9punkt - Die Debattenrundschau

Ein aufreizend apolitisches Moment

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.02.2023. Habermas' Plädoyer für Verhandlungen löst eine Flut von Reaktionen aus. Die Kritik überwiegt: Nach wie vor, so einer der Vorwürfe, gestehe Habermas den Ländern Osteuropas in seiner Block-Logik "keine Agency eigenen Rechts" zu. Auch sonst gibt es kurz vor dem Jahrestag des Kriegsbeginns eine Menge Texte, unter anderem von Marci Shore und Alexander Kluge. Can Dündar und Asli Erdogan benennen unterdessen in Zeit und FAZ Tayyip Erdogans Mitschuld an den vielen Erdbebentoten. Und der Traum von der schottischen Unabhängigkeit ist vorerst passé.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.02.2023 finden Sie hier

Europa

Der gestrige Habermas-Text in der SZ (unser Resümee) hat eine Fülle von Antworten ausgelöst.

Erste Reaktionen auf Twitter benennen die größten Schwächen des Textes. "Wie die Souveränität und Sicherheit der Ukraine gegen ein Russland, das eine unabhängige Existenz der Ukraine beenden will, durchzusetzen ist - diese Problemstellung taucht bei Habermas nicht einmal erkennbar auf", schreibt der Publizist Ulrich Speck. Habermas verstehe nicht, "dass ein Frieden nicht allein vom Territorium abhängt, sondern von Sicherheiten", schreibt die Historikerin Annette Werberger -  "er sieht nicht, dass Russland die Ukraine als Anti-Russland schlichtweg vernichten möchte. Dieses russische 'Ziel', das ein Frieden lösen muss, kommt nicht vor." Habermas wiederhole den Grundfehler vieler deutscher Intellektueller, "für die Ostmittel- und Osteuropa eine Region ist, der keine Agency eigenen Rechts zugestanden wird", meint der Historiker Bert Hoppe. "Sie ist nur Opfer, schlimmstenfalls Störenfried. In diesem Text irritiert vor allem, dass Habermas dem Westen (denn die Ukraine spielt für ihn nur eine nachgeordnete Rolle) die wesentliche Verantwortung für die Fortdauer des Krieges auflädt."

Man sollte Habermas nicht auf eine Stufe mit dem Äquidistanz-Pazifismus von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht stellen, meint Tobias Rapp im Spiegel, der Habermas' differenzierte Argumentation nachzeichnet. Am Ende sei sie allerdings ratlos. Sie laufe darauf hinaus, dass der Westen irgendwann sagen solle, " jetzt ist Schluss, es sind genug Menschen gestorben. Aber genau hier fangen die Probleme an, auf die Habermas keine Antwort hat: Wem soll der Westen das sagen? Dem russischen Präsidenten? Nach allem, was man über die Telefonate von Olaf Scholz und Emmanuel Macron mit dem Kreml weiß, haben diese Versuche nicht sonderlich viel gebracht. Bleiben die Ukrainer. Aber kann das die Maßgabe des westlichen Handelns sein?"

Christian Geyer beobachtet in der FAZ, dass Habermas Verhandlungen gutheiße, "ohne Wege aufzuzeigen, wie sie gelingen oder auch nur aufgenommen werden könnten. Insofern eignet dem Text ein aufreizend apolitisches Moment, das der politisch-moralischen Vehemenz seines Tenors eigentümlich entgegenläuft."

Haarsträubend findet "abhs" in einem Perlentaucher-Kommentar Habermas' Verdun-Vergleich: "Hier schlafwandelt niemand in einen Abnutzungskrieg. Was für ein Popanz, tausenden von Profis in den demokratisch gewählten Regierungen Europas und Nordamerikas zu unterstellen, sie würden twitterverstrahlt um die schlagkräftigsten Rüstungslieferungen wetteifern und dabei mögliche Wege der Deeskalation gar nicht mehr wahrnehmen und schließlich verbauen. Die Herausforderung besteht gerade darin, gegen ein herabgewirtschaftetes, brutalisiertes und deshalb hochaggressiv imperialistisches Russland standzuhalten, obwohl man nicht weiß, wie lange es nötig sein wird und welche Auswege sich finden könnten. Widerstand ist schlichtweg die einzige Option, wenn man nicht in fatale Abhängigkeiten und eine ständige Bedrohungslage geraten will."

In der FR stört sich Michael Hesse vor allem daran, dass Habermas den Weg der westlichen Staaten, die versichern, die Ukraine so "lange wie nötig" zu unterstützen, als "Schlafwandeln am Rande des Abgrunds" bezeichnet. Schon Christopher Clark "war für den Gebrauch des Wortes 'Schlafwandler' kritisiert worden. Er bezog sich damit auf eine Aussage des damaligen britischen Kriegspremiers Lloyd George, die Staaten seien in den Weltkrieg unbeabsichtigt 'hineingeschlittert'. Ein früherer guter Bekannter und Gummersbacher Schulfreund von Habermas, der Historiker Hans-Ulrich Wehler, hatte Clark massiv dafür kritisiert. Denn man verschleiere so besonders die deutsche Schuld an dem Kriegsausbruch im Juli 1914. Habermas scheint sich nun daran nicht zu stören. Und so unterstellt er der internationalen Staatengemeinschaft eine ähnliche Sorglosigkeit wie dem imperial ausgerichteten Deutschen Reich vor dem Ersten Weltkrieg."

Im Tagesspiegel begrüßt Gregor Dotzauer hingegen den Text, der "mit größtmöglicher Nüchternheit die historische Verpflichtung des Westens analysiert, die Waffenlieferungen an ein Bemühen um kompromiss- und verlustbereite 'Verhandlungen' zu knüpfen (…) Habermas artikuliert sehr viel klarer als die naiven Friedenstauben von links und rechts, dass die bellizistische Option allein auf Dauer nicht tragen wird. Man könnte ihm höchstens vorhalten, dass er gegenüber dem Rationalen wieder einmal das Agonale unterschätzt."

Auch sonst gibt es heute eine Menge Texte zum Krieg.

Die Zeit fragt einige Intellektuelle: "Wie soll das enden?" Marci Shore rät: "Wenn die Deutschen wirklich eine historische Schuld gegenüber den Russen empfinden, dann sollten die Deutschen den Ukrainern gerade jetzt die Waffen liefern, die sie brauchen. Wladimir Putin wird sein eigenes Volk ausbluten lassen, bis er besiegt ist." Eva Illouz' Antwort lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig: "Ich wünsche mir einen totalen und vernichtenden Sieg für die Ukraine, weil die Russen täglich Verbrechen gegen die Menschlichkeit verüben, die nicht ungesühnt bleiben dürfen." Ratlos in der Zirkuskuppel dagegen Alexander Kluge: "Es ist gewiss eine kontrafaktische Vorstellung, dass Russland und die Ukraine und der Westen gemeinsam Mariupol wieder aufbauen. Nichts ist weiter von der Realität entfernt als ein solches Bild. Und doch gehört so etwas zum Aufribbeln der Verknäuelung."

Einem Teil der deutschsprachigen Öffentlichkeit fällt es offenbar schwer, Russland als Aggressor zu benennen, stattdessen muss sich die Ukraine rechtfertigen, schreibt der ukrainische Schriftsteller Nikolai Klimeniouk in der NZZ unter anderem mit Blick auf Schwarzer-Wagenknechts "Manifest für Frieden": "Seine Wortwahl ist nicht untypisch für den deutschen Ukraine-Diskurs. Das Wort 'Bevölkerung' suggeriert, dass es wahrscheinlich doch kein eigenständiges ukrainisches Volk gibt, wie es zum Beispiel der Altkanzler Schmidt 2014 behauptete, oder dass russischsprachige Ukrainer nicht dazugehören. Diese Vorstellung ist so hartnäckig, dass im Manifest sogar das 'traumatisierte Volk' in einem Atemzug mit den russischen Opferzahlen genannt wird. 'Der Angriff' auf die Krim ist nur einen Tick heftiger als die sonst üblichen Formulierungen 'Rückeroberung' oder 'Geländegewinn', mal ist vom ukrainischen Geländegewinn die Rede, mal vom russischen, als ginge es um ein Spiel, und Territorien wären der Preis. Da klingt auch die Idee nicht ganz verkehrt, die Ukrainer sollten doch nicht so kleinlich sein und auf ein bisschen Gelände verzichten."

Außerdem: In der FAZ zeichnet Niklas Bender die bislang reichlich lahme französische Debatte zum Krieg nach - aber auch in Frankreich gibt es eine traditionelle und massive Russophilie vieler Intellektueller und Politiker, die aufzuarbeiten wäre. In der Welt denkt der Militärstratege Edward Luttwak über denkbare Auswege für Putin nach.

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Der Traum von der schottischen Unabhängigkeit ist mit Nicola Sturgeons Rücktrittsankündigung vorerst ausgeträumt, meint Daniel Zylbersztajn-Lewandowski in der taz. Sie habe eine dreifache Niederlage erlitten: "Zunächst ist es Sturgeons schottischer Nationalpartei SNP, die die Unabhängigkeit anstrebt, nicht gelungen, den britischen Supreme Court von einem zweiten Referendum zur Unabhängigkeit zu überzeugen. Eigentlich wollte Sturgeon das Referendum im Oktober 2023 abhalten lassen. Dann scheiterte sie erneut an der Regierung in Westminster: Das in Schottland beschlossene und hoch umstrittene Gesetz, das eine Geschlechtsangleichung für trans Personen ohne medizinische Diagnose möglich machen sollte, wurde von der Zentralregierung blockiert." Und dann kam noch eine Korruptionsaffäre hinzu. Im notgedrungen weiter Vereinten Königreich ist Sturgeons Rücktritt Thema Nummer 1, wie eine Presseschau des Guardian zeigt.

Sehr bitter wiederholt Can Dündar in der Zeit den Vorwurf der Korruption, die für viele Erdbebentote in der Türkei mitverantwortlich sei: "Wer nach dem Erdbeben Fragen stellte, hatte schnell die Polizei vor der Tür. Hätte der Sicherheitsapparat ebenso auf das Beben reagiert wie auf die Kritik, hätten Zehntausende überleben können. In der Geisteshaltung, mit der Stadtplaner inhaftiert wurden, weil sie gegen renditegetriebene Bautätigkeit und Bebauung von Erdbeben-Sammelplätzen protestiert hatten, war die Spitze der Katastrophenschutzbehörde Afad mit einem fachfremden Theologen besetzt worden. Ebendiese Behörde lehnte zum Schutz der Opfer vor Kälte gespendete Fleecejacken ab, weil diese das Logo einer Biermarke trugen. Man könnte sagen, das Erdbeben legte auch den politischen Islam in Trümmer."

Im FAZ-Gespträch mit Karen Krüger prangert auch Asli Erdogan die sehr langsam einsetzende Hilfe an: "Neunzig Prozent der Opfer hat die türkische Politik zu verantworten... In dieser Geschichte greifen sehr viele ungute Entwicklungen ineinander. Da ist zum einen die fortschreitende Monopolisierung in der Türkei. Fast alles ist in den Händen Erdogans, seiner Leute, seiner Partei, der AKP. Das blockiert jetzt alles."

"Seit 2014 starben allein im Mittelmeer über 25.000 Menschen beim Versuch, Europa zu erreichen", schreibt der Soziologe Ruud Koopmans in der NZZ. Damit sei die Asylmigration nach Europa das Migrationssystem, das am meisten Tote fordere. Deshalb fordert er eine Reform des Asylsystems, das ein jährliches Kontingent für humanitäre Zuwanderung festsetzt und wirkungsvollere Rücknahmeabkommen einschließt. Vor allem aber plädiert er für die Verlagerung der Asylverfahren in Länder außerhalb der EU: "Nirgends im internationalen Flüchtlingsrecht ist festgelegt, dass Asylbewerber das Recht haben, sich auszusuchen, in welchem Land sie Schutz erhalten wollen. Entscheidend ist, ob ein Drittstaat ein faires Asylverfahren garantiert und das Prinzip der Nichtzurückweisung (non-refoulement) in Verfolgerstaaten respektiert. Nur mit einer Verlagerung von Asylverfahren in Drittstaaten können die Aufnahmekapazitäten frei gemacht werden, mit denen eine großzügige Aufnahme von Schutzbedürftigen über humanitäre Programme möglich wird."
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Ideen

Ausgelöst durch die Forderung der "Letzten Generation", einen Gesellschaftsrat zu bilden, der aus zufällig ausgelosten Staatsbürgern besteht, widmet sich die SZ im Feuilleton-Aufmacher heute der Krise der Demokratie. Oliver Weber, mit der Idee sympathisierend, konkretisiert: "Bindend seien die Maßnahmen, die die ausgelosten Bürger darin erarbeiten sollen, nur dank einer freiwilligen Selbstverpflichtung der Bundesregierung: Sie 'gibt vorher öffentlich bekannt, die Empfehlungen des Gesellschaftsrats, also den Willen der Gesellschaft, 1:1 umzusetzen'. Eigentlich erstaunt es, wie wenig revolutionär dieser Vorschlag ausfällt: In ihm drückt sich ein ungebrochenes Vertrauen in die Kraft der politischen Öffentlichkeit und die Ehrlichkeit politischer Eliten aus - bei völligem Verzicht auf institutionelle Eingriffe, die wirklich verfassungsrevolutionären Charakter hätten, wie etwa Plebiszite, imperative Mandate oder gar das ehedem bei linken Bewegungen beliebte Überführen der Produktionsmittel in demokratische Hände."

Gustav Seibt versucht dem Unbehagen der Klimaaktivisten an der Demokratie auf den Grund zu gehen. Den Parteien mangelt es an Nachwuchs, Parteiarbeit ist unattraktiv geworden, schreibt er: "Schon vor einem Jahrzehnt beschrieb der Staatsrechtler Christoph Möllers die verbreitete Neigung, sich lieber 'zivilgesellschaftlich' für ein konkretes, gern moralisches Ziel zu engagieren als in eine Partei zu gehen, als Krisensymptom. Parteien sind, weil ihre Programme breite Gebiete abdecken und aus komplexen Verhandlungen hervorgehen, für den einzelnen Bürger mit seinem moralischen Impuls oft unbefriedigend. Sie sind Gesellschaft mit ihren Widersprüchen im Ausschnitt - ein Milieu. In zivilgesellschaftlichen Gruppen - der Bürgerinitiative, der Protestgruppe, der Umweltorganisation, der Pressuregroup für Minderheitenrechte - ist die Aussicht auf Übereinstimmung und soziale Homogenität deutlich größer. Auch hier kann man delegieren und sich gut dabei fühlen, durch Spenden, Petitionen und die Finanzierung professioneller Kampagnenführer."
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Religion

Walter Homolka ist als einflussreichster Repräsentant des liberalen Judentums in Deutschland nach einer Missbrauchsaffäre um seinen Ehemann und vielen anderen Skandalen gründlich gerupft worden (unsere Resümees). Nun berichtet Heike Schmoll in der FAZ über Homolkas Dissertation am Londoner King's College und wirft Homolka vor, dass zumindest in der akademischen Version, die ihm den PhD-Titel einbrachte, sechzig Seiten einer unveröffentlichten Examensarbeit der Theologin Dorothee Schlenke praktisch wortgleich übernommen worden sind. "Die Dissertation umfasst insgesamt 240 Seiten Text mit Fußnoten unterhalb des Textes und 27 Seiten Literaturverzeichnis. Ein Viertel der Dissertation erweist sich nun nach Recherchen der FAZ als Plagiat. Konkret geht es um die Kapitel 3 bis 6 auf den Seiten 43 bis 106 in Homolkas englischer Dissertation."
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Gesellschaft

In der Welt fordert der Virologe Hendrik Streeck eine "konsequente Aufarbeitung" von Fehlern während der Pandemie. Zehn Lehren gelte es zu ziehen, darunter: "Debattenkultur leben. Die Wissenschaft lebt von Diskussionen unterschiedlicher Positionen. Wir sollten nie mehr an einen Punkt kommen, wo Einzelne meinen, die Vielfältigkeit der Wissenschaft allein zu verstehen und beurteilen zu können, was richtig oder falsch ist. Dass es eine polarisierte Lagerbildung der zugespitzten Meinungen gab, hat nüchterne, wissenschaftliche Perspektiven in politische Lager zwangssortiert."

Birand Bingül, Autor und früherer WDR-Kommunikationschef macht in seinem Buch "Alles Propaganda" die Propaganda als "größtes Ungeheuer der Gegenwart" aus. Propaganda will die liberale Demokratie zerstören, sagt er im SZ-Gespräch mit Niklas Elsenbruch, in dem er auch Propaganda von Populismus unterscheidet: "Populismus ist eine Form von Politik, die Menschen nach dem Mund redet und als Volksnähe sogar ihr Gutes haben kann. Propagandisten hingegen missbrauchen strategische Kommunikation aufs Übelste für ihre Zwecke. Sie suchen sich eine politische Idee, mit der sie sich außerhalb des Parteienspektrums platzieren. Das unterstreichen sie, indem sie Kommunikationsnormen brechen, Repräsentanten des Systems angreifen und Verschwörungsbehauptungen nutzen. So gewinnen sie Gefolgschaft und Macht um der Macht willen. Da können wir Trump nehmen, die AfD, den Front National, die PiS in Polen, Viktor Orbán oder auch Erdoğan. Ihre Propaganda ist viel größer und wirkmächtiger als der plumpe Populismus."
Archiv: Gesellschaft