und die Rede ist von Baufirmen, bei denen die Prüfstatiker nicht so genau nachrechnen, wenn es dafür ein Extra-Trinkgeld gibt."

"Kurz nach dem Beben wurden zwar rund 3.500 Soldaten in die betroffenen Gebiete geschickt. Doch das reicht schlicht nicht aus", berichtet Marion Sendker auf Zeit Online: "Dieses Naturereignis hat sogar dafür gesorgt, dass sich Anatolien Geologen zufolge um drei Meter nach Westen verschoben hat. Dafür brauche es mehrere Hunderttausend Soldaten, heißt es aus Sicherheitskreisen. Theoretisch verfügt das türkische Militär über mehr Einsatzkräfte als nötig wären. Die oberste Entscheidungsgewalt über den Ablauf der Bergungsarbeiten liegt allerdings nicht beim Generalstab, sondern bei der Regierung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan."
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Medien

Unter Buhrufen verkündete Thomas Rabe, CEO von Bertelsmann und Geschäftsführer von RTL, gestern die große Abwicklung bei Gruner + Jahr: Nur "13 Marken, die nach Unternehmensangaben etwa 70 Prozent des Umsatzes von G+J ausmachen, bleiben im Portfolio. Dazu gehören Stern, Geo, Capital, Brigitte und Gala sowie Ableger wie Geolino und Geolino Mini. Alle anderen Zeitschriftentitel werden eingestellt oder verkauft", meldet Zeit Online mit dpa. "Keine Zukunft sieht RTL zum Beispiel für die Geo-Ableger Geo Wissen, Geo Epoche, Geo kompakt und Geo Saison sowie für Brigitte Woman und den Stern-Ableger View. Auch die Magazine Guido um den Designer Guido Maria Kretschmer und Barbara um TV-Moderatorin Barbara Schöneberger werden eingestellt. Zu den Titeln, die RTL verkaufen will, gehören unter anderem das Kunstmagazin art, die Fußballzeitschrift 11 Freunde sowie die Magazine Beef! und Business Punk." Entsprechend sollen rund 700 der 1900 Stellen wegfallen, heißt es weiter.

An allen Ecken und Enden soll nun also gespart werden, aber waren die Einsparungen wirklich nötig, fragt Anna Ernst in der SZ: "Bis einschließlich 2021 war Gruner + Jahr eigenständig - und hatte damit eigene Geschäftsberichte, geprüft von externen Wirtschaftsprüfern. Und diese Berichte zeichneten das Bild eines gesunden, rentablen Verlages, der neben Print auch in neue Digitalunternehmen investierte. Der Gewinn vor Abzug von Steuern lag 2021 bei stolzen 134 Millionen Euro, im Vorjahr waren es 127 Millionen Euro." 2022 aber sei man nur noch "marginalprofitabel" gewesen, behauptete Rabe gestern gegenüber den Angestellten, die ihm wenig Glauben schenkten: "Die Hoffnung liegt nun auf Betriebsräten und Gewerkschaften, die ankündigten, für jeden einzelnen Arbeitsplatz kämpfen zu wollen. Verdi spricht in einer Mitteilung von einer 'Zerschlagung' - und erwartet, dass sogar noch mehr als 700 Stellen betroffen sein könnten."

"Management-Versagen auf allen Ebenen" attestiert Hannah Kluth bei Zeit Online in ihrer Analyse, für die sie auch mit Rabe gesprochen hat, den Verantwortlichen. "'Den Magazinen steht ein Verwaltungsapparat gegenüber, der viel zu groß ist, der einfach nicht passt', sagt Rabe. Er spricht von 40 Millionen Euro Kosten. (…) Wer mit einstigen Managern und Chefs von Gruner spricht, bekommt ein anderes Bild: Bertelsmann habe über Jahre nicht in Gruner + Jahr investiert, es sei kaum Geld für die Digitalisierung geflossen. Immerzu, heißt es, musste das Haus sparen und dabei weiterhin zweistellige Renditen abwerfen. Der Verlag habe nie in neue Geschäftsfelder investieren dürfen, dabei habe es dafür Pläne gegeben: 2012 wollte man das britische Marktforschungsunternehmen YouGov kaufen, das heute eine Milliarde wert sein soll. Doch die Bertelsmann-Philosophie lautete: Keine Tochterfirma sollte in eigene Geschäftsfelder investieren."

RTL bleibt mit den verbliebenen Titel nun ein Zeitschriftenverlag "wider Willen", meint Christian Meier in der Welt: "Es darf nicht vergessen werden, dass G+J ein großer Fisch in Frankreich war, aktiv in Spanien, Polen, den Niederlanden, Russland und sogar China. 2,83 Milliarden Euro erwirtschaftete der Verlag im Jahr 2007, bei einem operativen Gewinn von 264 Millionen Euro und mehr als 14.000 Beschäftigten. Wer da meint, die neuerliche Verkleinerung sei der echte Hammer, blendet die Entwicklung im vergangenen Jahrzehnt aus. Der Mittelweg ist darum vermutlich auch nur ein weiterer Zwischenschritt und damit letztlich ein Kompromiss mit überschaubarer Haltbarkeit. Für die bekannten Marken des Hauses hätte es sicherlich Abnehmer gegeben zu für Bertelsmann akzeptablen Preisen. Auch für profitable Titel kann ein Verkauf sinnvoll sein, wenn man glaubt, nicht mehr der beste Eigentümer zu sein."

Neueste Meldung: Die Chefredaktion von Geo ist unter Protest gegen die von Bertelsmann verkündeten Sparmaßnahmen zurückgetreten, meldet etwa Zeit online.
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Politik

Die neue israelische Regierung will das Westjordanland - oder zumindest Teile davon - annektieren. Vielleicht nicht auf einen Schlag, aber peu a peu, ist die Politologin Muriel Asseburg in der FAZ überzeugt. "Die Zuspitzung des Konflikts zwingt auch die deutsche Politik, zu überdenken, wie die historische Verantwortung aus den deutschen Angriffskriegen und der Schoa mit einem sinnvollen Beitrag zur friedlichen Konfliktbearbeitung in Nahost, die allen zwischen Mittelmeer und Jordanfluss individuelle und kollektive Rechte und Sicherheit garantiert, in Einklang zu bringen ist. Ein Weiter-so wird dafür kaum ausreichen. Es liegt auf der Hand: Wenn Völkerrechtsbrüche und Menschenrechtsverletzungen gleich welcher Seite nicht sanktioniert und mutmaßliche Kriegsverbrechen nicht verfolgt werden, fühlen sich die Konfliktparteien zum fortgesetzten Rechtsbruch ermutigt." Asseburg wünscht sich von der Bundesregierung mehr Unterstützung der Gruppen in Israel und den palästinensischen Gebieten, "die für Menschenrechte und eine solidarische Gesellschaft einstehen".

In China hat die "Blanko-Papier-Bewegung" den Faden wieder aufgenommen, den frühere Oppositionsbewegungen fallen lassen mussten, berichtet Verna Yu im Guardian. Bei Protesten hielten sie ein leeres weißes Blatt Papier hoch (mehr dazu hier). Inzwischen werden mehr und mehr von ihnen verhaftet oder stehen unter polizeilicher Überwachung. Dennoch: "Die Bewegung hat viele gewöhnliche junge Chinesen zu zufälligen Aktivisten gemacht, die unwissentlich Chinas angeschlagene Bewegung zur Verteidigung der Bürgerrechte wiederbelebt haben, die unter Xis jahrzehntelangem, eisernem Vorgehen gegen Aktivisten, Dissidenten, Anwälte und Nichtregierungsorganisationen fast vollständig ausgerottet wurde. ... Dr. Teng Biao, ein altgedienter Menschenrechtsaktivist, der 2003 an der Spitze der Bewegung zur Verteidigung der Rechte stand, meint, dass die Demonstranten heute einem viel höheren Risiko ausgesetzt sind, da die politische Situation repressiver sei. 'Die Bewegung zeigt aber auch, dass es den Menschen selbst unter der Hightech-Überwachung des diktatorischen Regimes gelungen ist, landesweite Proteste zu organisieren', sagt Teng, der jetzt Gastprofessor an der Universität von Chicago ist. 'Dies wird einen tiefgreifenden Einfluss auf Chinas demokratische Kämpfe in der Zukunft haben'."
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