9punkt - Die Debattenrundschau

Tote pro Meter

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.03.2023. Im Tagesspiegel schildert Catherine Belton die Atmosphäre eisiger Einsamkeit, in die sich Wladimir Putin begeben hat. Dennoch ist der Krieg vor allem ein Zeichen für den Niedergang des Westens, so die überraschende These von Albrecht Koschorke in der Zeit. "Wieder einmal werden wir Syrer unter den Trümmern vergessen", schreibt der in Aleppo geborene Schriftsteller Khaled Kalifa in der NZZ. Lettre-International-Herausgeber Frank Berberich hat mit seiner Klage gegen Sinn und Form einen Teilerfolg erzielt. Die Zeitungen schreiben mit Staunen und Befremden über diesen Streit.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.03.2023 finden Sie hier

Europa

Die Ukraine wurde von Russland zwar überfallen, weil sie zum Westen gehören will. Die Nato hat durch den Krieg zu alter Stärke zurückgefunden, aber für den Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke ist der Krieg vor allem ein Zeichen für den Niedergang des Westens, wie er in einem Essay in der Zeit darlegt. Symptom dafür ist für ihn die mangelnde Kriegsbegeisterung im "globalen Süden", der in der Geografie des Postkolonialismus nun mal den Gegenpol zum Westen bildet. "Dass der Westen sich einmal mehr in ein womöglich auswegloses militärisches Engagement verstrickt, wird in Ländern der früheren Dritten Welt als ein Symptom für das nahende Ende einer von den USA dominierten internationalen Ordnung gelesen. Ohnehin begegnet man dort der moralischen Parteinahme des Westens für die Ukraine mit dem Verdacht, dass dem Leiden von Weißen mehr Gewicht beigemessen wird als dem Elend in südlicheren Weltregionen. " Koschorke kritisiert dann auch, dass "aus der berechtigten Empörung heraus in Deutschland und anderen Ländern eine nachgerade kriegstreiberische Stimmung entstanden ist".

Reinhard Veser hingegen betont in der FAZ die Isolation, in die sich Russland selbst verschuldet begeben hat; zwar halte China weiterhin zu Putins Regime und auch aus einigen Entwicklungs- und Schwellenländern blieben Proteste zum mit aller Gewalt geführten Krieg aus, "doch in dem Teil der Welt, zu dem Russland kulturell gehört und an dem sich eine große Mehrheit seiner Bewohner noch immer orientiert, Europa nämlich, ist sein Ansehen in einen Abgrund gefallen."

Unterdessen tobt der Krieg mit unverminderter Gewalt. taz-Redakteur Dominic Johnson sieht die Schlacht um die völlig zerstörte Stadt Bachmut als Entscheidungskampf: "Bachmut hat an sich wenig strategischen Wert. Es geht um Symbolik. Wenn Russland die Stadt erobert, erringt es seinen ersten klaren Sieg seit der Einnahme der Industriestadt Sewerdonezk im Juni 2022 - um den Preis mehrerer Toter pro Meter bei zwei Kilometern Geländegewinn im Monat. Wenn die Ukraine Bachmut hält, zeigt sie, dass sie auch den massivsten Angriffen widerstehen kann - beste Voraussetzung für die geplante Großoffensive gegen die russische Besatzung insgesamt."

Russland ist ein "Pariastaat", die russische Wirtschaft schrumpft - und Putin wird innerhalb des Sicherheitsapparates nur noch von einer sehr kleinen Fraktion unterstützt, sagt die britische Journalistin Catherine Belton im von uns gestern übersehenen Tagesspiegel-Interview. Zudem habe Putin offenbar Angst ermordet zu werden: "Putin fürchtet ganz offensichtlich jeden direkten Kontakt. Erstmals war er nicht in der Weihnachtsmesse in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau. Er blieb im Kreml, nur für ihn allein wurde dort in der Verkündigungskathedrale eine Messe abgehalten. Er vertraut nicht einmal dem eigenen Regierungskabinett. Die Sitzungen mit den Ministern werden immer öfter virtuell abgehalten. Zu ihm persönlich kommt man nur nach mehreren Sicherheitschecks durch. Bei seiner Neujahrsansprache sah man ihn umgeben von Menschen in Militäruniform. Als man die Fotos genauer untersuchte, stellte sich heraus, dass einige dieser Leute auch schon mit ihm bei anderen Gelegenheiten in diversen Rollen fotografiert worden waren."

Bevor der Bundestag verkleinert wird, würde Ronen Steinke in der SZ gern erstmal wissen, was die Parlamentarier dort eigentlich so treiben. Denn: "Das allermeiste, was der Bundestag heute beschließt, kommt mundgerecht vorbereitet aus der Regierung zu ihm, ob es schmeckt oder nicht. Und dann beschränken sich die Abgeordneten in aller Regel darauf, diese Gesetzentwürfe 'zu überprüfen', so formuliert es Norbert Lammert, der langjährige Bundestagspräsident - 'wie eine Produktkontrolle'. Lammert fügt hinzu: 'Dabei findet sicher noch eine Politur statt.' Konkret: Vielleicht zehn Prozent des Textes, den die Regierung vorgibt, werden noch umgeschrieben. 'Aber dass da in der zweiten oder dritten Lesung noch mal eine wirkliche Kurskorrektur vorkommt, ist eher die Ausnahme.' Das bedeutet auch: Angenommen, von der Exekutive käme einmal gar nichts mehr, keine Gesetzesvorlage, kein Formulierungsvorschlag - unter der Reichstagskuppel würde es ganz schnell still. Eine sonderbare Vorstellung."
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Politik

"Wieder einmal werden wir Syrer unter den Trümmern vergessen", schreibt der in Aleppo geborene Schriftsteller Khaled Kalifa in der NZZ: "Leichen überall, die Flure der Krankenhäuser voller verstümmelter Toter, die darauf warten, von ihren Angehörigen identifiziert und begraben zu werden. Man kann den Anblick nicht anders beschreiben als mit dem Jüngsten Tag, den ich mir genau so vorgestellt habe wie das, was seit zwölf Jahren in Syrien passiert. Russland hatte damit geprahlt, dreihundert tödliche Waffen in Syrien getestet zu haben, die es der Welt zum Kauf anbot. Doch als das Land den Krieg gegen die Ukraine begann, waren diese Waffen nichts weiter als Schrott, und um die Welt zu bedrohen, blieben Russland nur noch die Atomwaffen. Eigentlich hätte Russland seiner Verlautbarung, Waffen in Syrien getestet zu haben, noch hinzufügen sollen, dass dieses Kriegswerkzeug darauf spezialisiert ist, ausschließlich wehrlose Kinder und Zivilisten zu töten."

Die Autorin Fania Oz-Salzberger und der Jurist Eli Salzberger zeichnen in der taz nochmal nach, wie die neue israelische Regierung die demokratischen Institutionen untergräbt und den Konflikt mit den Palästinensern anheizt. Und sie "rufen Israels Freunde überall, aber besonders in Deutschland auf, uns zu helfen, Israels Demokratie zu schützen". Sie selbst denken über zivilen Widerstand nach, so die Autoren, "gewaltlos, aber bereit, im Kampf gegen diese mehr und mehr illegale Regierung auch Gesetze zu brechen".
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Internet

"Künstliche Intelligenz wird wahrscheinlich vieles eliminieren, was im 20. Jahrhundert noch die Grundlagen für das Funktionieren der Gesellschaft waren: Die meisten Formen der Industrialisierung. Das Urheberrecht. Marken", sagt KI-Entwickler Mark Rolson, der im SZ-Gespräch mit Andrian Kreye auch einen Blick in die nächste Zukunft wird: Bald "wird es nämlich keine Apps mehr geben, sondern eine künstliche Intelligenz, die all die Wünsche erfüllt, für die man derzeit auf dem Smartphone noch nach einer App sucht. Man wird mittels eines Sprachbefehls einfach formulieren, was man gerade braucht."
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Geschichte

Die Namen der frühen KZs Kislau, Ahrensbök oder Breitenau sind heute kaum bekannt, damals konnte jeder allerdings von ihrer Existenz wissen, denn sie lagen oft mitten in den Städten, erinnert Jörg Häntzschel, der für die SZ die bundesweit gezeigte, am Dienstag von Claudia Roth eröffnete Ausstellung "Auftakt des Terrors" besucht hat. Die frühen KZs waren "'Probebühnen' für die späteren, industriell aufgezogenen KZs und Vernichtungslager gewesen, 'Labore der Gewalt'. Im 'de facto rechtsfreien Raum' dieser Gefängnisse improvisierten die Aufseher je nach Befehl des jeweiligen Kommandanten mit Erniedrigung und Entmenschlichung, Ausbeutung, Folter und Mord - Methoden, von denen viele dann später zu festen Bestandteilen des durchorganisierten Lagerterrors der großen KZs wurden. Massenhaftes Töten fand in den frühen KZs aber nicht statt. Und auch wenn Juden besonders brutal behandelt wurden, kamen die allermeisten Gefangenen wegen ihrer politischen Überzeugungen in diese Lager, zur 'Umerziehung'."
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Medien

Lettre International und ihr Herausgeber Frank Berberich hatten eine wettbewerbsrechtliche Klage gegen die von der Berliner Akademie der Künste herausgegebene Zeitschrift Sinn und Form angestrengt (Unsere Resümees), die Herausgabe der Zeitschrift wurde vom Landgericht Berlin nun vorläufig untersagt, melden Wolfgang Janisch und Jens-Christian Rabe in der SZ: "Noch nicht wirklich geklärt ist freilich, ob die Akademie überhaupt eine Zeitschrift vertreiben darf. Das ist heftig umstritten, denn die Akademie ist eine bundesunmittelbare Körperschaft. Der Staat aber darf sich normalerweise nicht mit einem eigenen Blatt auf dem Zeitschriftenmarkt tummeln. Das Grundgesetz enthält eine 'Institutsgarantie' der freien Presse, danach ist dem Staat jede Verzerrung des publizistischen Wettbewerbs untersagt. 'Der Staat darf sich nur in engen Grenzen auf dem Gebiet der Presse betätigen', urteilte der Bundesgerichtshof vor einigen Jahren. Ganz ausgeschlossen ist die staatlich finanzierte Presse aber nicht. Immerhin ist die Berliner Akademie mit gesetzlichem Auftrag zur 'Repräsentation des Gesamtstaates auf dem Gebiet der Kunst und Kultur' unterwegs. Ob dazu auch die Herausgabe einer intellektuellen Zeitschrift gehört, dazu schweigt das Gesetz - verbietet es aber auch nicht ausdrücklich."

Sinn und Form schreibt auf seiner Website, das Landgericht stütze sein Urteil "auf rein formale Gründe, denen die Akademie der Künste selbst abhelfen kann", ergänzt Cornelia Geißler in der Berliner Zeitung: "Das klingt einfacher, als es sein dürfte. Um beide Zeitschriften wettbewerbsrechtlich gleichzustellen, müsste das Finanzierungsmodell von Sinn und Form geändert werden. Und nicht nur hier. Berberich kritisiert ebenfalls den Wettbewerbsvorteil der Zeitschrift Kulturaustausch, die am Institut für Auslandsbeziehungen angesiedelt ist, und des Online-Formats LCB diplomatique, betreut vom Literarischen Colloquium Berlin. Es scheint, als sei dies alles nur der Anfang einer längeren und widersprüchlichen Auseinandersetzung. Das Ganze erinnert an die seit 2011 immer wieder aufflackernden Auseinandersetzungen um die 'presseähnlichen' Internetauftritte der öffentlich-rechtlichen Medien." Berberich kann sich als "Rechthaber fühlen, aber nicht mehr", kommentiert Jürgen Kaube in der FAZ: Er "hat im inhaltlichen Sinne … keiner 'Staatszeitschrift' das Handwerk gelegt, denn Sinn und Form hat seine staatsnahen Zeiten seit 1989 hinter sich."

Es sind nicht nur die Details, die die Enthüllungen rund um Fox News so brisant machen (Unsere Resümees), schreibt Lukas Hermsmeier auf ZeitOnline: "Wie sich durch die neuen Dokumente nachvollziehen lässt, half Fox News in den Wochen nach der Wahl 2020 mutwillig dabei, eine Stimmung in Teilen der US-Rechten zu erzeugen, die sich am 6. Januar 2021 mit dem Sturm auf das US-Kapitol gewaltsam entlud. Mehrere Menschen starben damals, verschiedene Untersuchungen dazu laufen gegenwärtig noch immer. Sollte Fox News also den Prozess gegen Dominion verlieren, droht nicht nur eine Strafzahlung in Rekordhöhe, es drohen womöglich auch weitere juristische Konsequenzen. Andersherum könnte sich Fox News bei einem für den Sender positiven Urteil darauf stützen, dass die eigene 'Berichterstattung' nach den Buchstaben des Gesetzes 'journalistische Standards' erfüllt habe. Es wäre eine Zementierung der Fox-News-Identität, eine Bestätigung, dass sich Lügen lohnen und Demokratiezersetzung auszahlen kann."
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Kulturpolitik

Das Islamische Zentrum Hamburg darf nicht an der Leipziger Buchmesse teilnehmen, Claudia Roth begrüßt die Entscheidung. Ein bisschen bigott findet Lucien Scherrer das in der NZZ schon: "Vertreter der Moschee fielen … mit ihrer Teilnahme am Al-Kuds-Marsch auf, einer Massenveranstaltung, an der gegen Juden gehetzt und Terrororganisationen wie der Hizbullah gefeiert werden. Dennoch schloss der Hamburger Senat 2012 einen Staatsvertrag mit dem Rat der islamischen Gemeinschaften in Hamburg (Schura) ab, dem auch das IZH angehört. Nur die FDP stimmte gegen den Vertrag. Unterzeichnet wurde er vom heutigen Bundeskanzler Olaf Scholz. Kritik an diesem als integrativem Meilenstein gewürdigten Staatsvertrag wehrte die Schura noch 2021 als 'islamophobe Hetze' ab. Das IZH vertrete Werte, die im Einklang mit der Demokratie stünden, zudem habe es 'versichert, keine politische Vertretung Irans zu sein'. Erst als der Verfassungsschutz weitere Details über Verstrickungen mit Terrororganisationen veröffentlichte und die Proteste in Iran immer lauter wurden, gaben auch die linken Parteien ihre duldsame Haltung auf."
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Wissenschaft

In der New York Times ordnet David Wallace-Wells ein, was die neueste Recherche-Arbeit des amerikanischen Energieministeriums bezüglich der Theorie bedeutet, das Corona-Virus könnte versehentlich aus einem Labor entkommen sein. Er legt klar, dass andere amerikanische Regierungsinstanzen diese "Lableak-Hypothese" eher nicht unterstützen und sieht sie selbst nicht als sehr wahrscheinlich an. Die Hauptfrage ist für ihn eher, ob und wie solche Erkenntnisse umgesetzt werden, um die Sicherheit von Laboren zu optimieren: "Wäre es nicht besser gewesen, selbst auf die kleinste Möglichkeit eines Lableaks hin mit der simplen Aussage zu reagieren, 'Lasst uns alles in unserer Macht stehende tun, dass sowas nicht wieder vorkommt'? Oder zumindest dafür zu sorgen, dass wir alles tun, um Überwachung und Regulation der Labore sicherzustellen, sodass wir beim nächsten Mal wirklich wissen, woran es lag?"
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