9punkt - Die Debattenrundschau

Das ist unser Krieg

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.02.2023. Wenn ein Mann an einer Straßenecke ein Kind verprügelt, kommt für den Passanten Neutralität nicht in Frage, sagt Slavoj Zizek bei Project Syndicate. Auch Herfried Münkler kritisiert in der Welt "Unterwerfungspazifisten", die nur in Passivkonstruktionen über die Kriegsverbrechen des Aggressors sprechen. Wie schwierig russisch-ukrainische Identitäten sein können, erzählt Irina Rastorgujewa in der FAZ. Putins Krieg ist dennoch ein Angriff auf eine Identität und Kultur, unterstreicht der Historiker Jurko Prochasko in der SZ. Eine Gruppe von Autoren fordert in der Berliner Zeitung einen "Black History Month" in Deutschland.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.02.2023 finden Sie hier

Europa

Bei Project Syndicate antwortet Slavoj Zizek mit einem einfachen Bild auf die Fiktion der "Neutralität" in einem Vernichtungskrieg, mit dem zur Zeit die Ukraine überzogen wird. Hier gibt es kein Sowohl als auch, sagt er mit Blick auf den brasilianischen Präsidenten Lula oder den Gitarristen Roger Waters, der die Ukraine auffordert, sich dem Aggressor zu unterwerfen: "Wenn ein Passant sieht, wie ein Mann an einer Straßenecke ein Kind unbarmherzig verprügelt, würden wir erwarten, dass der Zeuge versucht, dies zu verhindern. Neutralität kommt nicht in Frage. Im Gegenteil, wir würden die moralische Verwerflichkeit der Untätigkeit beklagen."

Identitäten! In der FAZ erzählt die russisch-ukrainische Autorin Irina Rastorgujewa aus dem Chatroom von "helpdesk.media", wo sich Ukrainer, Belarussen und Russen austauschen oder auch über ihre Nationalitäten anfeinden. Aber die sind eben oft sehr kompliziert: "In Berlin treffe ich viele Menschen mit sowohl russischen wie ukrainischen Wurzeln. Das erzeugt mitunter kuriose Geschichten. Ein russischer Journalist, der von seinem Vater den ukrainischen Nachnamen S***ko geerbt hat, versuchte in Estland erfolglos, ein Interview mit einem Ukrainer mit dem russischen Nachnamen P***ow zu vereinbaren. Der Ukrainer P***ow sagte dem Journalisten S***ko, Russen gebe er keine Interviews. Am Ende stritten sie sich, wer von beiden ukrainischer sei."

Und doch: Der russische Krieg gegen die Ukraine ist in erster Linie auch ein Krieg gegen die Identität der Ukraine und also gegen die ukrainische Kultur, schreibt der ukrainische Historiker Jurko Prochasko in der SZ. Solche imperialistischen Kulturkriege sind nichts Neues, so Prochasko. sie arbeiten zunächst mit Leugnung, Verspottung, Herabsetzung oder Unterdrückung. Hinzukommt in diesem Fall der Mythos, dass Russland seinen Ursprung in Kiew habe. Und so ist das Verhältnis Russlands zur Ukraine eines jahrhundertelanger Zerstörung: "Angefangen bei der totalen Vernichtung von Baturyn 1708, der Residenzstadt des damaligen ukrainischen Hetman Iwan Masepa, samt allen Einwohnern, der gesamten Stadtanlage und allen fünf Kirchen (alle wohlgemerkt orthodox), über die Verbote der ukrainischen Vereine, Bewegungen, ja selbst der ukrainischen Sprache im Zarenrussland des 19. Jahrhunderts, bis hin zur 'Erschossenen Renaissance' der späten 1930er-Jahre, der leibhaftigen Dezimierung der intellektuellen und kreativen Eliten. Von den 259 Schriftstellern, die im Jahr 1930 noch in der Ukraine publizierten, waren 1938 nur noch 36 übrig."

Jörg Häntzschel hat für einen zweiten Artikel in der SZ mit vielen Experten gesprochen und kann die russischen Kriegsverbrechen gegen Kulturstätten sehr konkret belegen: "Geplündert und zerstört wurden auch viele Archive. 'Russland instrumentalisiert die Geschichte des Zweiten Weltkriegs, um den Krieg zu rechtfertigen. Es hat aus dem Staatsarchiv in Cherson gezielt Dokumente über den Krieg gestohlen', sagt Ekaterina Malygina, die im Berliner Museum Karlshorst ein Projekt zur Sicherung von Archivbeständen in der Ukraine leitet." Und die Zerstörung ist systematisch: "Nach knapp zwölf Monaten Krieg listet das ukrainische Kulturministerium 1.200 beschädigte, zerstörte oder ausgeraubte Kultureinrichtungen, Denkmäler und historische Gebäude auf."

Olaf Scholz hat zwar einige brillante Dinge zum Ukrainekrieg gesagt, etwa, "dass die Europäische Union die Antithese zu Imperialismus und Autokratie sei", sagt Timothy Snyder im interview mit Ann-Dorit Boy und Eva-Maria Schnurr vom Spiegel. Aber "auf solche Reden müssten Taten folgen. Deutschland sollte sich an die Spitze eines geopolitisch selbstbewussten Europas stellen, die Sache der Ukraine zu seiner eigenen machen. Bisher ist Europa in Sicherheitsfragen noch zu abhängig von den USA. Um das zu ändern, müsste Deutschland sagen: Das ist unser Krieg, und wir werden ihn nicht verlieren. Dergleichen sehe ich bisher nicht."

Es gibt Anzeichen für eine gewisse Schwächung der Kampfgruppe Wagner gegenüber der traditionellen Militärelite, schreibt der stets gut informierte Korrespondent der NZZ, Andreas Rüesch. So habe Jewgeni Prigoschin, Chef der Truppe, das Privileg verloren, Strafgefangene einzuziehen, denen eine Amnestie versprochen wurde, falls sie sechs Monate lang überleben: "Über einen Rückgang oder gar den Stopp dieser Rekrutierungswelle war seit längerem gemunkelt worden, denn die Armee zieht inzwischen selber Strafgefangene ein und hat dabei gegenüber Wagner einen Vorteil: Sie braucht um die Häftlinge nicht zu werben, sondern kann sie im Rahmen der Teilmobilmachung einfach abholen. Prigoschin bestätigte die Gerüchte nun, verbunden mit scharfer Kritik: Der Rekrutierungsstopp werde sich zweifellos negativ auswirken. Etwas Erfolgreiches zu beenden, sei falsch, sagte er sinngemäß." Politico bringt allerdings unterdessen ein großes Dossier über den wachsenden Einfluss der Kampfgruppe Wagner, besonders in Afrika.

Herfried Münkler, der die Ukraine vor einiger Zeit noch munter seinen geopolitischen Rücksichten opferte, ist durch den Krieg umgeschwenkt. Im Gespräch mit Mladen Gladić und Marc Reichwein von der Welt attackiert er Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht als "Unterwerfungspazifisten": "Selenski wird von ihnen als jemand apostrophiert, der das, wie insinuiert wird, unverschämte Ziel hat, das ganze Territorium der Ukraine wieder befreien zu wollen. Über das Agieren russischer Soldaten in der Ukraine liest man im Manifest dafür nur in Passivkonstruktionen: 'Es wurde vergewaltigt' und derlei mehr. Allein deswegen schwimmt die Aussage 'Die von Russland brutal überfallene ukrainische Bevölkerung braucht unsere Solidarität' wie ein Fettauge auf der Suppe herum und steht ohne Beziehung zur übrigen Argumentation. Dieses Manifest ist ein Armutszeugnis für die Künstler und Intellektuellen, die es unterschrieben haben."

In der FAZ kommentiert Gina Thomas den Rücktritt der schottischen Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon, die anerkannt war, aber nichtsdestotrotz gescheitert sei: "Paradoxerweise ist es Nicola Sturgeon gelungen, auf der internationalen Bühne als vollendete Staatsfrau aufzutreten, sodass selbst Donald Trump ihren Rücktritt kommentierte, und dennoch ein trostloses Vermächtnis zu hinterlassen. In der Pandemie beeindruckte sie mit ihren täglichen Pressekonferenzen... Sie gab zugleich die fürsorgliche Landesmutter und die kompetente Staatschefin, die alles im Griff zu haben schien. Letztlich aber hat Schottland in der Pandemie nicht besser abgeschnitten als England. Und die Bilanz ihrer Regierungszeit fällt negativ aus. Dem Ziel der schottischen Unabhängigkeit, dem sich Nicola Sturgeon schon als Teenager verschrieben hat, ist sie nicht näher gekommen."
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Politik

Tjerk Brühwiller unterhält sich für die FAZ mit dem nicaraguanischen Journalisten Lorenzo Holmann, Herausgeber der Traditionszeitung La Prensa, der im August 2021 verhaftet und im Februar 2023 schließlich in die USA deportiert worden war. Sein Vergehen: Er hatte das Regime des einstigen Revolutionsführers und heutigen Präsidenten Nicaraguas Daniel Ortega kritisiert. "Die Freilassung von 222 politischen Gefangenen hätte zu einer versöhnlichen Geste werden können. Doch Ortega schaffte es, die Geste zunichtezumachen, noch bevor der Flug mit den Freigelassenen in Washington angekommen war. In einem Eilverfahren änderte das vom Regime kontrollierte Parlament die Verfassung, um den Freigelassenen ihre Staatsbürgerschaft zu entziehen. Wenige Tage später tat die Regierung dasselbe mit weiteren 94 prominenten und zumeist im Ausland lebenden Nicaraguanern, unter ihnen waren die bekannten Schriftsteller Sergio Ramírez und Gioconda Belli, die Bauernführerin Francisca Ramírez und der Exilbischof José Baéz. Sie wurden zu 'Vaterlandsverrätern' und 'Flüchtlingen vor der Justiz' erklärt, verloren ihre Bürgerrechte, während ihr Besitz in Nicaragua beschlagnahmt wurde."
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Gesellschaft

Das Gedenken an den Terroranschlag von Hanau mit seinen zehn Ermordeten scheint jetzt zu einem festen Tag des Innehaltens und Nachdenken über Rechtsextremismus und Rassismus in der deutschen Gesellschaft zu werden. Die Publizistin Asal Dardan hat in einer Rede auf dem Brechtfestival in Augsburg auf die Tat zurückgeblickt. Veröffentlich wird sie in geschichtedergegenwart.ch. Dardan beklagt unter anderem das Versagen der Behörden, das sich ja auch in anderen Kontexten - etwa in Halle oder beim Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt - gezeigt hat: "Diese Fahrlässigkeit, die mit Inkompetenz und Überforderung allein nicht zu erklären ist, dieses totale Versagen des Staates, in der Prävention, in der Nacht selbst, im Umgang mit den Familien der Opfer, in der Aufarbeitung. Die offenen Fragen dazu laufen in einer großen Frage zur Rolle der Polizei in unserer Gesellschaft zusammen: Wen schützt die Polizei, und wen macht sie zum Opfer?"
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Geschichte

Eine Gruppe von Autoren fordert in der Berliner Zeitung einen "Black History Month" auch in Deutschland. Da könne man sich etwa mit rassistischen Passagen in Werken von Hegel und anderen auseinandersetzen - oder mit kultureller Aneignung, denn es gebe "auch wesentlich positivere Verflechtungen zwischen der Geistesgeschichte der globalen afrikanischen Diaspora und der deutschen Geistesgeschichte. Der Black History Month ist ein guter Anlass, ihnen gleichermaßen nachzugehen. Immerhin: Zahlreiche schwarze Denker:innen haben sich intensiv mit deutschsprachigen Geistesgrößen auseinandergesetzt. So studierte der Soziologe und Philosoph W.E.B. Du Bois etwa von 1892 bis 1894 an der heutigen Humboldt-Universität in Berlin, wo ihm 1958 die Ehrendoktorwürde verliehen wurde. Seit vergangenem Jahr erinnert eine Gedenktafel an seine Studienzeit in Berlin. Denker wie Herder und Hegel sind wichtige Bezugsfiguren für Du Bois' späteres Œuvre."
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