9punkt - Die Debattenrundschau

Russland endet nirgendwo

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.02.2023. Wieviele Demonstranten für den Schwarzer-Wagenknecht-Aufruf auf die Straße gingen, ist umstritten. Jedenfalls waren es sehr sehr viele, findet die Berliner ZeitungFAZ und taz sehen es allerdings anders. Putins Krieg ist in Raum und Zeit unbegrenzt, fürchtet Greg Yudin in meduza.io. Nicht nur die Katholische Kirche, auch der Staat hat gegenüber den Fällen sexuellen Missbrauchs durch Priester versagt,  sagt der Kölner Staatsrechtler Stephan Rixen in der FAZ, denn er hat auf die Durchsetzung seiner Kompetenzen verzichtet. Die Fälschung der "Hitler-Tagebücher" suggeriert, dass Hitler vom Holocaust nichts wusste - darin liegt die eigentliche Dimension des Skandals, erinnert Hajo Funke in der SZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.02.2023 finden Sie hier

Europa

Auf der Berliner "Friedens"-Demo von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht kamen am Samstag zwischen 10.000 (so die Polizei) und 50.000 (so die Veranstalter) Demonstranten zusammen. Immer wieder wurde gerufen "Baerbock weg!", berichtet in der FAZ Friederike Haupt. "Die Ministerin gilt vielen der Demonstranten als Kriegstreiberin. Auch Schwarzer stellt es so dar, als verweigerte die deutsche Regierung Putin die Gelegenheit zur Aussprache. ... Wagenknecht räumt ein, die Ukraine dürfe kein 'russisches Protektorat' werden. Beide Seiten müssten Kompromissbereitschaft zeigen, auch Putin. Nur zeigt der eben bisher keine, er lässt weiter töten. Dieser Umstand wird von Schwarzer und Wagenknecht mehrfach in Wendungen formuliert, die den Täter verschleiern. Sie reden vom 'Sterben in der Ukraine' oder von Ukrainern, die 'jeden Tag zu Hunderten sterben', so als fielen sie Krankheiten zum Opfer und nicht Raketen. Schwarzer lässt sich gar dazu hinreißen, die Belastbarkeit ihres Urteils zum Krieg aus ihrer Erfahrung als Feministin herzuleiten: 'Der Weg von der Gewalt im Ehebett zur Gewalt an der Front ist nicht weit.' Krieg sei schlicht der Gipfel der Gewalt. Was es Frauen bringen sollte, mit dem Vergewaltiger im Gespräch Kompromisse zu suchen, statt sich zu wehren, sagt sie nicht."

"Über die Teilnehmerzahl beim Aufstand für Frieden wird gestritten", muss Alexander King in der Berliner Zeitung des Aufruf-Unterzeichners Holger Friedrich konstatieren, dabei ist er sich ganz sicher. "Fest steht: Es waren sehr, sehr viele. Jeder, der vor Ort war, und jeder, der gestern in Mitte oder Tiergarten unterwegs war, hat es erlebt: Der Zustrom zur Kundgebung am Brandenburger Tor war endlos." Nur eine bestimmte Fraktion ist nicht gekommen: "Die angebliche massenhafte Mobilisierung von Rechten zur Kundgebung, in manchen Medien in der offensichtlichen Absicht herbeigeschrieben, Menschen von der Teilnahme abzuhalten, hat sich als Mumpitz erwiesen."

Da sahen die taz-Reporter vor Ort etwas anderes, während sie hörten, wie sich Wagenknecht beschwerte, man versuche sie in die rechte Ecke zu rücken: "Selbstverständlich hätten Neonazis und Reichsbürger 'auf unserer Friedenskundgebung nichts zu suchen'. Das verstehe sich doch von selbst. Nun ja, während Wagenknecht spricht, stehen im Publikum einige, die das offenkundig anders sehen. Der verurteilte Holocaust-Leugner Nikolai Nerling ist dabei, die AfD mit mehreren Landtagsabgeordneten. Gekommen ist auch Reichsbürger und Ex-NPD-Mann Rüdiger Hoffmann. Neben einem 'Wagenknecht, die beste Kanzlerin'-Schild raucht Compact-Chefredakteur Jürgen Elsässer grinsend eine Zigarette. Es ist eine merkwürdige Mischung, die sich an diesem Spätwintertag in Berlin versammelt hat."

Der Soziologe Grigori oder Greg Yudin hatte schon kurz vor Beginn des Krieges annonciert, dass Putin die Ukraine überfallen werde ("Putin is about to start the most senseless war in history"). Krieg, sagt er jetzt im Gespräch mit Margarita Liutova im russischen Exilmedium meduza.io, ist für Putin ohnehin ein permanenter Zustand, und damit meint er den Krieg gegen den "kollektiven Westen". Und dieser Krieg "ist jetzt für immer. Er hat keine Ziele, die erreicht werden können und zu seinem Ende führen". Auch räumlich gibt es kein Ende. Putins "Weltbild kennt keine Grenzen. Diese Formel ist praktisch zu einer offiziellen Linie geworden: Russland endet nirgendwo. Dies ist die Standarddefinition eines Imperiums, denn ein Imperium kennt keine Grenzen."

In der FAZ denkt die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan darüber nach, wie man Putin zu Verhandlungen über ein Ende des Krieges bewegen könnte. Ihm Teile des ukrainischen Staatsgebietes anzubieten, kommt für sie nicht in Frage, vielmehr müsse man die Kriegskosten für ihn hochtreiben. Wie das gehen soll? "Da ist zum einen ein Ausbau von Olaf Scholz' zielstrebigen Bemühungen, in der Weltöffentlichkeit Partner für eine Deeskalation und womöglich für eine Verurteilung der russischen Aggression zu gewinnen. Das ist nicht einfach und braucht Zeit, berührt aber die Interessen Russlands, das im globalen Süden, vor allem in Afrika, seinen Einfluss wahren und ausbauen möchte, wie die Reisen Lawrows zeigen. Hier ist weitere Phantasie möglich und erforderlich. Bidens Eingehen auf den afrikanischen Wunsch, Mitglied im Sicherheitsrat zu werden, gehört dazu. Die Russen weichen hier aus und verlieren dadurch an Glaubwürdigkeit. Auch wenn eine konkrete Reform des UN-Sicherheitsrats aufgrund der erforderlichen Zustimmung Russlands aktuell unwahrscheinlich erscheint, würde die öffentliche Unterstützung afrikanischer Beteiligung ein klares politisches Signal an unsere afrikanischen Partner senden."

Den Schweizer Blick zitieren wir nicht gerade häufig. Aber Chefredakteur Gieri Cavelty hat eine interessante Frage. Warum liefert die Schweiz keine Waffen an die Ukraine, wohl aber an Katar? "Die Frage, die sich darum jetzt stellt: Liegt es tatsächlich an der Neutralität und hehren humanitären Prinzipien, wenn der Bundesrat der Ukraine sogar Schutzwesten verweigert? Oder steht da vielleicht doch eher die gleichermassen naive wie zynische Hoffnung im Vordergrund, die Schweiz könnte mit Russland lieber früher als später wieder dick ins Geschäft kommen?" Interessant auch dieser Bericht aus der Financial Times. Die österreichische Raiffeisen-Bank macht in Russland 2,2 Millarden Euro Profit, viermal so viel wie im Jahr zuvor.

Weiteres: "Die Ukraine ist verloren", hatte Herfried Münkler noch vor einem Jahr in einem Zeit-Interview gesagt. Auch jetzt noch sieht er die Ukraine in einem neuen Zeit-Interview mit Nils Markwardt im Nachteil angesichts der größeren Militärmacht Russlands und der bloßen Tatsache, dass der Krieg nun mal auf ukrainischem Territorium stattfindet und die ukrainische Bevölkerung terrorisiert. Auf einen Nachfolger Putins mag er leider auch nicht setzen. Wie soll der "gesichtswahrende Kompromiss" mit einem Mörder aussehen, der einem das Messer an die Kehle hält, fragt Richard Herzinger in seinem Blog in einer wütenden Antwort auf Jürgen Habermas: "In Wahrheit verhält es sich genau anders herum als Habermas suggeriert: Nur ein Sieg der Ukraine kann den Dritten Weltkrieg verhindern."

Seltsam still ist Erdogan nach der Erdbebenkatastrophe, schreibt Raphael Geiger in der SZ: "Bald sind Wahlen, auch wenn der Termin am 14. Mai seit den Erdbeben nicht mehr ganz sicher ist. In einem Monat beginnt auch der Ramadan. Erdogan plant große Veranstaltungen zum Fastenbrechen im Erdbebengebiet. Doch steht er auf einmal nicht mehr im Mittelpunkt des Geschehens, wie früher, als sich das Land um ihn drehte. An manchen Tagen hört man nichts von ihm."

Während hierzulande über die Rettungsaktionen deutscher Seeleute für Flüchtlinge diskutiert wird, schiebt die Türkei in großem Maßstab Afghanen ab, ohne dass sich jemand dafür interessieren würde. "Der Generaldirektor für die Bekämpfung irregulärer Migration und Abschiebungsangelegenheiten, Ramazan Seçilmen, erklärte im Dezember 2022, dass in jenem Jahr 61.617 Menschen nach Afghanistan abgeschoben worden seien", berichtet in der taz Valeria Hänsel, selbst Mitarbeiterin der NGO medico international. "Die Taliban sind nicht nur online in der Türkei präsent. Anwält:innen berichten, dass'"afghanische Diplomaten' systematisch die Abschiebegefängnisse in der Türkei besuchen. Von denen gibt es offiziell 25 im Land, zusätzlich existieren diverse informelle Haftorte und geschlossene Lager. Die politische Stimmung in der Türkei ist im Vorwahlkampf rassistisch aufgeladen. Die großen Parteien - sowohl von der Regierung als auch der Opposition - überbieten sich mit Versprechungen, die Abschiebezahlen zu erhöhen."
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Politik

Friederike Böge erzählt in der FAZ von drei jungen Chinesinnen, die seit Weihnachten wegen ihrer Proteste gegen Xi Jinpings Corona-Politik in Haft sind. Es wird befürchtet, dass an ihnen ein Exempel statuiert werden soll, so Böge: "Dabei sind die Frauen weit davon entfernt, Regimekritiker zu sein. Sie verbindet das Interesse an feministischen Filmen und die Sorge um sozial Benachteiligte. Zhai habe sich oft mit Lieferdienstfahrern über die Auswirkungen der Null-Covid-Politik unterhalten, sagt der Freund. Und sie habe sich für Theaterprojekte von Wanderarbeiterinnen interessiert. Die mit ihr inhaftierte freiberufliche Publizistin und Fotografin Li Siqi war in die Handelsstadt Yiwu gereist, um die Auswirkungen der Lockdowns auf die dortigen Kleinhändler zu dokumentieren. Auf ihrer Website schreibt Li über Genderrollen, die Sinnhaftigkeit von Erwerbsarbeit und ihr Bedürfnis, dem Hamsterrad der extrem langen Arbeitszeiten zu entfliehen, die in Chinas Techindustrie zum Alltag gehören. Es sind Themen, die eine ganze Generation junger Frauen in Metropolen wie Peking und Schanghai bewegen - und die sie in den Augen der chinesischen Sicherheitsbehörden verdächtig machen."

In Afrika scheinen Wahlen wenig zu ändern, denkt sich Dominik Johnson in der taz mit einem Blick auf die deprimierenden Verhältnisse in Kamerun, dem Kongo, Ghana, Sambia und Nigeria, wo am Wochenende gewählt wurde. Und hier gibt es einen kleinen Lichtblick: "Immer öfter punkten daher politische Außenseiter, die gegen das System an sich antreten, als selbst ernannte Quereinsteiger und Heilsbringer, die der verelendeten Masse die Tore zum Paradies öffnen sollen. Wo 90 Prozent der Bevölkerung Außenseiter sind, kann echte Demokratie eigentlich gar nicht anders funktionieren. In Nigeria muss Peter Obi, der als Spitzenkandidat einer Minipartei antritt, die Wahlen gar nicht gewinnen, um Nigerias Wahljahr 2023 zu prägen: Er sagt dem Politestablishment den Kampf an, predigt in einem der korruptesten Länder der Welt Genügsamkeit und Einfachheit und landet damit an der Spitze mancher Umfragen. Obi ist in Wirklichkeit selbst längst Teil der Elite, aber er wirkt glaubwürdiger als seine Kollegen, weil er die Werte dieser Elite kritisiert."
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Gesellschaft

Um Kinder besser vor sexuellem Missbrauch zu schützen, muss der Staat einfach mehr tun, meint im Interview mit der FAZ der Kölner Staatsrechtler Stephan Rixen. Dazu gehört, die juristischen Voraussetzungen zu schaffen, damit die Langerichte Schadenersatzzahlungen "in hohen sechsstelligen Summen" bewilligen können. Dann erst würden sich auch Gruppen wie die katholische Kirche bewegen, die bei der Aufklärung von Missbräuchen bislang noch auf das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen in Deutschland pocht. "Bislang haben sich alle anderen Akteure wie die Sportverbände oder die evangelische Kirche eher hinter der katholischen Kirche versteckt - und der Staat hinter allen. Jetzt wird man darüber nachdenken müssen, ob es für die Betroffenen nicht nur höhere finanzielle Entschädigungen geben muss als die, die etwa die katholische Kirche zahlt, sondern auch bessere Beratungs- und Unterstützungsangebote, die auf die Situation der Betroffenen zugeschnitten sind."
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Religion

Aus dem Koran lässt sich ein Anspruch der Palästinenser (die ja bekanntlich nicht alle Muslime sind) auf das Land Israel jedenfalls nicht ableiten, eher im Gegenteil, schreibt der liberale muslimische Theologe Abdel-Hakim Ourghi in der NZZ: "Insgesamt zehnmal spricht der Koran von der Gabe des 'Landes' an die Kinder Israels. In dem ersten Vers der in Mekka offenbarten Sure 17 ist die Rede von dem 'Land, das wir gesegnet haben'. Die muslimischen Korankommentatoren sind sich darüber einig, dass es sich dabei um das Land des biblischen Israel handelt. Im Zusammenhang mit dem Exodus, dem Auszug der Israeliten aus Ägypten, ist in derselben Sure Folgendes zu lesen: 'Und wir sagten zu den Kindern Israels: Bewohnt das Land!'."
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Medien

Vor vierzig Jahren publizierte der Stern die von Konrad Kujau gefälschten "Hitler-Tagebücher" - sechzig Bände, die seitdem in einem Safe im Stern lagern. Ein ARD-Rechercheteam konnte sie einsehen und förderte unter anderen zutage, dass der Fälscher enge Verbindungen zur Neonazi-Szene hatte. Für die SZ unterhält sich Peter Laudenbach mit dem Politologen Hajo Funke, für den die wahre Dimension des Skandals erst jetzt ans Licht kommt: "Die Fälschung suggeriert, dass Hitler vom Holocaust nichts wusste. In seiner Wahrnehmung, in seinem Verantwortungsbereich kommt der Holocaust in den 'Tagebüchern' nicht vor. Das ist der Versuch, Hitler von diesem Verbrechen reinzuwaschen. Dass sich der Stern dafür hergeben wollte und auch noch stolz darauf war, so die Geschichte des Nationalsozialismus umzuschreiben, das ist der eigentliche Skandal."
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