9punkt - Die Debattenrundschau

Der lange Frieden war die Besonderheit

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.02.2023. Alexej Nawalny twittert 15 Thesen, in denen er unter anderem eine Entschädigung der Ukraine für sämtliche von den Russen verübten Schäden fordert. Die SZ veröffentlicht Pläne des Kremls aus dem Jahr 2021 für einen Unionsstaat, der neben der Ukraine auch die Einverleibung von Belarus vorsieht. "Habermas ist erkennbar ratlos", was zu tun sei, wenn Putin nicht verhandeln will, konstatiert Habermas-Biograf Stefan Müller-Dohm in der FR. Die NZZ berichtet, wie die Iraner die Internetzensur - noch - umgehen. Die taz fragt, wer die schönen neuen Aufträge für den Aufbau der erdbebenzerstörten Städte in der Türkei bekommt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.02.2023 finden Sie hier

Europa


In 15 Thesen, die Alexej Nawalny twitterte und die die Berliner Zeitung übersetzt, fordert der in einem Lager einsitzende russische Oppositionelle nicht nur ein Ende des Krieges und einen Regierungswechsel, sondern auch eine Entschädigung der Ukraine für sämtliche von den Russen verübten Schäden: "Ich möchte noch einmal betonen, dass wir der Ukraine nach dem Krieg alle durch Putins Aggression verursachten Schäden erstatten müssen. Die Wiederherstellung normaler Wirtschaftsbeziehungen mit der zivilisierten Welt und die Rückkehr des Wirtschaftswachstums werden es uns jedoch ermöglichen, dies zu tun, ohne die Entwicklung unseres Landes zu beeinträchtigen. Wir haben den Tiefpunkt erreicht, und um wieder auf die Beine zu kommen, müssen wir uns davon erholen. Das wäre sowohl ethisch korrekt als auch rational und profitabel. Wir müssen das Putin-Regime und seine Diktatur beseitigen. Idealerweise durch die Durchführung allgemeiner freier Wahlen und die Einberufung der verfassungsgebenden Versammlung."

"Putins Krieg ist auch für 'Kerneuropa' eine Katastrophe", sagt der schwedische Osteuropa-Korrespondent Richard Swartz im Welt-Gespräch mit Wieland Freund und Mladen Gladic: "Nicht nur die Deutschen, das dürfen wir nicht vergessen, hatten sich gut mit Moskau arrangiert. Jetzt ringt man etwas unbeholfen um eine neue Russlandpolitik: Einig ist man sich nur darüber, dass man diese neue Politik braucht, und dass der Ukraine geholfen werden muss. Whatever it takes. Aber ohne genaue Kriegsziele und die Mittel, sie durchzuführen, ist das noch keine konkrete Politik. Wie lange wird man die Solidarität mit der Ukraine aufrechterhalten können? Seien wir ehrlich - es hängt alles von den USA ab. Immer noch werden dort Europas Schicksalsfragen entschieden. Die Amerikaner haben die Muskeln, die uns fehlen, sind zwar großzügig, aber denken und handeln stets kurzfristig, sehr auf konkrete Resultate bedacht, außenpolitisch sind sie ohne Ausdauer."

Der SZ und anderen Medien liegt ein angeblich aus dem Jahr 2021 stammendes 17-seitiges Dokument vor, das unter dem Titel "Strategische Ziele der russischen Föderation in Belarus" darlegt, wie sich der Kreml bis zum Jahr 2030 Belarus einverleiben will, berichtet Jörg Schmitt auf sueddeutsche.de. Geplant sei ein "Unionsstaat", in dem vornehmlich Russisch gesprochen werde: "'Der Inhalt des Dokuments ist absolut plausibel und entspricht dem, was wir auch wahrnehmen', sagt ein hochrangiger Nachrichtendienstler der Süddeutschen Zeitung. Man müsse das Strategie-Papier als Teil eines größeren Plans von Putin sehen: der Schaffung eines neuen großrussischen Reichs. 'Sollten Putins Pläne sowohl in Belarus als auch in der Ukraine aufgehen', sagt der in Ungarn lebende belarussische Sicherheitsexperte Anton Bendarjevskiy, 'wäre das ein klares Signal auch für andere ehemalige Sowjetrepubliken.'"

"Putin wäre gern ein großer Mann", schreibt der Osteuropa-Historiker Martin Schulze Wessel, der auf ZeitOnline die imperialen Fantasien Putins historisch einordnet und der unter anderem von Habermas gezogenen Analogie zum Ersten Weltkrieg widerspricht: "Russlands Angriff auf die Ukraine ist viel eher mit dem Weg in den Zweiten Weltkrieg zu vergleichen, als westliche Nachgiebigkeit Hitler geradezu ermutigte, immer noch einen Schritt weiterzugehen. Dass er mit der Remilitarisierung des Rheinlands 1936 durchkam, obwohl Frankreich zum Schutz des Versailler Friedens mit geringem Aufwand hätte eingreifen können, stachelte seinen Eroberungswillen und seine Verachtung für den Westen an. Das sogenannte Münchener Abkommen, in dem die Westmächte 1938 einer Teilung der Tschechoslowakei zugunsten des Deutschen Reichs zustimmten, war aus Sicht des britischen Premierministers Neville Chamberlain eine Strategie der Kriegsvorbeugung. Hitler jedoch fühlte sich auf seinem Weg zum Angriff und in der Unterschätzung seiner westlichen Gegner bestärkt. Bei aller Verschiedenheit von NS-Deutschland damals und Russland heute liegen darin die Analogien zu Putins Weg in den Krieg."

Habermas' "Plädoyer für Verhandlungen" gründet auf der von ihm vertretenen und begründeten Diskursethik und seinem damit einhergehenden Konzept deliberativer Politik, sagt Habermas-Biograf Stefan Müller-Doohm im FR-Gespräch, in dem er allerdings auch einräumt, dass Habermas die Möglichkeit, dass Putin keineswegs verhandeln wird, negiert: "Habermas ist erkennbar ratlos, was in dieser Situation zu tun ist, wenn der russische 'kriminelle Aggressor' sich strikt weigert, über Frieden oder Waffenstillstand und seine Bedingungen zu verhandeln. Für das von ihm propagierte 'Prinzip Verantwortung' kann Habermas am Ende nur einen Verbündeten in Anspruch nehmen, nämlich die Stärke des unparteiischen Rechts. So resultiert seine vielfach als blauäugig kritisierte Forderung nach Verhandlungen aus den gegebenen rechtlichen Bestimmungen, wie sie in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt sind. Das ist nicht nichts, aber zu wenig. Der Leser vermisst konkrete Überlegungen darüber, wie international zusammengesetzte Verhandlungskommissionen geschaffen werden können."

Blitzkriege gibt es nicht, meint Simon Strauss in der FAZ, nicht mit mehr Waffen und nicht mit mehr Verhandlungen. Und auch der Ukrainekrieg wird dauern: "Selbst wenn, wie manche Pazifisten hierzulande fordern, morgen mit Putin verhandelt würde, müsste der Westen der Ukraine zur Beruhigung militärische Sicherheitsgarantien geben. Und würde damit, darauf hat der Politikwissenschaftler Herfried Münkler gerade in der Welt hingewiesen, genau zu dem, wovor sich alle fürchten: nämlich zur Kriegspartei. Dieser nur scheinbar begrenzte Krieg könnte paradoxerweise also sogar über seine Befriedung hinaus andauern. Was damit anfangen, in dieser seltsamen Woche, in der in Deutschland Faschingsumzüge und Totengedenken zusammenfallen? Vielleicht betrachtet man das Leid der anderen am besten, indem man sich selbst beunruhigt: Etwa mit dem schweren Gedanken, dass nicht der Krieg, sondern der lange Frieden einmal als Besonderheit unseres Zeitalters gelten könnte."

In den Erdbebenregionen der Türkei wird inzwischen die Kritik an der Regierung immer lauter, berichtet Marion Sendker in der taz. Erdogan hat jetzt, zehn Tage nach dem Beben, die Armee losgeschickt, die die einheimischen Helfer verdrängen. "Viele Menschen im Land fürchten, dass die Regierung bemüht ist, ihr eigenes Versagen vertuschen zu wollen. Die Vorwürfe gegen die Regierung in Ankara wiegen schwer: Entgegen den jahrzehntelangen Warnungen von Geologen und Seismologen soll erdbebensicheres Bauen unter der Erdoğan-Regierung nicht so ernst genommen worden sein wie gesetzlich vorgeschrieben. ... Zur Wahrheit gehört aber auch, dass in vielen Teilen des Erdbebengebiets die meisten Menschen Erdoğan bei den letzten Präsidentschaftswahlen ihre Stimme gegeben haben. Auch in Pazarcık war das so: Die HDP, die sich jetzt vor Ort für die Interessen von Anwohnern und deren Autonomie stark macht, kam bei den Wahlen nur auf Platz drei."

In einem taz-Kommentar fragt die Politikwissenschaftlerin Sinem Vardar: "Was ist mit den über 37 Millionen US-Dollar Steuern, die seit dem Erdbeben 1999 von der Bevölkerung für erdbebensicheren Häuserbau erhoben wurden? ... Die Spenden für den Wiederaufbau gehen aktuell an zwei staatliche Institutionen: die Katastrophenbehörde und an den türkischen Halbmond. Unter bestimmten Bedingungen, wie bei den Naturkatastrophen, können öffentliche Aufträge im Schnellverfahren vergeben werden. Genau hier liegt das Problem: Der Bausektor in der Türkei, der während der AKP-Regierung rasant gewachsen ist, auch weil er Genehmigungen erhielt für nicht bebaubare Flächen, hungert nach lukrativen Aufträgen. Das System, das diese verheerende Katastrophe mit möglich gemacht hat, wird nun mit neuen Aufträgen genährt."

Spiegel
-Redakteur Tobias Rapp hat mit einem Brief an das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) seine Wehrdienstverweigerung zurückgezogen. In einem kleinen Essay erklärt er, warum: "Ich bin 51 Jahre alt, dass ich jetzt noch einmal an der Waffe dienen muss, wird kaum passieren. Aber deshalb habe ich meine Verweigerung auch nicht zurückgezogen. Ich glaube, dass sie ihren Sinn verloren hat. Denn die Welt, in der ich sie erklärt habe, ist untergegangen. Vielleicht existierte sie auch nur in meinem Kopf und den Köpfen vieler anderer Deutscher."

Bernd Rheinberg weist bei den Salonkolumnisten darauf hin, wie alt gewisse Heucheleien der deutschen Friedensbewegung sind. Schon in der Friedensbewegung der Achtziger unternahmen "alte Bekannte aus dem linken Lager .. alles, um zu verhindern, dass die sowjetische Aufrüstung in Appellen und Manifesten auch nur erwähnt und in die Forderungen nach Abrüstung einbezogen wurde. (Sie konnten meist überstimmt werden.) Das ähnelt doch sehr wieder dem von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer angeführten Friedensmanifestkreis, der raffiniert einen Schleier um die russische Verantwortung für den Krieg in der Ukraine legt."

Ein Aufruf wie der von Schwarzer und Wagenknecht wäre in andern Ländern als Deutschland kaum denkbar, meint der Historiker Jan C. Behrends im Gespräch mit Hubertus Volmer von ntv.de: "Deutschland ist von außen vom Nationalsozialismus befreit worden. Dass man gegen Tyrannei, gegen äußere Aggression und für nationale Selbstbestimmung zur Waffe greifen kann, ist in anderen Ländern eine viel stärkere Selbstverständlichkeit. In Deutschland ist es in bestimmten Kreisen dagegen völlig legitim, genau dies anzuzweifeln."

Außerdem: Bei t-online.de spricht der Osteuropahistoriker Andreas Kappeler über die "Ungleichen Brüder" (mehr hier) Russland und Ukraine.
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Politik

"Auf dem Index zur Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen steht die Islamische Republik Iran auf Platz 178 von 180 gelisteten Ländern", weiß Natalie Amiri, die in der NZZ berichtet, wie sich die iranische Bevölkerung gegen die Propaganda des Regimes wehrt: "50 Millionen der insgesamt 85 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner sind unter dreißig. Dieser Teil der Bevölkerung kommuniziert und informiert sich nur noch über die sozialen Netzwerke. Die bestehenden Blockaden können über VPN-Tunnel umgangen werden. Datentunnel, die über einen Server im Ausland die staatliche Zensur überwinden. Hier lässt sich das Regime von China und Russland helfen. Viele der VPN-Tunnel funktionieren zu Beginn der Proteste nicht mehr. Bilder der Unterdrückung der Proteste gelangen deshalb nur vereinzelt ins Ausland. Inzwischen hat sich die Zivilbevölkerung effizientere VPN-Verbindungen zugelegt. Auch dank Starlink erreichen Informationen aus dem Ausland Iran wieder."
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Medien

Bertelsmann hielt es nicht für nötig, die vielen freien MitarbeiterInnen persönlich in Kenntnis über die Abwicklung der Magazine zu setzen, erfährt Saskia Aleythe, die in der SZ auch über die zunehmend problematische Situation vieler Freier im Journalismus berichtet: "'Für viele Freie sind Magazin-Honorare ein Grundpfeiler ihrer journalistischen Arbeit und wichtig, um überhaupt im Journalismus arbeiten zu können', sagt Sigrid März, die Vorsitzende vom Freischreiber-Verband, in dem sich freie Journalisten organisieren. So hat der Wegfall der Magazine Folgen über Gruner + Jahr hinaus. 'Durch diese Entwicklungen können freie Journalisten immer weniger allein vom Journalismus leben', sagt Matthias von Fintel, Leiter des Bereichs Medien, Journalismus und Film der Gewerkschaft Verdi: 'Sie sind immer mehr gezwungen, auch in der Öffentlichkeitsarbeit zu arbeiten, für Werbung und andere Bereiche, in denen journalistische Fachkräfte ja durchaus gefragt sind.' In der Regel werden sie dort auch besser bezahlt."
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Geschichte

In der SZ zeichnet der Historiker Hans Günter Hockerts minutiös die vier Tage zwischen der Verhaftung und der Hinrichtung der Geschwister Scholl nach und legt die Gründe für das willkürlich und eilig getroffene drastische Urteil dar: "Die Richter machten sich zu Handlangern des NS-Terrors, und das Urteil nennt auch einen Grund dafür: 'Wenn solches Handeln anders als mit dem Tode bestraft würde, wäre der Anfang einer Entwicklungskette gebildet, deren Ende einst - 1918 war.' Hier wird erkennbar, wie tief die Furcht saß, die 'Heimatfront' könne genauso wie am Ende des Ersten Weltkriegs ins Wanken geraten und in eine revolutionäre Bewegung münden. Die Katastrophe von Stalingrad hatte die latente Furcht soeben dramatisch verstärkt: Die erste schwere Niederlage der Wehrmacht wirkte auf die Bevölkerung wie ein Schock und versetzte den Repressionsapparat in höchsten Alarm. "
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