9punkt - Die Debattenrundschau

Auf Kosten des allgemeinen Untergangs

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.03.2023. Sind Juden weiß? Ja, für "Antirassisten" ganz eindeutig. Aber Mirna Funk ärgert sich in der Welt gewaltig über die Zuschreibung. Bei den Salonkolumnisten erzählt Jacques Julliard, neunzig, wie er schon in den Fünfzigern lieber mit Camus Gegen-, als mit Sartre Rückenwind bekam. In der taz ist Dirk Knipphals geschockt über die Unsolidarität Frank Berberichs, der seine Lettre International ohne Subventionen betreibt, mit der Zeitschrift Sinn und Form, die ihm mit Staatsgeld Konkurrenz macht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.03.2023 finden Sie hier

Europa

Ira Peter trifft für die FAZ in Tiflis einige russische Emigranten, die vor der Gefahr der Einziehung und Repression nach Georgien geflohen sind, etwa die Journalistin Lisa, die für das Putin-kritische russische Medium Doxa arbeitet. Die Russen haben bereits Infrastrukturen aufgebaut, etwa Cafés im hippen Stadttteil Sololaki, und es kommt zu aparten Konstellationen: "In Sololaki in der Tifliser Altstadt befindet sich auch das Büro einer Hilfsorganisation für Ukrainer, die Russen im April gegründet haben. 'Emigration for action' versorgt Ukrainer kostenfrei mit Medikamenten. Hier werden auch Diskussionsabende mit Oppositionellen und Friedensdemos vor dem Parlament geplant. Hunderte von Russen, Belarussen und Ukrainern kommen. Lisa geht nie hin: 'Wozu? Wen will ich hier überzeugen? Hier sind alle gegen Putin und gegen den Krieg.' Wie auch die georgische Bevölkerung."

In der NZZ verurteilt Dmitrij Gawrisch, Schweizer Schriftsteller ukrainischer Herkunft, nicht nur das Schweigen der russischen Zivilgesellschaft, sondern auch die Arroganz des Westens, der mehr über als mit den Ukrainern spreche: "Ukrainerinnen und Ukrainer kämpfen für ihre Selbstbestimmung. Es wird viel darüber gesprochen, wie man diese Bestrebungen am besten unterstützen kann. Hier lehrt mich der Krieg gleich zwei weitere Lektionen. Die erste: Politischer Opportunismus ist in westeuropäischen Staaten weiter verbreitet, als Demokratinnen und Demokraten lieb sein kann. Und zweitens: Obwohl sich viele Staaten seit einigen Jahren mit ihrer kolonialistischen Vergangenheit befassen, ist es ihnen noch nicht gelungen, das überhebliche Gebaren ganz abzustreifen. Viel zu oft erlebe ich zurzeit Debatten, sehe ich Podien, auf denen über die Ukrainer gesprochen wird statt mit ihnen, auf denen vermeintliche 'Expertinnen' zu wissen meinen, was der Ukraine helfe und was ihr schade, als wäre sie ein ahnungsloses, unbeholfenes Kind."

Ganz so stimmt die Erzählung vom "atom-panischen Deutschen" nun nicht, erinnert Georg Mascolo im Feuilleton der SZ. Deutschland half mitunter dabei, wenn "Diktatoren mit deutscher Nukleartechnik nach der Bombe griffen": "Ein bitteres Kapitel der Geschichte des Verhältnisses Deutschlands zur Bombe umfasst knapp zwei Jahrzehnte und handelt von heute schwer nur noch zu begreifender Verantwortungslosigkeit. Mal mit offiziellen Forschungskooperationen und/oder begünstigt durch lasche deutsche Exportkontrollen kamen Indien, Pakistan, Iran, der Irak und Libyen an deutsche Nukleartechnik. Indien und Pakistan gelangten schließlich ans Ziel, Iran steht womöglich kurz davor. Bis heute sagen hochrangige Bonner Beamte jener Zeit, dass sie sich für nichts in ihrem beruflichen Leben so sehr schämen. Gründlich aufgearbeitet wurde dieses Kapitel nie."

Das verschärfte LGBT-Propaganda-Gesetz in Russland scheint "ein öffentliches Ablenkungsmanöver zu sein - von politischen Themen", sagt der russische trans-Autor Mikita Franko, dessen auch auf Deutsch erschienener Roman "Die Lüge" über ein schwules Paar heute in Russland nicht mehr verlegt wird, im Tagesspiegel-Gespräch mit Maria Kotsev: "Und von der Situation in der Ukraine. All das ist im selben Jahr passiert und auch wenn es nicht direkt inhaltlich miteinander verknüpft ist, besteht da eine Verbindung. Es ist klar, dass es staatliche Homophobie gibt - und jetzt verfestigt sie sich. Und ich glaube, dass es mit der Ukraine zu tun hat und dem Versuch, die Menschen davon abzulenken und einen Sündenbock zu finden."
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Politik

"Mysteriöse Vergiftungen", titelt die FAZ. Viel weiß man noch nicht über die Giftgasattacken gegen Mädchenschulen im Iran. Einige Mädchen mussten nach diesen Attacken im Krankenhaus behandelt werden. "Als ausgeschlossen gilt, dass eine radikale Gruppe, vergleichbar mit den afghanischen Taliban, hinter den Angriffen steckt", schreibt Rainer Hermann in der FAZ. "Ein Fingerzeig könnte vielmehr sein, was sich in den vergangenen Tagen an einer Mädchenschule in Buschehr und einer im Süden Teherans ereignet hat. Dabei zwangen die Eindringlinge die Mädchen, einen Pornofilm zu sehen. Dazu sagten sie, dass Iran so aussehen würde, sollten die Proteste, die seit September anhalten, Erfolg haben."

Ähnlich sieht es Teseo La Marca in der taz: "Dass die Giftanschläge in einem solchen Ausmaß überhaupt verübt werden können, ohne dass jemand zur Rechenschaft gezogen wird, macht viele Iranerinnen und Iraner misstrauisch. Zum Vergleich: Wenn eine Frau in der Öffentlichkeit auch nur ihren Schleier ablegt, riskiert sie im heutigen Iran, von Kameras mit Gesichtserkennungsfunktion identifiziert zu werden und saftige Geldstrafen zu erhalten." Mehr bei tagesschau.de.

Ein Jahr wurde auf Chinas Zwölf-Punkte-Papier zur Friedensfindung im Ukraine-Krieg gewartet, nun wird es von der Sinologin Nora Sausmikat in der taz eingeordnet. Sie wertet die chinesischen Thesen als "Bausteine zur Umformung der internationalen Ordnung", die aber keine genaue Positionierung zu Russland enthalten. Stattdessen wird das Konzept der Staatssouveränität betont, das für China eine Nichteinmischung in die eigene Politik bedeute. China betone hier nun "die Bedeutung der territorialen Souveränität aller Länder. Ein kleiner Unterschied zur staatlichen Souveränität mit großen Folgen. Dies kann heißen, dass dies eine Anerkennung russisch annektierter Gebiete als russisch nach sich zieht. Letztlich können hier auch Rahmenbedingungen geschaffen werden, die die Änderung des Status Taiwans nach sich ziehen."
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Kulturpolitik

Ein wenig wehmütig verabschieden Susanne Lenz und Harry Nutt in der Berliner Zeitung Klaus Lederer, der als Kultursenator von CDU-Mann Joe Chialo abgelöst werden könnte. Chialo, geboren in Bonn als Sohn einer Diplomatenfamilie aus Tansania, blickt aus "postkolonialer Perspektive" auf die deutsche Politik, fördert gemeinsam mit Universal Music deutschen Schlager ebenso wie Musik aus dem afrikanischen Raum und wechselte 2016 von den Grünen in die CDU: "Dort plädiert er für einen Perspektivwechsel, der Schluss macht mit dem Paternalismus bisheriger Entwicklungspolitik. 'Afrika braucht uns nicht, wir brauchen Afrika', lautet seine Devise. Ob er diesbezüglich die gleiche Sprache spricht wie etwa der Verein Decolonize Berlin oder Bonaventure Ndikung, der Chef des Hauses der Kulturen der Welt, wird sich zeigen."

Schön für Halle, dass die Stadt an der Saale vom Bund den Zuschlag für das "Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation" bekommen hat, meint der Historiker Norbert Frei in der SZ - nur wie sinnvoll ist so ein Projekt, das laut Bundesregierung "kluge Strategien für die Transformationsprozesse der kommenden Jahrzehnte" entwickeln soll, fragt er: "Es handelt sich um die Rhetorik eines politischen und finanziellen Zuwendungsdenkens, das trotz vieler gegenteiliger Erfahrungen darauf setzt, dass 'unten' Ruhe einkehrt, wenn von 'oben' nur genügend Geld fließt. Und es steckt darin die unausgesprochene Unterstellung, die Menschen im Osten dieses Landes bedürften auf alle Zeiten einer Therapie."
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Ideen

In der Welt ärgert sich die jüdische Autorin Mirna Funk über das von postkolonialen Denkern inzwischen im Mainstream verbreitete Narrativ, Juden seien nicht mehr "rassifiziert", sondern weiß - "so wie auch die anderen Unterdrücker der Welt eben weiß sind". In Israel hatte "von den 7,5 Millionen Juden vor zwanzig Jahren die Hälfte einen nordafrikanischen oder eben afrikanischen Familienhintergrund. Trifft man heute Israelis in meinem Alter oder jünger, dann kommen so gut wie alle aus gemischten Familien." Und noch eine Anmerkung für den postkolonialen Diskurs: "Die Machtübernahme von Menachem Begin, der 1977 den Likud anführte, definiert bis heute das politische Geschehen des Landes. Bis Ende der Siebzigerjahre war Israel nämlich sozialistisch und die stärkste Partei die Arbeiterpartei. Dann aber wählte die mizrachische Bevölkerung eine rechtskonservative Partei, die bis dato mit Benjamin Netanjahu die israelische Politik seit fast 50 Jahren prägt. Wer also glaubt, die 'weißen Aschkenasi-Juden' unterdrücken die Palästinenser und manifestieren ihr kolonialistisches und imperialistisches Denken, hat die gesamte politische Landschaft Israels nicht begriffen. Denn der mizrachische Israeli, dessen Großeltern noch Arabisch sprachen, ist jener, der sich mit Händen und Füßen gegen eine Zweistaatenlösung wehrt. Auch, weil er über Jahrhunderte von der arabischen Bevölkerung des jeweiligen Heimatlandes unterdrückt, gedemütigt und ermordet wurde."

Jacques Julliard, einer der großen Intellektuellen aus der in Frankreich immerhin vorhandenen antitotalitären Schule, wird neunzig. Marko Martin hat ihn in Paris für die Salonkolumnisten getroffen, und er preist unermüdlich die Schönheiten eines reformorientierten Denkens, über das die meisten Intellektuellen in Frankreich eher die Nase rümpfen. 1968 war da nicht der Anfang: "Ich hatte schon zuvor in den Fünfzigerjahren erfahren, wie letztlich wirkungslos und kontraproduktiv das pathetische Schwadronieren ist, für das so viele französische Intellektuelle eine fatale Schwäche haben. Schon als ganz junger Mann fühlte ich mich deshalb Albert Camus und seinem Rekurs auf die Konsequenzen, auf die individuelle Verantwortlichkeit viel näher - obwohl oder gerade weil er von den Tonangebenden seiner Zeit, etwa von Sartre und Simone de Beauvoir, bespöttelt, ja verächtlich gemacht wurde. Das waren meine frühen Prägungen, auch im Umkreis der antitotalitären Zeitschrift Esprit."
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Gesellschaft

Die taz wartet angesichts des heutigen globalen Klimastreiks mit einem sechsseitigen Dossier zur "Klimasabotage" auf. Im Editorial skizziert Christian Jakob den Stand der Debatte und beklagt, dass zu wenig gehandelt wird: "Die Leugner spielen heute politisch keine Rolle mehr, die Skeptiker sind weniger geworden. Greta Thunberg, Fridays for Future, Aktivist:innen, Wissenschaftler:innen, auch Medien haben das Thema, das so lange sträflich unterschätzt wurde, fest auf die Agenda gesetzt. Die physikalischen Grundlagen der Klimakrise, die Zusammenhänge mit unserer Wirtschafts- und Lebensweise, ihre dramatischen Folgen - all das ist in den meisten Köpfen angekommen. Was heute fehlt, sind ausreichende Konsequenzen."
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Geschichte

Armin Fuhrer erzählt im Spiegel, gestützt auf Recherchen des Historikers Jan Grabowski und seiner Kollegin Shira Klein, wie nationalistische polnische Historiker die englischsprachigen Wikipedia-Artikel zum Holocaust systematisch unterwanderten und im Sinne der polnischen Nationalmythen schönten und verfälschten: "Dabei, so der Vorwurf von Grabowski und Klein, spielten sie die Bedeutung des unbestritten in der polnischen Gesellschaft existenten Antisemitismus vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg herunter und rechneten die Zahl der dem deutschen Terror zum Opfer gefallenen Polen hoch, um sie der der Juden gleichzustellen." Der Artikel von Grabowski und Klein ist im Journal of Holocaust Research frei zugänglich.
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Stichwörter: Wikipedia, Polen, Holocaust

Medien

Dirk Knipphals zeigt sich in der taz bestürzt über das Urteil im Fall Sinn und Form. Er ist geschockt "darüber, dass das Weiterbestehen einer Zeitschrift nicht nur durch den Markt und das Internet gefährdet ist, sondern auch durch unsolidarisches Verhalten untereinander. Frank Berberich von Lettre International, der das Verbot von Sinn und Form gerichtlich betreibt und nun einen Teilsieg errungen hat, hat Züge des sprichwörtlichen Michael Kohlhaas angenommen, eines Menschen, der Gerechtigkeit auch aufKosten des allgemeinen Untergangs durchsetzen will." Dass man sich durchaus mal Gedanken machen kann um Finanzierungsfragen und Trägerschaften, die nicht mit der gebotenen Staatsferne in Konflikt kommen, findet auch Knipphals, aber bitte nicht zum Leidwesen der eh schon überschaubaren Journal-Szene in Deutschland.

"Die Erklärung, hier würde ein 'angry old man' zur Tat schreiten, weil sein Druckerzeugnis den Zenit überschritten habe und die Kräfte langsam abnehmen, greift indes zu kurz", kommentiert Ulrich van Loyen im Freitag, dankbar dass Berberich "die Grundproblematik der deutschen Kulturförderung aufzeigt: die Tatsache, dass die Unlust zu gesetzlicher Klärung eine Art von Interventionsförderung hervorgebracht hat, die von Praktiken klientelistischer Gesellschaften nicht mehr weit entfernt ist. Was dabei herauskommt, ist eine Verlagsförderung nach Preisen (Deutscher Verlagspreis) und ein Zeitschriftenmarkt, wo noch jede Institution ihre Duftmarke hinterlässt. Das ist nicht notwendig zum geldwerten Nachteil von Übersetzern und Autoren, aber es ist weder nachhaltig noch belohnt es Engagement. Und es fördert am Schluss zwar keine Staatskunst - woran vermutlich nicht einmal Frank Berberich ernsthaft glaubt - aber einen hilf- und zahnlosen Begriff von Vielfalt, Demokratie und Literatur, wie er aus dem Protestschreiben der Berliner Akademie der Künste hervortritt (das von zahlreichen Schriftsteller:innen unterzeichnet wurde)."
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