9punkt - Die Debattenrundschau

Schluss mit Scholzing

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.02.2023. Dass ein solches Erdbeben kommen würde, war allen in der Türkei bewusst. Die Tausenden von Toten fallen direkt in Erdogans Verantwortung, schreibt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne.  Timothy Garton Ash warnt im Tagesspiegel vor einer chronischen Pattsituation im Ukraine-Krieg. Die Zögerlichkeit der westlichen Länder gefährdet diese selbst, so auch Richard Herzinger in seinem Blog. Die NZZ schildert unterdessen die propagandistische Gehirnwäsche der Russen anlässlich des Stalingrad-Jubiläums.  Die SZ hat recherchiert, wie das russische Internet gleichgeschaltet wird.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.02.2023 finden Sie hier

Europa

Dass ein solches Erdbeben kommen würde, war allen in der Türkei bewusst. Es hatte bereits 1999 ein ähnlich katastrophales Beben mit 17.000 Toten gegeben. Danach waren Bauvorschriften erlassen wurden. Doch die Gebäude, die seit 1999 gebaut wurden, stürzten ein wie Kartenhäuser, schreibt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne: "Seit 1999, davon 21 Jahre unter Erdogans Ägide, haben wir nahezu 44 Milliarden Euro Erdbebensteuer gezahlt, um in einem sichereren Land zu leben. Wofür dieses Geld ausgegeben wurde, haben wir nie erfahren. Keine der Anfragen der Opposition dazu wurde je beantwortet. Plätze sollten ausgewiesen werden, wo wir uns im Fall eines Erdbebens versammeln und sicher abwarten können. Unmittelbar nach 1999 geschah das auch. Doch vor allem in Städten wie Istanbul, wo die Grundstückspreise hoch sind, wurden die ausgewiesenen Sammlungsplätze entweder mit Einkaufszentren überbaut, oder Bauunternehmer erhielten die Erlaubnis, dort luxuriöse Wohngebäude hinzustellen."

Grotesk und verstörend liest sich, was die Literaturwissenschaftlerin Annette Werberger in der NZZ von den Feierlichkeiten in Wolgograd zum 80. Jahrestag des Sieges der Roten Armee über die deutsche Wehrmacht berichtet. Die Stadt wurde für den Tag in Stalingrad umbenannt, Internetverbindungen gekappt, neue Denkmäler für Stalin und weitere Marschalle enthüllt, Soldaten traten in alten NKWD-Geheimdienstuniformen auf und Flugblätter aus den vierziger Jahren wurden abgeworfen. "Beunruhigend ist insbesondere, dass in Wolgograd überall die Mitglieder der 'Junarmija' (Jugendarmee) in ihren rot-beigen Uniformen zu sehen waren. Die 2016 von Verteidigungsminister Schoigu initiierte Bewegung, die auf einem militaristischen Bildungsprogramm basiert, gewinnt in der Russischen Föderation immer stärker an Präsenz. Im Zentrum der russischen Geschichtspolitik steht nicht die Reflexion, sondern das Ritual. Kinder sollen nicht verstehen können, sondern nacherleben und nachfühlen müssen. Ganz bewusst arbeitet man das Trauma des Zweiten Weltkrieges in die Köpfe von Kindern und Jugendlichen ein, um sie für einen militärischen Einsatz gegen Nachbarvölker vorzubereiten. Im putinistischen Stalingrad des Jahres 2023 wird die Staffel des Abwehrkampfs, der angeblich allein von Russen ausgefochten worden war, von den letzten lebenden Veteranen an die jüngste Generation übergeben."

Zwei Punkte sind Timothy Garton Ash im Tagesspiegel wichtig: Den Begriff "Scholzing" - also "gute Absichten mitteilen, nur um dann jeden erdenklichen Grund zu nutzen/finden/erfinden, um sie zu verzögern und/oder zu verhindern" hat nicht er erfunden. Und: Jetzt muss Schluss mit Scholzing sein, ermahnt er einmal mehr die Deutschen: "Niemand weiß, was in diesem Jahr auf dem Schlachtfeld passieren wird, aber ein wahrscheinliches Ergebnis von unserer Langsamkeit und Zögerlichkeit ist eine Art eskalierende Pattsituation mit anhaltenden Grabenkämpfen, die denen des Ersten Weltkriegs ähneln. Am Ende des Kriegs könnte ein halb eingefrorener Konflikt stehen, bei dem Russland einen bedeutenden Teil des seit dem 24. Februar 2022 gewaltsam besetzten Gebiets behält. Zu Hause könnte Putin dann eine Art Sieg für sich beanspruchen, eine historische Rückeroberung zumindest eines Teils von Katharinas Großem 'Noworossija' (Neurussland), und damit auch die Lebensdauer seiner Tyrannei verlängern."

Die nach wie vor zu zögerlichen Waffenlieferungen westlicher Länder an die Ukraine erlauben den russischen Streitkräften, sich für eine neue Großoffensive zu reorganisieren, warnt auch Richard Herzinger in seinem Blog. "Sollte die Ukraine ihr nicht standhalten können, weil die westlichen Waffen- und Munitionlieferungen nicht ausreichen oder zu spät kommen, trüge der Westen eine schwere Mitschuld an dieser Katastrophe - mit verheerenden Folgen für seine eigene Sicherheit, die er sich noch immer nicht in vollem Umfang klar zu machen scheint."
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Medien

Ex-Magazin-Chefredakteur Finn Canonica hat in einem Brief, in dem er sich als "Opfer einer Intrige und Rufmordkampagne" darstellt, auf die Vorwürfe, die Anuschka Roshani im Spiegel erhoben hat (Unser Resümee), reagiert, berichtet Lucien Scherrer in der NZZ. "Die Frage ist, weshalb das 'System Canonica' bei Tamedia so lange geduldet wurde. Bereits am 5. Februar hat die Tamedia-Chefredaktion eine Stellungnahme veröffentlicht. Nach dieser waren Roshanis Vorwürfe erst seit Frühjahr 2021 bekannt. Damals protestierten über hundert Tamedia-Frauen gegen das ruppige und sexistische Arbeitsklima. Ein externes Anwaltsbüro, so die Chefredaktion weiter, habe während einer monatelangen Untersuchung festgestellt, dass der Magazin-Chef durch 'nicht angebrachtes Verhalten' aufgefallen sei und sich herablassend geäußert habe. Die Tatbestände der sexuellen Belästigung, des Mobbings und der Diskriminierung seien jedoch 'im Wesentlichen zu verneinen'. Man arbeite intensiv daran, die Redaktionskultur zu verbessern."

So viel ist sicher: Um Journalismus geht es Bertelsmann-Chef Thomas Rabe bei der Schleifung von Gruner und Jahr nicht, schreibt Laura Hertreiter, die für die SZ auch mit Manfred Bissinger, Zeitungsgründer und ehemaliger Stern-Chefredakteur gesprochen hat: "Die Strategie habe 'nur wenig mit Journalismus und Verlegerei, dafür aber sehr viel mehr mit dem Verkauf von Immobilien und Autos zu tun'. Die Ursache? 'Satt von ihren guten Gewinnen haben die Manager aus Gütersloh die digitale Revolution verschlafen.' Was Thomas Rabe jetzt mit RTL und Gruner + Jahr anstellt, ist eine Albtraum für die Belegschaft, für Hamburg, für Leserinnen und Leser. Und es ist ein gefährliches Szenario: Das Geschäft mit dem Schreiben, Dokumentieren und Unterhalten in Diagrammen zu bemessen, funktioniert nur sehr begrenzt. Wenn Medienunternehmer Publizistik verkaufen wollen wie Schrauben und Wurst, läuft etwas ganz grundsätzlich falsch."
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Politik

"Seit Jahren ist die Iran-Politik, egal unter welchem Außenminister, von Zurückhaltung gegenüber dem iranischen Regime und der Unterordnung von Menschenrechtsfragen geprägt", ärgert sich im Tagesspiegel die Ärztin und Politikwissenschaftlerin Gilda Sahebi. "Bisher gab es für das iranische Regime kaum Konsequenzen für die systematischen Menschenrechtsverletzungen. Die Sanktionsliste der Europäischen Union wurde zwar erweitert, aber nicht in einem Maße, dass es das Regime treffen würde. Zudem bleibt die Priorität der Atomverhandlungen bestehen, auch wenn das Auswärtige Amt öffentlich gerne anderes behauptet. (...)  Das Regime kann also sicher sein, dass die EU, komme was wolle, weiter mit ihm verhandeln wird. Das bedeutet Legitimation - überlebenswichtige Legitimation. Somit trägt die EU - und damit auch die Bundesregierung - unmittelbar zur Stabilisierung des iranischen Regimes bei."

Ebenfalls im Tagesspiegel denken die Politologin Muriel Asseburg, Carsten Ovens, Geschäftsführer von ELNET Deutschland e.V. und Omri Boehm darüber nach, ob die Zweistaatenlösung überhaupt noch eine Chance hat. Boehm meint: "Die Zweistaatenlösung ist nicht tot. Sie ist ein Gespenst: ein Wesen, das nicht mehr lebt, sich aber weigert, zu verschwinden. Die Palästinenser sind die Mehrheit, aber selbst die 'großzügigsten' Zweistaatenangebote geben ihnen die Souveränität nur über 22 Prozent des Landes. Ein solcher fauler Kompromiss kann keinen Frieden bringen. Außerdem leben in diesem Gebiet etwa 700.000 jüdische Siedler, von denen die große Mehrheit die Gebiete nicht verlassen würde."

Außerdem zum Thema: Im Aufmacher des FAZ-Feuilletons beklagt der Israel-Korrespondent Christian Meier die grausame Politik der Israelis in den besetzten Gebieten, die neue rechte Regierung wolle sogar die Entstehung von Filmen verhindern, die den Konflikt thematisieren.

Weiteres: Der ehemals renommierte Investigativjournalist Seymour Hersh behauptet in seinem Blog herausgefunden zu haben, dass die Amerikaner die Nordstream-Pipeline in die Luft gejagt hätten.
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Internet

Laila Oudray erklärt in der taz, was "Algospeak" ist, eine Umgehung bestimmter Begriffe um die zensorischen Algorithmen bei Tiktok oder auch Instagram auszutricksen: Also sagt man nicht mehr "white", sondern "YT". Besonders ausgegrenzt würden auf Tiktok (und auf Instagram auch?) Themen wie Homosexualität oder Rassismus."Was, wenn man über diese Themen posten möchte, ohne Reichweite zu verlieren? Man spricht eben anders. Mit Rechtschreibfehlern, Emojis und Sonderzeichen versuchen User*innen den tyrannisch herrschenden Algorithmus zu umgehen. Die Journalistin Taylor Lorenz von der Washington Post hat dem Phänomen eine eigene Bezeichnung gegeben: 'Algospeak'." Oudray findet das Thema gar nicht lustig und fordert Beauftragte: "Die Politik ist gefragt. Hier geht es nämlich nicht um eine kleine Plattform, wo sich irgendwelche Teenies tummeln, sondern um ein mächtiges Instrument, das schon jetzt die politische Debatte prägt."

Der SZ liegen zwei Millionen interne Dokumente vor, die von der Hackergruppe Belarusian Cyber Partisans geleakt wurden. Darin ersichtlich ist, wie die russische Aufsichtsbehörde Roskomnadsor (RKN) alle Informationskanäle in und nach Russland zu kontrollieren versucht: "Die Zensurbehörde RKN soll das russische Internet sauber halten, frei von Verstößen gegen die Gesetze und Regeln des Landes. Dazu gehören pornografische Inhalte mit Minderjährigen und Gewaltdarstellungen. Wegen solcher Inhalte ermitteln auch deutsche Staatsanwaltschaften und Polizeien, doch damit enden die Gemeinsamkeiten. Denn im russischen Internet ist es auch verboten, Bilder von nicht-heterosexuellen Beziehungen zu veröffentlichen oder den Angriffskrieg gegen die Ukraine als solchen zu bezeichnen. Artikel, Videos und andere Beiträge, die vom offiziellen Narrativ des Kremls abweichen, soll RKN schnellstmöglich zensieren. (…) RKN-Mitarbeiter gehen die Listen verdächtiger Posts durch, um die Stimmung in der Bevölkerung zu beobachten, frühzeitig auf regionale Protestaufrufe aufmerksam zu werden und Unruhestifter zu identifizieren. Verstößt ein Post oder Kommentar gegen russische Gesetze, stellt die Behörde Löschanfragen an Youtube, Facebook oder Odnoklassniki." Um das System zu perfektionieren, wird an "hauseigenen KI-Systemen" gearbeitet.

Künstliche Intelligenzen wie Chat-GTP basieren auf Wahrscheinlichkeitsrechnungen und führen dadurch mitunter in "Sackgassen", schreibt Andrian Kreye ebenfalls in der SZ: "Der australische Ökonom und Schachgroßmeister David Smerdon führte das vergangene Woche mit einer einfachen Frage an Chat-GPT vor: 'Welches ist die meistzitierte wirtschaftswissenschaftliche Arbeit aller Zeiten?' Die Antwort kam prompt: ',A theory of economic history' von Douglass North und Robert Thomas, die 1969 im Journal of Economic History veröffentlicht wurde.' Die beiden Autoren gibt es, die zitierte Arbeit aber nicht, deswegen konnte sie 1969 auch nicht in der englischen Fachschrift erscheinen. Hakt man in solchen Fällen bei Chat-GPT nach, beharrt die KI erst auf ihrem Fehler. Dann gibt es Ausreden. Ist man zu hartnäckig, meldet sich der Chatroboter mit einer Fehlermeldung ab."
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Ideen

Aleida Assmann denkt in der Zeit über Weisheit in Zeiten des Krieges nach. Immanuel Kant wirft sie vor, durch seinen kategorischen Imperativ die universelle Poesie der Weisheitsdevise "Was du nicht willst, das man dir tu', das füg auch keinem anderen zu" zerstört zu haben. Am Ende kommt sie zu dem Ergebnis, dass es weise sei, mitten im Krieg "an einer friedlichen Zukunft zu arbeiten".
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