9punkt - Die Debattenrundschau

Die Fähigkeit anzugreifen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.03.2023. In der NZZ beschreibt der ukrainische Militärkorrespondent Juri Butusow die grausame Logik des Krieges: Der Schlüssel zum Erfolg ist, dem Feind Verluste zuzufügen. Die taz beschreibt, wie in Uganda der Hass auf Homosexuelle mobilisert wird. Rechtsextreme Tendenzen auch in Tunesien beschreibt der Tagesspiegel. Die Feuilletonschefs der FAZ fragen Meron Mendel zum Existenzrecht Israels, jetzt wo auch dort Rechtsextreme mitregieren: "Die Anerkennung halten wir aufrecht angesichts der Holocaust-Erfahrung, oder nicht?"
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.03.2023 finden Sie hier

Europa

Sehr nüchtern spricht der ukrainische Militärkorrespondent Juri Butusow mit Ivo Mijnssen von der NZZ über den Krieg, lässt auch die Schwächen der ukrainischen Verteidigung nicht aus und benennt das grausam klingende Ziel: "Der Schlüssel zum Erfolg ist, dem Feind Verluste zuzufügen, die er nicht ersetzen kann. Sie müssen die besten und motiviertesten Einheiten treffen, die kompetenten Offiziere und Unteroffiziere. Ohne sie verliert die Armee die Fähigkeit, anzugreifen und zu kämpfen. Diese kann noch so groß sein, aber sie erreicht nichts, wenn sie keine Leute hat, um Einheiten in der Schlacht zu führen."

Ebenfalls in der NZZ sieht der Wiener Osteuropshistoriker Oliver Jens Schmitt die Position Deutschlands durch den Krieg geschwächt. Polen werde zur Führungsmacht einer neuen Allianz mit den baltischen und nordischen Ländern: "Das Misstrauen gegenüber der deutschen Regierung und insbesondere gegenüber der SPD ist in Polen aber ebenso parteiübergreifend wie inhaltlich gerechtfertigt." In einem weiteren NZZ-Artikel analysiert Nadine A. Brügger Wolodomir Selenskis Rhetorik.


Der Guardian meldet unterdessen in seinem Liveblog, dass die ukrainische Seite in der seit Wochen umkämpften Stadt Bachmut unter starkem Druck steht.
Archiv: Europa
Stichwörter: Osteuropa, Ukraine-Krieg 2022

Politik

Uganda ist berüchtigt für eine gnadenlose Verfolgung von Homosexuellen. Das Thema hat in den letzten Jahren an Mobilisierungskraft verloren, weil sich ohnehin niemand zu Homosexualität bekennt, schreibt Joachim Buwembo in der taz. Nun bringt ausgerechnet ein Oppositioneller, "der einzige Vertreter seiner muslimischen Partei", einen neuen Gesetzentwurf zur Bekämpfung von Homosexualität ins Parlament ein, das sich eigentlich mit einigen Korruptionsskandalen befassen müsste: "Man würde in dieser Situation nicht die Jagd auf mutmaßliche Schwule zur Priorität erklären. Aber die Parlamentspräsidentin will das durchziehen: Die Abstimmung über das neue Antihomosexualitätsgesetz soll öffentlich stattfinden, per Handzeichen, und religiöse Führer sollen zuschauen. Jeder soll wissen, wer für Homosexualität ist und wer dagegen. Man kann dies als Einschränkung der Gewissensfreiheit der Abgeordneten werten. In einem so ultrareligiösen konservativen Land setzt jeder Abgeordnete, der hier mit Nein stimmt, seiner Karriere ein Ende. Homosexualität ist in der Gesellschaft zwar kein Thema, aber das ist kein Widerspruch: Sie gilt als fürchterliche Sünde, die sehr selten ist."

Die rechtsextreme Wahnidee vom "großen Austausch" hat auch in Tunesien Anhänger - bis nach ganz oben. Präsident Kais Saied hatte mit fremdenfeindlichen Äußerungen Gewalt gegen Migranten ausgelöst. Sarah Mersch berichtet im Tagesspiegel: "Es gebe orchestrierte kriminelle Bestrebungen nicht näher genannter Gruppierungen, die Geld dafür erhalten würden 'die demografische Zusammensetzung Tunesiens zu verändern', sagte der Staatschef. Durch eine Welle irregulärer Migranten solle das Land rein afrikanisch werden und seine muslimisch-arabische Identität ausgelöscht werden. Diesem Phänomen müsse ein Ende bereitet werden. Bereits in den Wochen und Monaten zuvor hatten rechtsnationalistische Gruppierungen auf sozialen Netzwerken einen ähnlichen Diskurs propagiert."

Meron Mendel ist ein gern gesehener Gast im Feuilleton der FAZ, zusammen mit seiner Frau Saba-Nur Cheema auch Autor einer Multikulti-Kolumne in dieser Zeitung. Heute wollen die Feuilletonchefs Jürgen Kaube und Sandra Kegel von ihm Auskunft, wie sich die Deutschen angesichts der neuen, teils rechtsextremen Regierung Israels gegenüber dem Land verhalten sollen. Dabei stellen sie die seltsame Frage: "Es stellte auch niemand das Existenzrecht Amerikas in Frage, weil es einen Präsidenten Trump gab? Bei Israel ist man geneigt zu sagen, die Anerkennung halten wir aufrecht angesichts der Holocaust-Erfahrung, oder nicht?" Mednel antwortet darauf: "Wenn Israel keine liberale Demokratie bleibt, bleibt es zwar der einzige sichere Hafen für Juden, aber vor allem auf dem Papier: Es ist für die Bürger dort nicht mehr lebenswert und auch nicht für Juden weltweit. Es geht also ums Ganze, und sollten die Proteste nicht erfolgreich sein, werden die nächsten Wahlen nicht mehr frei sein." Nochmal die Frage von Kaube und Kegel: "Haben Sie eine Idee für uns Deutsche?" Und Mendel: "Ich würde den Begriff der Staatsräson gern durch Freundschaft ersetzen."

In den virtuellen "Bildern und Zeiten" erklärt der israelische Germanist Jakob Hessing außerdem geduldig alle politischen Kräfte, mit denen sich Netanjahu zusammengetan hat, um mit mit seiner "Justizreform" den Schritt zu gehen, "der aus der Demokratie in die Diktatur führt". Netanjahu, erklärt Hessing, ist "nicht religiös und war es nie, er weiß sehr wohl, dass dieser Fundamentalismus dem Land nichts Gutes bringen wird. Und mehr als das - er weiß, dass Israel auch von den Ultraorthodoxen keinen Nutzen zu erwarten hat. Ihre Söhne schicken sie nicht zum Militär und ihre Frauen nicht zur Arbeit… Netanjahus Politik hat weder ein ideologisches noch ein pragmatisches Ziel, das sich über die Jahrzehnte hinweg erkennen ließe. Es ging ihm immer nur darum, an der Macht zu sein, und das ist ihm gelungen."

In der SZ fordert der Völkerrechtler Yuval Shany die europäischen Demokratien auf, darauf zu bestehen, "dass die bestehenden freundschaftlichen, solidarischen Beziehungen auf dem gemeinsamen Bekenntnis zu demokratischen Prinzipien aufbauen".
Archiv: Politik

Gesellschaft

Der Sozialwissenschaftler David Begrich betreibt im Gespräch mit Doreen Reinhard von Zeit online eine Art Archäologie des in den Neuen Ländern populären "Pazifismus", der mit Putin-Liebe und rechtspopulistischen Tendenzen kein Problem hat und etwa von dem populären Influencer Uwe Steimle verfochten wird: "Frieden war das zentrale Schlüsselwort der DDR-Propaganda. Aber diese Friedensideologie ging einher mit einer massiven gesellschaftlichen Militarisierung. Das begegnete einem im DDR-Alltag überall. Schüler ab der neunten Klasse mussten Wehrausbildungen durchlaufen. Es war sehr erwünscht, sich als Jugendlicher für drei Jahre in der Armee zu verpflichten, sonst wäre es schwierig geworden, Zugänge zum Abitur zu bekommen. Eine übergroße Mehrheit hat sich dem angepasst, aus welchen Gründen auch immer."
Archiv: Gesellschaft

Kulturpolitik

Der scheidende Berliner Kultursenator und Linken-Politiker Klaus Lederer ist in den Feuilletons sehr beliebt. Angesichts des maroden Personals in der SPD wird man ihn noch vermissen, schreibt Peter Richter in der SZ. Über den eigentlich als Nachfolger gehandelten CDU-Politiker Joe Chialo weiß Richter nicht viel zu sagen.
Archiv: Kulturpolitik
Stichwörter: Chialo, Joe

Geschichte

Der Tod eines Tyrannen kann ein ganzes Land erlösen und mehr als ein Land. Peter Sturm erinnert in der FAZ an die Umstände von Stalins Tod vor genau siebzig Jahren. Stalin, so zeigte sich da, lebte in eisiger Isolation. Nach einem Saufgelage hatte er einen Schlaganfall. Als er sich am nächsten Morgen nicht blicken ließ, traute sich niemand nachzusehen. "Auch die nach Stalin angeblich mächtigsten Männer der Sowjetunion wagten es über Stunden nicht, sich vom Wohlergehen des Führers zu überzeugen. Als sie schließlich die Privaträume doch betraten und Ärzte hinzuzogen, lebte Stalin zwar noch, sein Zustand war aber so, dass ihm nicht mehr geholfen werden konnte."
Archiv: Geschichte
Stichwörter: Stalin, Josef, Schlaganfall

Medien

tazler erinnern an ihren Meinungsredakteur Daniel Haufler, der im Alter von nur 61 Jahren gestorben ist."'No jokes with names' ermahnte mich Daniel eines Nachmittags in den nuller Jahren, als ich einen Kommentar über Dieter Hundt geschrieben hatte, damals Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände", erzählt Barbara Dribbusch. "'Hundt oder Katze?', hatte ich getitelt und kam mir irre witzig vor mit der Überschrift über meinen Meinungsbeitrag zu einem Konflikt zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften. Doch Daniel sicherte das Niveau."
Archiv: Medien

Ideen

Ohne eine Revolution, eine massive Umverteilung von Reich zu Arm und strikte Kontrolle wird es nicht abgehen, wenn wir die apokalyptischen Tendenzen des "Anthropozäns" stoppen wollen, meint Wolfgang Sachs, Forschungsleiter am Wuppertal Institut, in der taz. "Suffizienz" soll die Parole sein. "Pflanzliche Ernährung ist auch ein Ausdruck der Suffizienz, nicht aus Angst vor einer Ressourcenkrise, sondern aus Verbundenheit mit anderen Lebewesen. Darüber hinaus hat Suffizienz eine kosmopolitische Dimension. Da die expansive Moderne strichweise den ganzen Erdball umfasst, ist die Suche nach einen frugalen Wohlstand allseits auf der Tagesordnung. In der Debatte um das Anthropozän verschwindet die 'Klassenfrage' hinter dem Begriff der Menschheit, obwohl inzwischen klar ist, wer derzeit die Hauptverursacher des Anthropozäns sind: die zehn Prozent der Hochverdiener in der Welt, die fast die Hälfte der CO2-Emissionen auf der Erde ausstoßen."

Noch eine Idee: Man könnte die Erbschaftssteuer erhöhen und eine Vermögenssteuer einführen und daraus ein "Grunderbe" schaffen. Vertreten wird sie von Volkswirt Stefan Bach vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) im Gespräch mit Antje Lang-Lendorff. Dass sich die Idee bisher nicht durchsetztm liegt an einer paradoxen politischen Resonanz, erklärt er: Sie passe "ganz gut zum progressiven Neoliberalismus, der in den Eliten verbreitet ist und der die Chancengleichheit in der Wettbewerbsgesellschaft verbessern will. Konservative und traditionelle Wirtschaftsliberale sind aber skeptisch, wenn an den bestehenden Eigentumsordnungen und Privilegien gerüttelt wird. Sie befürchten auch negative wirtschaftliche Folgen der Steuererhöhungen. Traditionelle Linke wiederum wollen zwar die Steuern für Reiche erhöhen, aber mit dem Geld die Leute lieber direkt ertüchtigen und staatliche Leistungen ausbauen. Daher sitzt man mit dem Grunderbe zwischen allen Stühlen."
Archiv: Ideen