9punkt - Die Debattenrundschau

Die Ukraine hat gewonnen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.02.2023. Heute ist der Jahrestag des Kriegsbeginns. Die Zeitungen sind voll mit Analysen und mit bangen, zaghaften oder zuversichtlichen Kommentaren. Wir - der "Westen" - sind Teil dieses Krieges,  ob wir wollen oder nicht, schreibt Gerd Koenen in der FAZ.  Der Krieg geht weiter. "Man wird erst wieder erfahren, was Angst ist und wie man mit ihr lebt", sagt Richard Sennett in der FRGwendolyn Sasse  fragt in der taz, was eine Niederlage für Russland bedeuten würde. Der Guardian bringt eine Hommage auf die Stadt Mariupol.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.02.2023 finden Sie hier

Europa

Vor einem Jahr überfiel Putin die Ukraine. Dominic Johnson zieht in der taz, die ihre ganze Ausgabe dem Jahrestag gewidmet hat,  düstere Zwischenbilanz. "Selbst wenn alsbald die Waffen schweigen sollten, wofür rein gar nichts spricht: Die Uhr lässt sich nicht zurückdrehen. Wladimir Putin wird nicht mehr zum rationalen Partner. Die Ukraine wird ihr Schicksal nicht mehr von außen bestimmen lassen wollen. Ihre Toten werden nicht mehr lebendig. Ihre Ruinen voller Leichen werden nicht mehr so aufgebaut wie früher. Ihre nach Russland verschleppten Kinder kommen nicht mehr unbelastet nach Hause. Ihre zerrissenen Familien werden nicht mehr heil. Zurück bleiben verbrannte Erde und vernarbte Seelen."

Heute wird in Berlin demonstriert (morgen auch, aber das ist Wagenknecht-Tag). Eine der Stationen ist die russische Botschaft, vor der ein zerstörter russische Panzer aufgestellt wurde:
Selbst wenn es Putin gelungen wäre, die Ukraine zu überrennen, hätte er den Krieg noch längst nicht gewonnen, schreibt Berthold Kohler im Leitartikel der FAZ, der an diesem besonderen Tag die ganze Höhe der Zeitung einnimmt. "Die Ukrainer hätten sich, das beweisen sie jeden Tag, kaum in das Schicksal gefügt, als eigenständige Nation eliminiert zu werden und wieder Untertanen einer Moskauer Despotie zu sein. In einem Partisanenkrieg hätten sich wohl beide Seiten an Afghanistan erinnert: die Russen an ihre Brutalität, die Ukrainer an den Sieg der Mudschahedin. Die jetzt wieder zu hörende Behauptung, Atommächte könnten einen Krieg nicht verlieren, ist sowohl am Hindukusch als auch in Vietnam widerlegt worden."

Der russische Außenminister Sergej Lawrow war nicht eingeweiht und erfuhr durch einen Telefonanruf in der Nacht zum 24. Februar von der Invasion, erzählt Max Seddon in der Financial Times. Für den nächsten Tag war im Kreml ein Treffen mit den mächtigsten Oligarchen angesetzt. Verblüfft fragte einer der Oligarchen Lawrow, "wie Putin eine so gewaltige Invasion in einem so kleinen Kreis habe planen können, die meisten hochrangigen Beamten im Kreml, im russischen Wirtschaftskabinett und in der Wirtschaftselite hätten es nicht für möglich gehalten. 'Er hat drei Berater', antwortete Lawrow nach Angaben des Oligarchen. 'Iwan den Schrecklichen. Peter den Großen. Und Katharina die Große.'"

Ein Jahr danach erzählt ein Reporterteam des Guardian in einem großen Online-Dossier die Geschichte der Zerstörung und dann der Gleichschaltung der Stadt Mariupol: "Straßen und Plätze tragen wieder ihre sowjetischen Namen. Allgegenwärtige Werbetafeln und Plakate mit dem Symbol 'Z' stellen die russischen Besatzer als Befreier dar. Diejenigen, die über funktionierende Fernsehgeräte verfügen, haben das Programm auf Russisch umgestellt; auch der Internetverkehr wird über russische Server geleitet und der Zugang zu vielen ukrainischen Websites ist gesperrt."

Auffällig die Sportseite der FAZ, die in einer fast ganzseitigen Liste der im Krieg gefallenen ukrainischen Sportlerinnen und Sportler gedenkt:


Inna Hartwich schreibt in der taz eine Hommage auf die russischen Oppositionellen, die im Land geblieben sind: "Die Nowaja Gaseta darf keine Zeitung mehr sein, ein Moskauer Gericht hat vor einigen Tagen die Medienregistrierung kassiert, die Zeitung ist nun offiziell kein journalistisches Erzeugnis mehr, die Journalist*innen, die sich nun 'Blogger*innen' nennen, arbeiten dennoch weiter. 'Der Staat sagt uns, wie wir zu sterben haben, aber erlaubt uns nicht, das zu lesen, was wir lesen wollen', sagte der Chefredakteur und Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow nach der Gerichtsentscheidung. Auch Muratow ist in Russland geblieben. Es sind Figuren wie er, die mit ihrem Bleiben Signale der Zuversicht in liberale Kreise senden. Er kämpft, wie er das seit Jahren tut, gegen die 'Einnahme der Gehirne' durch den Staat."

Gerd Koenen macht in der FAZ nochmal auf den für uns ungemütlichen weiteren Kontext aufmerksam, in dem Putin selber den Krieg sieht. "Noch mal zum Merken: Gegen die Ukraine, die falsche Schöne, die sich fügen muss, auch wenn sie sich sperrt, führt Russland nur eine 'Spezialoperation' durch. Im 'Krieg' steht es gegen einen Westen, der es - wie Putin am Jahrestag der deutschen Kapitulation am 2. Februar in Stalingrad betonte - wie Hitler vor achtzig Jahren auf die Vernichtung und Zerstückelung Russlands abgesehen hat. In einem solchen Krieg kann es nur eine Lösung geben: den vollständigen SIEG (das Wort stand in monumentalen Lettern über seinem Kopf)."

"Die Russen werden dann zu einem Waffenstillstand bereit sein, wenn sie sehen, dass ihre Situation sich sonst nur verschlechtert", sagt Herfried Münkler im großen ZeitOnline-Interview mit Nils Markwardt, in dem er von einem "Erschöpfungskrieg" spricht: "Aber dieser Waffenstillstand wird letzten Endes mit Sicherheitsgarantien für die Ukraine durch den Westen aufgefüllt werden müssen. Wer also ein Ende des Krieges will, muss bereit sein, diese Sicherheitsgarantien zu übernehmen. Und das hieße: Sollten die Russen den Krieg wiederaufnehmen, wären wir quasi Kriegspartei. Wer diesen Schritt nicht zu gehen bereit ist, der soll auch von Verhandlungen schweigen."

Welche Folgen hätte eine Niederlage für Russland? In der taz streiten, moderiert von Stefan Reinecke und Ulrike Winkelmann, die Osteuropaforscherin Gwendolyn Sasse und der Historiker Jörg Baberowski. Sasse sagt: "In Mittel- und Osteuropa glauben manche, dass die russländische Föderation in Teile zerbrechen sollte. Aber der Westen teilt dieses Ziel nicht. Russland kann sich verändern, Teile könnten sich abspalten. Aber das kann man von außen nicht beeinflussen. Ein Paradox dieses Krieges ist: Er sollte Russland stärken - und jetzt gerät sogar sein Zerfall in den Bereich des Vorstellbaren." Baberowski merkt an: "Ein unkontrollierter, gewaltsamer Zerfall Russlands ist nicht im Interesse Europas, auch nicht im Interesse der Ukraine."

Die FR erscheint heute mit mehrseitiger Beilage zum Ukraine-Krieg. "Russland ist jetzt eine ständige Gefahr für uns und keine Episode mehr, nichts, das man durch Beschwichtigung oder durch Missionsgeschäfte in den Griff bekommen kann", meint der Soziologe Richard Sennett im Interview. "Russland ist ein Land, das auf Unterdrückung ausgerichtet ist. Die Fantasie, die einige Leute in der SPD haben, dass Russland irgendwie fortschrittlicher werden könnte, ist unrealistisch. Wichtiger ist mir das Folgende: Eine ständige Gefahr ist immer auch reflexiv. Eine ständige Gefahr ist deformierend für Menschen, die in ihr leben. Man wird erst wieder erfahren, was Angst ist und wie man mit ihr lebt. Das haben die Finnen, Norweger, Schweden und die baltischen Staaten allesamt verstanden, dass man nur vernünftig mit ihr umgehen kann, wenn wir der Gefahr als Europa begegnen und nicht als einzelner Nationalstaat."

Die SZ hat bei dem Russland- und Militärexperten Gustav Gressel, bei Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik und bei dem Politikwissenschaftler Carlo Masala nachgefragt, wie der Krieg in absehbarer Zeit beendet werden kann. "Es gibt nichts, was man jetzt machen kann, um Russland zu sinnvollen Verhandlungen zu bringen", meint Masala. "Die russischen Vorbedingungen sind klar. Russland sagt, wir sind sofort am Verhandlungstisch, wenn die territorialen Integritäten anerkannt werden: vier Oblaste plus die Krim. Russland glaubt weiterhin, diesen Krieg gewinnen zu können, weil sie eine Überlegenheit an Menschen und Material haben, was ja auch stimmt. Wenn die Ukraine nicht bereit ist, dauerhaft auf Teile ihres Territoriums zu verzichten, gibt es gerade kein Szenario, in dem die Russen an den Verhandlungstisch kommen." Ebenfalls in der SZ lässt sich Georg Mascolo von Generalleutnant a. D. Volker Halbauer, seit sieben Jahren persönlicher Berater des jeweils amtierenden ukrainischen Verteidigungsministers, erklären, weshalb es der ukrainischen Armee seit einem Jahr gelingt, sich erfolgreich gegen die russische Übermacht zu verteidigen.

"Die Ukraine hat gewonnen", bilanziert Deniz Yücel in der Welt das erste Kriegsjahr: "In den ersten Wochen schien die Eroberung von Kiew und Charkiw möglich, inzwischen sind die Angreifer auf eine Frontlinie im Donbass zurückgeschlagen. Ein Erfolg der internationalen Hilfe, vor allem aber des ukrainischen Staates und der Zivilgesellschaft. Der Krieg hat den Westen und Osten des Landes geeint, zugleich haben ukrainische Schriftsteller und Intellektuelle die Welt - jedenfalls die westliche - davon überzeugt, dass es, anders als von Putin behauptet, sehr wohl eine ukrainische Kultur gibt. Die Ukraine hat sich von einem Land an der europäischen Peripherie zu einem Ort entwickelt, an dem die Freiheit und Sicherheit Europas mitentschieden wird. Für diese Erfolge hat die Ukraine einen schrecklich hohen Preis bezahlt - und bezahlt ihn weiterhin."

Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Kurt Kister in der SZ, allerdings habe der Krieg auch gezeigt, dass die Vorstellung "von einer Welt mit wichtigen gleichgerichteten Interessen - Erderwärmung, Armutsbekämpfung, Migration - derzeit nicht mehr als eine schöne Vision ist. ... Staaten wie Indien, Brasilien oder Südafrika sehen in Putins Krieg nur einen europäischen Konflikt, der sie nicht dazu bringt, die Beziehungen zu und die Geschäfte mit Russland spürbar einzuschränken. Große Teile der Welt, die gerne unter dem irreführenden, weil grob simplifizierenden Begriff 'globaler Süden' zusammengefasst werden, haben eine andere Vorstellung von der Zukunft als die USA und die EU."

"Der Ukrainekrieg ist nicht unser Krieg" sagten Regierungsvertreter dieser Länder bei den Debatten der Münchner Sicherheitskonferenz, schreibt Christoph von Marschall im Tagesspiegel: "Dem Narrativ des Westens, dies sei eine Konfrontation 'Freiheit gegen Diktatur' von globaler Bedeutung, folgt nur ein Teil der 193 Staaten der Erde. Ihre Zahl sinkt, je länger der Krieg dauert. Russland hat zum Teil Erfolg mit seiner Darstellung, dies sei nicht ein Krieg Russlands gegen die Ukraine, sondern ein Konflikt der Nato mit Russland, den der Westen verschuldet habe."

China legt unterdessen ein 12-Punkte-Papier vor, in dem es Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine fordert, berichtet unterdessen unter anderem Spiegel online. Gleichzeitig scheint sich China aber anzuschicken, Russland neuartige Kamikaze-Drohnen zu verkaufen, so der Bericht.

"Weltweit betreiben immer noch 56 Prozent von 3078 untersuchten multinationalen Konzernen Geschäfte in oder mit Russland", entnimmt Kristina Thomas im Tagesspiegel einem Bericht der Initiative B 4 Ukraine (Business for Ukraine). Und vor allem die Deutschen schneiden dabei nicht besonders gut ab: "So haben 259 der 373 deutschen Unternehmen, die Anfang 2022 auf dem russischen Markt waren, weiter Beziehungen zu Russland. Die verbleibenden deutschen Unternehmen zahlten 2021 fast 1,88 Milliarden Euro an Steuern an Russland - genug, um Russlands Krieg gegen die Ukraine etwa eine Woche lang zu finanzieren."

Markus Lanz hat Sahra Wagenknecht und damit ihrem Aufruf zur Demo am 25. Februar am Dienstag ein Forum gegeben. Wagenknecht war selbstgewiss wie immer, hat Ruhrbaron Stefan Laurin beobachtet: "Markus Lanz hat sich in seiner Show am Dienstag redlich Mühe gegeben, Sahra Wagenknecht mit Fakten zu überzeugen. Natürlich hatte er keine Chance, denn er argumentierte sachlich und eng am Thema. Aber Fakten interessierten Wagenknecht nicht. Für sie ist der Krieg eine Möglichkeit, gegen das System zu mobilisieren. Da gleicht sie Höcke oder Bachmann. Die reine Instrumentalisierung von Themen zur Destabilisierung der Gesellschaft macht einen entscheidenden Unterschied zwischen extremistischen und demokratischen Politikern aus: Während die einen darüber streiten, wie man Probleme lösen kann, aber immer die gesellschaftliche Stabilität zum Ziel haben, wollen Extremisten das von ihnen abgelehnte 'System' durch Destabilisierung zerstören." Bemerkenswert wenig Widerspruch bekommt Sahra Wagenknecht im Interview mit der Berliner Zeitung (deren Verleger Holger Friedrich zu den Erstunterzeichnern ihres Aufrufs zählt), in dem Wagenknecht Putins Rede von der "Entnazifizierung" als motivierende "Kriegsrhetorik" verharmlost und kritisiert, dass es ja "von westlicher Seite keine Kompromissbereitschaft" gebe. Mit dem Interview dürfte auch Spiegel-Kolumnistin Sabine Rennefanz zufrieden sein, die eine "Hexenjagd" gegen Schwarzer und Wagenknecht anprangert.

23,7 Prozent der Einwohner Estlands definieren sich laut letzter Volkszählung als ethnische Russen, ein Drittel dieser Gruppe hält zu Putin, berichtet die estnische Schriftstellerin Maarja Kangro in der NZZ: "Während im August letzten Jahres 94 Prozent der ethnischen Esten angaben, es gebe keinerlei Rechtfertigung für den Krieg, hielten 27 Prozent der Nichtesten (deren Löwenanteil Russen sind) den Krieg für legitim. Der Historiker David Vseviov war damals der Ansicht, dass die Entwicklungen diesen Prozentsatz nach unten drücken würden: 'Ich glaube, mit der Zeit sickert die Realität zu diesen Menschen durch.' Er lag falsch."

Außerdem: Die Autorin Nino Haratischwili stört sich im im taz-Gespräch mit Tigran Petrosyan an der Ignoranz der deutschen Linken gegenüber Osteuropa und dem Stalinismus. Michael Ringel ist ebenfalls in der taz entsetzt über den Aluhut und prominenten Ex-tazler Mathias Bröckers, der seinen Extrem-Putinismus nun in einem Blog austobt. Jürg Altwegg beschreibt in der FAZ die aus linken und rechten Putin-Verehrern zusammengesetzte Szene, die nach der Schließung von RT ein neues prorussisches Medium namens Omertà herausbringt.
Archiv: Europa