9punkt - Die Debattenrundschau

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15.02.2023. In der SZ fordert Jürgen Habermas erneut Verhandlungen mit Russland. Vielleicht könnten globale Abrüstungsverhandlungen Putin locken, greift er einen Vorschlag des Osteuropaexperten Hans-Henning Schröder aus der FAZ auf. Der hatte allerdings erstmal Waffen für die Ukraine gefordert, anders werde Russland nicht an den Verhandlungstisch zu zwingen sein - womit wir wieder am Anfang wären! In der FR hofft die Philosophin Olivia Mitscherlich-Schönherr, "kluger Pazifismus" aus dem globalen Süden könne einen Waffenstillstand vorantreiben. In der taz fordert Ilija Trojanow mehr Aussichten auf Utopie. Zeit online fragt, seit wann Seymour Hersh unter die Verschwörungstheoretiker geraten ist.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.02.2023 finden Sie hier

Europa

Jetzt fordert auch Jürgen Habermas in der SZ erneut Verhandlungen der Ukraine mit Russland. Oder besser noch: der USA mit Russland, "gerade weil der Satz richtig ist: Die Ukraine darf den Krieg nicht verlieren! Mir geht es um den vorbeugenden Charakter von rechtzeitigen Verhandlungen, die verhindern, dass ein langer Krieg noch mehr Menschenleben und Zerstörungen fordert und uns am Ende vor eine ausweglose Wahl stellt: entweder aktiv in den Krieg einzugreifen oder, um nicht den ersten Weltkrieg unter nuklear bewaffneten Mächten auszulösen, die Ukraine ihrem Schicksal zu überlassen." Habermas' Vorschlag: Erst mal eine "Wiederherstellung des status quo ante vom 23. Februar 2022" in der Ukraine. Doch wie soll das gehen? Es gibt "kein Anzeichen dafür, dass sich Putin auf Verhandlungen einlassen würde", erkennt auch Habermas. Er hofft, ihn mit globalen Abrüstungsverhandlungen zu locken, wie es der Osteuropa-Experte Hans-Henning Schröder am 24. Januar in der FAZ vorschlug.

Schröder hatte in seinem Artikel tatsächlich sehr komplexe Abrüstungsverhandlungen vorgeschlagen. Aber Habermas ignoriert bequemerweise den zweiten Teil des Artikels, in dem Schröder klar macht, dass die russische Führung "gegenwärtig keinerlei Bereitschaft zeigt, sich ernsthaft auf Verhandlungen einzulassen. Außenminister Lawrow erklärte am 27. Dezember 2022, dem 'Feinde' seien die Bedingungen für die Beendigung des Krieges - Demilitarisierung und Denazifizierung - gut bekannt. Er könne sie 'im Guten' erfüllen. Andernfalls werde die russische Armee diese Angelegenheit klären. Ein Verhandlungsangebot ist das nicht. ... Die russische Seite wird nur bereit sein, sich auf ernsthafte Verhandlungen einzulassen, wenn die Ukraine in die Lage versetzt wird, die Frühjahrsoffensive 2023 zurückzuschlagen und dann fortgesetzt Druck auf die russischen Streitkräfte auszuüben. Dazu müssen die USA und die übrigen NATO-Staaten die ukrainischen Streitkräfte noch vor dem Frühjahr 2023 durch Lieferungen von Munition und schweren Waffen - Artillerie und Kampfpanzern - in den Stand versetzen, sich gegen die russische Übermacht zu behaupten." Womit Jürgen Habermas dann doch leider die Antwort auf die Frage schuldig bleibt, wie man Russland zu Verhandlungen bewegen soll, ohne die Ukraine einfach auszuliefern.

In der FR unterscheidet die Philosophin Olivia Mitscherlich-Schönherr indes zwischen dem "einfachen Gesinnungspazifismus" von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht und "politisch klugem Pazifismus", den sie offenbar für sich in Anspruch nimmt. Und danach gilt es erst einmal anzuerkennen, dass Deutschland längst selbst "Kriegspartei", somit mitverantwortlich für "Zerstörung, Tod und Leid" ist und nicht mehr als Vermittler agieren kann: "In dieser Situation täte der globale Norden gut daran, endlich seine Arroganz gegenüber den Ländern des globalen Südens aufzugeben. Wir brauchen ihre Hilfe: als wirkliche Schlichter jenseits der eingespielten Konfliktlinien. Hier hätte der Bundeskanzler etwas zu leisten. Geschickt hat er im vergangenen Jahr immer aufs Neue westliche Koalitionen geschmiedet, um der Ukraine deutsche Waffen im Konzert der westlichen Partner zu liefern. Jetzt sollte er globalen Allianzen den Boden ebnen, um die deutschen Waffenlieferungen zu beenden. Dabei könnte der Bundeskanzler den Ball aufnehmen, den der brasilianische Präsident Lula ihm kürzlich zugespielt hat. Weitere neutrale Mächte wären dazuzubitten: Indien, Südafrika, Israel."

Zwei fundamentale Probleme macht Nils Markwardt in Schwarzers und Wagenknechts "Manifest für Frieden" in einem "Kalte Kriegerinnen" überschriebenen Text auf ZeitOnline aus: An keiner Stelle wird konkretisiert, wie die geforderten Kompromisse aussehen könnten - und: "Die Unterzeichnerinnen scheinen den Krieg in der Ukraine auf der Folie des Kalten Kriegs zu betrachten. Demnach gäbe es hier Konfliktparteien, die geopolitische Interessen verfolgen, die zwar diametral gegensätzlich sein mögen, aber durch Kompromisse austariert werden können. Doch wie der Politikwissenschaftler Ivan Krastev bemerkt hat, ist diese Annahme falsch. Vielmehr haben wir es hier mit einem 'Krieg um Identität' zu tun. Denn im Kern, so Krastev, geht es Putin darum, dass die Ukraine Russland so sehen soll, wie Russland sich selbst sieht: als Herrscher über das kleine Brudervolk, als Führungsmacht gegen den satanisch-dekadenten Westen. Doch wenn man es im Fall des Ukraine-Kriegs nicht 'nur' mit einem Interessenkonflikt zu tun hat, sondern Putin von einer derartigen Identitätspanik befallen ist, dass der Kreml sogar massenweise ukrainische Kinder zur 'Russifizierung' zwangsdeportieren lässt, verändert sich auch der Möglichkeitsraum potenzieller Verhandlungen."

Es ist höchste Zeit, auch westliche Russlandstudien und Fachkompetenz zu "dekolonisieren", schreiben der Historiker Artem Shaipov und die ukrainische Politikberaterin Yuliia Shaipova in Foreign Policy. Dass Russland eine jahrhundertelange Geschichte als imperialistische Macht hatte, die sich allerdings weniger durch Kolonisierung externer Gebiete als Eroberung benachbarter Regionen auszeichnete, haben westliche Russlandstudien jahrzehntelang sträflich missachtet, so die Autoren. Das liegt daran, dass die meisten Institute zu Zeiten des Kalten Krieges gegründet wurden und dadurch eine Fixierung auf die Moskauer Perspektive beibehielten. "Heute haben die meisten dieser Programme, auch wenn sie das Wort 'sowjetisch' aus ihrem Namen gestrichen haben, diese alte, Moskau-zentrierte Sichtweise übernommen, die Russland mit der Sowjetunion gleichsetzt und die reiche Geschichte, die vielfältigen Kulturen und die einzigartigen nationalen Identitäten Osteuropas, der baltischen Staaten, des Kaukasus und Zentralasiens herunterspielt - ganz zu schweigen von den vielen eroberten und kolonisierten nicht-russischen Völkern, die weite Teile der Russischen Föderation bewohnen."

"Ich habe unser Volk noch nie so wütend gesehen", schreibt der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk in einer Reportage in der SZ, in der er berichtet, wie die Menschen, wenn sie nicht gerade zwischen den Trümmern nach Überlebenden suchen, in den sozialen Medien verzweifelt nach Hilfe rufen: "Die Hilfslieferungen sind unterwegs, aber die mit Hilfsgütern beladenen Lastwagen stecken stundenlang auf verstopften Straßen fest, Hunderte Kilometer von den betroffenen Gebieten entfernt. Die Menschen, die ihre Häuser, ihre Familien, ihre Lieben und alles, was sie besaßen, verloren haben, stellen fest, dass niemand etwas gegen die Brände unternimmt, die nun in ihren Städten ausbrechen. Und so blockieren sie den Weg jedes offiziellen Fahrzeugs, jedes Polizisten oder Politikers, den sie finden können, und beginnen zu protestieren."

"Eine Amnestie für Gebäude ohne Genehmigungen hat wohl zu den mittlerweile fast 32.000 Toten infolge des Erdbebens in der Südosttürkei beigetragen", berichtet in der taz Ali Çelikkan. "Im ebenfalls betroffenen Nordwesten Syriens starben über 3.500 Menschen. 294.000 Gebäude im türkischen Teil des Erdbebengebiets, die zuvor ohne Genehmigung gebaut wurden, wurden im Rahmen einer Amnestie der regierenden Partei AKP anerkannt - alleine im Jahr 2018. Dies war damals die neunte Amnestie, die die AKP in ihrer zwanzigjährigen Regierungszeit durchführte. Gegen eine Geldsumme wurden dabei auch mangelhaft gebaute Gebäude für bewohnbar erklärt. Wenn es das Erdbeben nicht gegeben hätte, würde jetzt wohl eine zehnte Amnestie im Parlament diskutiert werden."

Den von der Bundesregierung veröffentlichten Plan zur "Bekämpfung des Antisemitismus und zur Förderung jüdischen Lebens in Deutschland" begrüßt Amir Avivi, Vorsitzender der NGO "Israel Defense and Security Forum" in der Welt zwar. Beunruhigend aber findet er, dass "zwei der abscheulichsten modernen Befürworter von Judenhass und Gewalt gegen Juden auf deutschem Boden und in der ganzen Welt in dem Bericht nicht ein einziges Mal genannt werden: die Palästinensische Autonomiebehörde und die Islamische Republik Iran. Beide fördern offiziell die institutionalisierte Holocaust-Leugnung auf allen Regierungsebenen, vergiften ihre Schüler mit hasserfüllter Hetze gegen Juden und den jüdischen Staat, und ihre führenden Köpfe rufen offen zur Vernichtung Israels auf. (…) In Anbetracht seiner einzigartigen historischen Rolle sollte Deutschland seine großzügige Finanzhilfe für die Palästinensische Autonomiebehörde sowie seinen umfangreichen Handel mit der Islamischen Republik Iran an die Bedingung knüpfen, dass beide ihre Politik in Bezug auf Judenhass und Aufwiegelung gegen Israel unverzüglich ändern."
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Gesellschaft

Immer diese Untergangsklagen, beschwert sich Ilija Trojanow in der taz. Mal in der Ukraine, dann in Lützerath: "High Noon in Niederrhein" habe man dort prophezeit, und was sei passiert? "Das selbstorganisierte Wirken von Tausenden von Menschen (ein beeindruckendes Panorama der Klimabewegung von gemäßigt bis radikal), die auf basisdemokratische Weise ein funktionierendes Kollektiv formten. Die Küche für alle musste auf die Teller gebracht, ein hierarchiefreies Plenum moderiert werden. Übungen in Zukunft, Aussichten auf Utopie. Wenn von einem Kristallisationspunkt gesprochen wurde, so meinte das auch die Errichtung eines Labors der Solidarität, einer lokal fokussierten Universalität. Es gab, so berichten alle drei Aktivistinnen, ein Gefühl der Dringlichkeit, aber nicht der Panik. Dieses Zurückerobern von Freiräumen ist Teil des utopischen Projekts, das jeder wirklichen Veränderung vorausgeht. Das verstehen die führenden Asphaltköpfe der Grünen nicht. Es geht nicht um legalistische Sachzwänge, es geht um ein Gelegenheitsfenster, inmitten von Zerstörung etwas Neues erblühen zu lassen, und somit den Hauch einer anderen, besseren Heimat."
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Stichwörter: Trojanow, Ilija

Medien

Der einst sehr renommierte amerikanische Investigativjournalist Seymour Hersh hat in seinem Substack-Newsletter behauptet, der amerikanische Geheimdienst habe mit Hilfe der Norweger die Ostseepipelines Nordstream 1 und 2 gesprengt. In einem langen Interview mit der Berliner Zeitung darf er seine Theorie ohne jede kritische Nachfrage ausführlich darlegen. Es ist die taz, die darauf hinweist, dass der Text gegen journalistische Standards verstößt, weil er sein Wissen aus nur einer und dann noch anonymen Quelle bezieht: "Hershs Grundproblem ist die mehr als dürftige Faktenlage", schreibt Pascal Beucker. "Er kommt vollständig ohne Beweise aus. Das alleine macht die Geschichte zwar noch nicht unseriös. Aber wenn sich der altgediente Journalist stattdessen ausschließlich auf eine einzige anonyme 'Quelle mit direktem Wissen über die operative Planung' beruft, ist das zu wenig, um journalistischen Standards zu genügen. Dafür hätte er sich wenigstens an das Zweiquellenprinzip halten müssen, das verlangt, dass eine Information durch zwei zuverlässige und unabhängige Quellen bestätigt wird. Das soll davor schützen, Räuberpistolen aufzusitzen. Der vermeintliche Whistleblower hätte also Ausgangs-, nicht Endpunkt der Recherche sein müssen."

Auf Zeit online ist Carsten Luther enttäuscht von einem Reporter, der einst große Verdienste hatte, jetzt jedoch mehr und mehr unter die Verschwörungstheoretiker rutscht.

"ONE" nennt Bertelsmann das Projekt, in dem skizziert wird, wie der Konzern etwa tausend Stellen bei Gruner und Jahr abwickeln will, weiß Anna Ernst, die für die SZ in interne Unterlagen blicken konnte: "Die Chefs sollen drei Aspekte beachten: Im ersten Schritt geht es RTL zufolge darum anzuerkennen, 'was ist'. In dieser Zeit voller Ängste, Unsicherheiten, Stress und Spannungen sollen die Vorgesetzten 'Vertrauen schenken, psychologische Sicherheit sicherstellen, Halt geben, ehrlich kommunizieren, Orientierung und Sinn vermitteln'. RTL rät, gendernd und kumpelhaft duzend: 'Die Unsicherheit bei deinen Mitarbeiter:innen wird hoch sein. Sprich dies offen und ehrlich in deinen Teams an. Biete Dialog und Austausch an.'" In einer weiteren Handreichung gibt RTL Tipps, wie auf Sorgen der Mitarbeiter reagiert werden kann: " 'Wie könnt Ihr mir (uns) das nach so vielen Jahren antun?' - 'Deine Enttäuschung und Wut können wir nachvollziehen. Die Entscheidungen, die getroffen wurden, sind keine Entscheidungen gegen dich als Mitarbeiter, sondern Entscheidungen, um die Zukunftsfähigkeit von RTL Deutschland zu sichern.'"
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