9punkt - Die Debattenrundschau

Das am meisten verminte Gebiet der Welt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.02.2023. Putin hat den Krieg schon verloren, er weiß es nur noch nicht, schreibt Jonathan Littell in Le Monde. "Russland wird erst dann eine Demokratie werden, wenn es zerfällt", schreibt Oksana Sabuschko in der New York Times. Alice Schwarzer und Sarah Wagenknecht reihen sich heute ein in die Pazifisten-Querfront, notieren taz und Tagesspiegel. Dass es nicht zu Verhandlungen kommt, liegt an den kriegstreiberischen Amerikanern, ist sich Wolfgang Streeck in der FR sicher. Und Patricia Schlesinger will nur, was ihr zusteht, meldet Spiegel online, eine Betriebsrente von 18.384,54 Euro."Pro Monat".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.02.2023 finden Sie hier

Europa

Im Jahr vorm Krieg hatte Sergei Gerasimow eine Donez-Bootsfahrt machen wollen und erinnert sich nicht mehr, warum er die Reise aufschob, erzählt er in seiner NZZ-Kolumne zum Jahrestag des Kriegsbeginns: "Das wunderschöne Tal des Donez-Flusses, der friedlichste Ort der Erde, wie mir immer schien, ist jetzt das am meisten verminte Gebiet der Welt. Es wird Generationen dauern, bis die Menschen in den Wäldern, auf den Wiesen und den wunderschönen Hügeln, von denen aus sich die schönsten Aussichten auf die Schöpfung eröffnen, nicht mehr auf Sprengsätze treten. Nachts werden nur Füchse und Rehe aufs Firmament der Sterne blicken. So viel zu einer Bootsfahrt."

"Russland wird erst dann eine Demokratie werden, wenn es zerfällt", schreibt Oksana Sabuschko in der New York Times. Sie erklärt den amerikanischen Lesern den russischen Imperialismus nach innen, der sich gegen viele Völker richtet, die gezwungen sind, innerhalb des Regimes zu leben. Tschetschenien war nur ein Beispiel. Und auch jetzt sei der Krieg nicht nur nach außen, gegenüber der Ukraine genozidal, sagt sie an die Adresse einer in diesen Fragen unaufmerksamen westlichen Öffentlichkeit: "Die unverhältnismäßig hohe Einberufung der ethnischen Minderheiten Russlands im Jahr 2022, eine Form der ethnischen Säuberung potenziell meuternder Regionen, wurde nicht halb so breit diskutiert wie die Not der ins Ausland fliehenden Moskauer Büroangestellten. Auch die Proteste der Frauen gegen die Mobilisierung in Dagestan und Jakutien wurden in den Weltmedien bezeichnenderweise als Proteste innerhalb Russlands tituliert."

Heute marschiert die Querfront, notiert Volker Breidecker im Tagesspiegel mit Blick auf die rechtslinke Truppe um Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer. Besonders nimmt sich Breidecker den General Erich Vad vor, bei dem man sich immer mehr fragen muss, wie er zum engen Berater Angela Merkels hatte aufsteigen können. Aus seiner Gesinnung hatte er nie einen Hehl gemacht: "Im Buch 'Strategie und Sicherheitspolitik - Perspektiven im Werk von Carl Schmitt' (1996) und konkreter noch im einem Vortrag, gehalten 2003 beim Institut für Staatspolitik auf Götz Kubitscheks Rittergut Schnellroda, der Denkfabrik der Neuen Rechten, zieht Erich Vad aus dem geopolitischen Großraumdenken Schmitts Konsequenzen für die europäische Gegenwart."

Selbst für taz-Redakteur Stefan Reinecke ist Sahra Wagenknecht auf dem Weg zur Querfront: "So ähnlich klingt es nicht nur bei Rechtsextremen - es gibt auch Berührungspunkte mit Putins Propaganda. Lafontaine und Wagenknecht scheinen auf ein Deutschland zu zielen, das sich aus der EU löst und in Richtung Putin die weiße Fahne hisst. 'Es war erklärtes Ziel der USA, ein Zusammengehen der deutschen Technik mit den russischen Rohstoffen zu verhindern', behauptet Lafontaine. Da blüht ein alter Traum der deutschen Rechten auf: Deutschland, fern vom liberalen Westen, verbrüdert mit dem christlichen, traditionellen Russland."

Dass es keine Verhandlungen gibt, ist Schuld der kriegstreiberischen Ukrainer und Amerikaner, meint der Soziologe Wolfgang Streeck, einer der Unterzeichner des Wagenknecht-Aufrufs, im Gespräch mit Michael Hesse von der FR: "Auch nach Kriegsbeginn gab es noch direkte Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine, unter anderem unter Vermittlung des israelischen Premierministers Bennett; diese endeten ergebnislos - nach Bennetts Auskunft, die er später halb zurückgezogen hat, infolge von amerikanischen und britischen Interventionen auf ukrainischer Seite."

Wagenknechts Koautorin Alice Schwarzer bestreitet, dass bei ihren "Pazifismus" die Membran gegen rechts undicht sei. Sie äußerte sich kurz vor der heutigen Demo in einem dpa-Interview, das etwa in der Berliner Zeitung zitiert wird. Sie bestreitet auch, "dass sie generell gegen Waffenlieferungen an die Ukraine sei. 'Die Waffenlieferungen müssen aber einhergehen mit diplomatischen Bemühungen', betonte sie. 'Selbst führende Militärs sagen, dass wir eine Pattsituation haben und dieser Krieg von keiner Seite klar zu gewinnen sein wird. Dann ist es doch ein Gebot der Menschlichkeit, den Krieg nicht immer weiter zu verlängern.' Es stimme absolut nicht, dass Sahra Wagenknecht und sie eine Kapitulation der Ukraine in Kauf nehmen wollten."

SZ-Redakteur Joachim Käppner lässt die Woche Revue passieren und hört sich die Reden Joe Bidens und Wladimir Putins nochmal an: "An keinem Punkt gingen die Reden Bidens und Putins so weit auseinander wie beim jeweiligen Feindbild. Der amerikanische Präsident wandte sich ans russische Volk, als er betonte, nicht Russlands Menschen seien der Feind des Westens, sondern ihr kriegführender Herrscher. Putin dagegen zeichnet ein mystisches Bild von 'dem kollektiven Westen' als finsterer Macht, so als hätten niemals ungezählte westliche Politiker, unter ihnen Angela Merkel und Emmanuel Macron, die Hand nach Russland ausgestreckt."

Putin hat den Krieg schon verloren, meint Jonathan Littell in Le Monde. "Die USA mussten nur 5 Prozent ihres jährlichen Militärbudgets für die Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte ausgeben und haben damit 50 Prozent der russischen Militärkapazitäten vernichtet oder stark beeinträchtigt." Putin habe nur noch nicht verstanden, in welcher Lage er ist. Das liege daran, dass der Westen - allen voran Olaf Scholz - nicht aufhört, "Signale der Schwäche" an Putin zu senden. "Hätte die Ukraine im November 2022 über die Panzer verfügt, die man ihr jetzt verspricht, hätte sie ihren Vormarsch in Lyman und Cherson fortsetzen, den Großteil des Oblast Luhansk zurückerobern und die russische Landbrücke zwischen der Krim und dem Donbass bei Melitopol abschneiden können. Heute sähe die Sache dann ganz anders aus. In diesem Fall wäre der Kreml womöglich gezwungen gewesen, sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Stattdessen tobt der Krieg weiter."

Die Verteidigungsexpertin Claudia Major antwortet in einem langen taz-Interview auf die mehr oder weniger voraussetzungslose Verhandlungsforderung der "Pazifisten". "So brutal es klingt: Krieg führen ist letztlich Teil eines Verhandlungsprozesses. Vereinfacht endet ein Krieg, wenn eine Seite gewinnt, beide nicht mehr können oder sich politisch auf einer Seite etwas verändert und die Kriegsziele sich ändern. Kriegsparteien nehmen häufig erst dann Verhandlungen auf, wenn sie erkennen, dass sie vom Aufhören mehr profitieren als von der Fortsetzung der Kämpfe. Diesen Moment müssten wir dann von außen unterstützen. Aber da sind wir noch nicht. Ein Kapitulationsfrieden, von dem nur eine Seite profitiert, wie im Manifest vorgeschlagen, wird nicht stabil sein."

Bülent Mumay hat in seiner FAZ-Kolumne oft die Korruption des Erdogan-Regimes beschrieben. Er hat sich seinen Zorn bewahrt und macht heute Erdogan direkt mit verantwortlich für die 40.000 Toten des Erdbebens, die ohne die von Erdogan betriebene Vetternwirtschaft in der Bauindustrie nicht zu erklären sind: "Das Erdogan-Regime hat dieser Katastrophe den Weg geebnet. Wir zahlen die Rechnung dafür, dass sämtliche Kompetenzen zentral zusammengefasst wurden. Die Befugnis zur Kontrolle und Abnahme aller Projekte in der Türkei lag bei den Berufsverbänden. Der Vereinigung der türkischen Ingenieur- und Architektenkammern entzog Erdogan aber diese Befugnis, weil sie 2013 die Gezi-Proteste unterstützte. Die Baukontrolle ging an private, gegen Bezahlung tätige Unternehmen über."
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Medien

Der RBB ist nach dem barocken Gehabe seiner ehemaligen Intendantin Patricia Schlesinger auch wirtschaftlich in einer tiefen Krise, muss Einschnitte in seinem Programm vornehmen (unser Resümee) und Dutzende Mitarbeiter entlassen. Schlesinger will nur, was ihr zusteht, meldet Spiegel online, und klagt auf eine Betriebsrente von 18.384,54 Euro."Pro Monat".
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Stichwörter: Schlesinger, Patricia, RBB

Internet

Slavoj Zizek macht sich in der Berliner Zeitung große Sorgen über die Künstliche Intelligenz, wie sie sich etwa in dem Textroboter ChatGPT manifstiert: "Kurz gesagt, das Problem entsteht, wenn der Mensch, der mit einem Chatbot Nachrichten austauscht, schmutzige Sprache verwendet oder heftige rassistische und sexistische Bemerkungen macht, und der Chatbot, der so programmiert ist, dass er auf dem gleichen Niveau wie die an ihn gerichteten Fragen antwortet, im gleichen Tonfall antwortet. Die offensichtliche Antwort ist eine Art von Regulierung, die klare Grenzen setzt, das heißt Zensur - aber wer wird bestimmen, wie weit diese Zensur gehen soll?"
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Politik

Teseo La Marca  unterhält sich für die taz mit dem zwanzigjährigen iranischen Musiker Omar Rahimi (Name geändert), der an den Protesten teilnahm und im Gefängnis gefoltert wurde. Aber er würde es wieder tun. Seine Motivation ist sonnenklar: "Am Tag, an dem ich von Jina Mahsa Amini erfahren habe, war ich am Boden zerstört. Stell dir vor, deine Regierung erniedrigt und misshandelt dich ständig, nur wegen deinem Glauben. Und dann hörst du, wie deine Leute wegen dieser absurden Gesetze, die es nur hier gibt, geschlagen und getötet werden. Das hältst du irgendwann nicht mehr aus, du rebellierst. Ich konnte nur noch an Mahsa und an die Tausenden anderen Menschen denken, die wegen dieses Systems sinnlos gestorben sind. Deshalb bin ich auf die Straße gegangen." In einem zweiten Artikel schildert Daniela Sepehri die Zustände im Evin-Gefängnis und vor allem die "weiße Folter", also Isolationshaft mit permanent eingeschaltetem Neonlicht.

Zugleich hat das iranische Regime in Deutschland immer noch nützliche Infrastrukturen wie die Blaue Moschee in Hamburg, die im Verdacht steht ein Tentakel des Repressionsapparats zu sein. Der CDU-Politiker Thorsten Frei, Parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag, fordert im Gespräch mit Helene Bubrowski von der FAZ endlich die Schließung: "Die Informationen sind da, und trotzdem gibt es keine Entscheidung. Und schlimmer noch: Es gibt offenbar sogar Formen der Zusammenarbeit. Das Bundesinnenministerium geht davon aus, dass das Islamische Zentrum Hamburg immer noch Mitglied im Zentralrat der Muslime ist, mit dem die Bundesregierung im Rahmen der Islamkonferenz eng zusammenarbeitet. Das ist empörend. Verfassungsfeinde dürfen keine Partner des Staates sein."

Liest man Natan Sznaider über die Lage in Israel, die er im taz-Interview mit Tania Martini reflektiert, dann hat man den Eindruck, dass das Land vor einem tiefen Einschnitt steht. Angefangen hat es für ihn mit dem Mord an Jitzhak Rabin: "Das Milieu, das diesen Mord veranlasst hat, sitzt jetzt in der Regierung... Was man hier als das zweite Israel bezeichnet, also das 'orientalische', das religiöse, das orthodoxe, kommt einem sehr deutlich vor Augen, wenn man in Jerusalem aus dem Zug steigt. In Tel Aviv hingegen konnte man alles haben - Hightech, Gay-Pride, großartige Theater, gute Universitäten, alles. Wir lebten in der Illusion, das sei Israel, aber Tel Aviv war eine Illusion. In Wahrheit gibt es eine immer größere Bevölkerung, die eine ungeheure Abneigung gegen alles hat, was Tel Aviv, das Babylon, repräsentiert."

Manchmal lesen sich auch Statistiken äußerst spannend. In der NZZ legt der Mediziner Yi Fuxian dar, dass der Bevölkerungsrückgang in China noch dramatischer ist, als bisher angenommen. China schreibt er, schrumpft, bevor es tatsächlich reich wird und sich gegen die Schrumpfung wehren kann - mit Riesenfolgen für die Weltwirtschaft. "Für Chinas demografische Krise gibt es sowohl physiologische als auch kulturelle Gründe. Da immer mehr Frauen Heirat und Geburt hinauszögern, ist die Unfruchtbarkeitsrate des Landes von 2 Prozent in den frühen achtziger Jahren auf 18 Prozent im Jahr 2020 gestiegen. Von 2013 bis 2021 ist die Zahl der Erstheiraten um mehr als die Hälfte zurückgegangen, bei den 20- bis 24-Jährigen sogar um drei Viertel. Und die Ein-Kind-Politik, die 36 Jahre lang galt, hat die Einstellung der Chinesen zum Kinderkriegen unwiderruflich verändert: Ein Kind zu haben - oder keines -, ist zur gesellschaftlichen Norm geworden."
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