9punkt - Die Debattenrundschau

Diesbezüglich nicht im Bilde

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.02.2023. Verhandlungen? "Der russische Diktator allein ist die Figur, die über den Anfang entschieden hat und die das Ende bestimmen wird", schreibt Stefan Kornelius in der SZ - und die Zeit wird zu Putins neuer Waffe. In der taz analysiert Anastasia Tikhomirova das zutiefst irrationale Verhältnis der deutschen Linken zu Russland und erkennt auf einen "Antiimperialismus der Idioten". In der Financial Times korrigiert die Historikerin Mary Elise Sarotte einige von Putins Geschichtslügen. Die FR bringt ein großes Webspecial zum dritten Jahrestag des Anschlags von Hanau.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.02.2023 finden Sie hier

Europa

Die Münchner Sicherheitskonferenz und der Jahrestag von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine überschneiden sich fast. Die Zeitungen sind voll mit Artikeln zum Thema. Wahr ist, schreibt Tanja Tricarico in der taz, "dass die vergangenen Monate geprägt waren von der bitteren Erkenntnis, dass Dialog, Diplomatie, wirtschaftliche Beziehungen oder Sanktionen weder einen Krieg verhindern noch beenden. Um die Ukraine auch nur annähernd in eine Verteidigungsposition gegenüber Russland zu bringen, musste ihr Militär aufgerüstet werden und wird dies auch noch in naher Zukunft von den westlichen Verbündeten."

Die Zeit wird zu Putins wichtigster Waffe, notiert Stefan Kornelius in der SZ, der über die Rufe nach Verhandlungen nur den Kopf schütteln kann: "Der russische Diktator allein ist die Figur, die über den Anfang entschieden hat und die das Ende bestimmen wird. Diese Offensichtlichkeit ist vielen aus dem Blick geraten. Sie gestehen Putin eine Rationalität zu, die eher dem eigenen Bedürfnis nach einem schnellen Kriegsende entspricht und die sich mit wachsender Kriegsdauer in der Relativierung und Verharmlosung ausdrückt."

Ist der Krieg Alltag geworden? Für die taz denkt die aus Cherson berichtende Anastasia Magasowa darüber nach: "Heute wundert es niemanden mehr, wenn Lehrer*innen ihre Schüler*innen online aus U-Bahn-Stationen unterrichten. Wenn Eltern das Essen für ihre Kinder in Mikrowellen an Tankstellen erhitzen, weil es nur dort Strom von Generatoren gibt. Studierende schreiben ihre Arbeiten in Einkaufszentren, weil sie da Zugang zum Internet haben. Ärzt*innen operieren und entbinden Babys in Kellern, im schwachen Licht von Smartphones. Männer sehen ihre Kinder und Ehefrauen das ganze Jahr über nur auf den kleinen Bildschirmen ihrer Telefone."

Anastasia Tikhomirova schreibt in der taz zwar über die eher aktivistische und Betonlinke und ihr Verhältnis zu Russland. Aber lässt sich ihre Kritik an ihr nicht bis hin zur SPD fortschreiben? "Getrieben von einem regressiven Antiamerikanismus und der Romantisierung Russlands als Nachfolger der Sowjetunion, findet in Teilen der Linken eine Überidentifikation mit dem 'Anti-Westen' statt...  Aus einer solchen Perspektive ist die Ukraine noch immer eine Pufferzone für russische und westliche Interessen, sind ihre Bürger:innen US-Marionetten und nicht autonome Subjekte. Ähnlich duckten sich Linke auch bei der Unterdrückung der Revolution in Belarus 2020 weg, den blutig niedergeschlagenen Protesten in Kasachstan 2022, beim russischen Krieg gegen Georgien 2008 oder bei den beiden Tschetschenienkriegen, die etwa 200.000 zivile Opfer forderten…  Die syrische linke Autorin Leila Al-Shami benannte dieses Verhalten in einem Text 2018 als 'Antiimperialismus der Idioten'."

Die SZ rekonstruiert unter anderem im Aufmacher von Daniel Brössler und Nicolas Richter die ungeheure Schlafmützigkeit - lässt sie sich wirklich als "Naivität" bezeichnen, oder handelt es sich nicht eher um kriminellen Hochmut? - der deutschen Politik unmittelbar vor dem Krieg. Olaf Scholz glaubt noch Tage vor dem Kriegsbeginn an Nordstream 2. Auch der BND hat übrigens versagt: "Während sich in den USA und bei der Nato Warnungen vor einem unmittelbar bevorstehenden Angriff verdichten, ist das Kanzleramt am Abend des 23. Februar 2022 diesbezüglich nicht im Bilde. So gehen an diesem Abend in der Regierungszentrale keine Berichte des Auswärtigen Amts, des Verteidigungsministeriums oder des BND über den nahenden Kriegsbeginn ein. Scholz beruft keine Krisenrunde ein." Der Spiegel berichtet unterdessen, dass der jüngst festgenommene russische Spion im BND den Auftrag hatte, ukrainische Flugabwehrstellungen an Moskau zu verraten.

Außerdem in der taz: Inna Hartwich schildert, wie Putins Repressionsapparat jede Regung des Protests in Russland erstickt hat. Der einstige Greenpeace- und Foodwatch-Chef Thilo Bode unterstützt im Gespräch mit tazler Jan Feddersen den Schwarzer-Wagenknecht-Aufruf.

Putins Wut über Kiew ist die Ursache seines Krieges, der bereits Zehntausende Todesopfer gefordert hat, viele davon russische Soldaten, schreibt die Historikerin Mary Elise Sarotte in der Financial Times. Sie hat gerade ein Buch über die Nato-Erweiterung nach dem Mauerfall geschrieben, in dem sie einige von Putins Geschichtslügen korrigiert. Und sie erinnert an eine sehr einfache, und in Deutschland auch gern vergessene Tatsache. Die Ukraine hat bereits 1991 ihre Unabhängigkeit in einer demokratischen Abstimmung beschlossen: "Bei einer Wahlbeteiligung von 84 Prozent - etwa 32 Millionen Wähler - entschieden sich mehr als 90 Prozent für die Unabhängigkeit, wobei in jeder Region eine Mehrheit zustande kam. Internationale Beobachter bescheinigten der Abstimmung im Dezember 1991, dass sie 'frei und fair' war. Die Anerkennung und die Staatlichkeit folgten zügig. Für Putin stellte diese Trennung von Moskau jedoch einen unverzeihlichen Verzicht dar, der zudem neue Risiken an Russlands Grenzen mit sich brachte."

Auch Habermas sorgt weiter für Streit.

Claus Leggewie und Daniel Cohn-Bendit halten in der taz Habermas' Plädoyer für Verhandlungen für widersprüchlich, weil er gleichzeitig ein Einknicken der Ukraine und westliche sicherheitsgarantien für ein dann reduziertes Land fordert - aber die wären nur im Rahmen der Nato möglich, wogegen Putin gerade Krieg führt. Die beiden setzen ihre Hoffnung dagegen auf einen Regimewechsel in Moskau: "Der deutsche und europäische Widerstand war in den 1940er Jahren von Hitler ebenso marginalisiert, wie Kritiker Putins es heute sind. Er konnte ungeachtet seiner hoffnungslosen Lage jedoch Pläne schmieden für den Tag danach, den die meisten Zeitgenossen für völlig 'undenkbar' hielten. Gleichwohl wurden diese Pläne zu einem beträchtlichen Teil in einem freien Europa unter Einschluss der Westdeutschen verwirklicht." In der SZ beklagt Kurt Kister ein Freund-Feind-Schema in der Habermas-Debatte, das dem Denkstück des Philosophen nicht gerecht werde.
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Gesellschaft

Zum dritten Jahrestag des Terroranschlags von Hanau bringt die FR ein großes und faszinierendes Web-Special. Unter anderem besuchen die Reporter Kesselstadt, den Stadtteil von Hanau, wo der Attentäter seine Opfer suchte. Unter anderem finden die Reporter auch heraus, dass - ähnlich wie bei dem Mörder von Brokstedt jüngst - durchaus Hinweise auf die Gefährlichkeit des Täters vorlagen, lange bevor er seine Taten beging: "Vor dem Anschlag machte der Attentäter auf sich aufmerksam. Zu den Spuren, die er hinterließ, gehörten mehrere Graffiti mit der Adresse seiner Webseite, auf der er schließlich all seine rassistischen und verschwörungstheoretischen Ansichten verbreitete. Einen Schriftzug sprühte er auf die Wand einer Unterführung, die zwischen seinem Zuhause und dem zweiten Tatort am Kurt-Schumacher-Platz liegt. Ein Vater, der mit seinem Kind dort regelmäßig hielt, weil es sich gerne ein buntes, gegenüberliegendes Graffiti anschaute, sagte aus, dass er die Webadresse bereits etwa ein Jahr vor den Morden bemerkte."

In einer Reportage für die taz erzählt Konrad Klitschko, wie der Vater des Attentäters die Familien der Opfer stalkt: "Auf Fotos sieht man, wie er mit seinem Schäferhund direkt vor ihrem Haus steht, starr ins Fenster schauend. Unvar Temiz rief die Polizei. Inzwischen steht ein Streifenwagen vor ihrem Haus. Ein Gericht erteilte R. im Oktober ein Verbot, sich dem Haus auf 30 Meter zu nähern und Kontakt zur Familie aufzunehmen. Aber R. hält sich nicht daran. Ende Dezember wurde er für eine Nacht festgenommen, weil er einen Platzverweis ignorierte. 27 Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen Verstößen gegen das Gewaltschutzgesetz liefen aktuell, erklärt die Staatsanwaltschaft Hanau." Außerdem: Simon Sales Prado besucht für die SZ die Angehörigen der Opfer, die sich für ein Mahnmal auf dem Marktplatz von Hanau einsetzen, was offenbar nicht jedem gefällt. Und Silke Hohmann besucht für monopol im Rathaus Hanau eine Ausstellung, die auch schon in Frankfurt und Berlin zu sehen war, über das Versagen der Behörden in dem Fall.

Marko Martin erzählt in der FAZ, wie er in den späten Jahren in der DDR den Kriegsdienst verweigerte und von der Stasi drangsaliert wurde. Im "ostentativen Schweigen und Gemurmel in der Nachbarschaft und unter den Kollegen" erkennt er eine der Wurzeln des heutigen "Pazifismus" in den Neuen Ländern: "''Tja, da kannste nüscht machen.' 'Selber schuld, musst eben mit den Wölfen heulen.' Keine Bösartigkeit in alldem, nein. Keine herausgeblökte Regimetreue. Friedfertigkeit: vor allem als der Wunsch, in Frieden gelassen zu werden."
Archiv: Gesellschaft
Stichwörter: Pazifismus, Tatort

Medien

Teseo La Marca berichtet in der taz von der immer schärferen Repression gegen Journalisten im Iran und ist sich doch sicher: "Bei aller Härte, die die Islamische Republik gegen Journalisten und Journalistinnen anwendet, die nichts anderes tun, als ihren Beruf auszuüben, ist es unwahrscheinlich, dass der 'mediale Krieg' noch gewonnen werden kann. Selbst wenn es dem Regime gelingen sollte, die eigenen Berichterstatter mundtot zu machen, informieren sich die meisten Iranerinnen und Iraner heute ohnehin lieber über soziale Medien und persischsprachige Auslandsmedien, wo rote Linien und Zensur gar nicht existieren."

Jürgen Kaube berichtet im Aufmacher des FAZ-Feuilletons, dass Frank Berberich, Chef der Lettre International, unter anderem Sinn und Form klagt, weil diese Zeitschrift von der Akademie der Künste und also vom Staat finanziert wird. "Betroffen von weiteren Klagen sind die Zeitschrift Kulturaustausch, die vom Auswärtigen Amt finanziert wird, sowie das Onlineportal LCB diplomatique, betrieben vom Literarischen Colloquium Berlin... Der Staat lässt Zeitschriften publizieren und behauptet zugleich, er dürfe sich nicht in die Zeitschriftenlandschaft einmischen."
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