9punkt - Die Debattenrundschau

Steiniger Weg zur Hochsprache

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.03.2023. Die "Letzte Generation" hat das Grundrechtedenkmal beschmiert, um ein "größeres Unheil" anzuprangern, schreibt Wolfgang Ullrich im Tagesspiegel. Die FAZ sieht die Aktion kritisch. Die taz bringt ein Dossier zum "Antifeminismus". Das Editorial macht klar: Was uns nicht passt, ist rechts. Im gleichen Dossier kritisiert allerdings auch Gilda Sahebi die Toleranz westlicher Linker gegenüber religiöser Unterdrückung, sofern sie andere Kulturen betrifft.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.03.2023 finden Sie hier

Ideen

In der FAZ ist Josef Schuster skeptisch, was eine Neuformulierung von Artikel 3 des Grundgesetzes angeht, die auf den Begriff "Rasse" verzichten will. Er erkennt die gute Absicht, ist sich aber nicht sicher, ob das reicht: "Dass es keine menschlichen Rassen gibt, ist heute gesellschaftlicher Konsens. Die deutsche Geschichte lehrt uns aber, dass es nicht immer so gewesen ist. Und gegen genau diese NS-Ideologie schafft der Artikel 3 des Grundgesetzes ein Bollwerk."

Die taz beglückt uns heute mit 12 Seiten "antiantifeminismus" in lila. Das Weltbild ist in den meisten Artikeln jedoch eher schwarz-weiß: Hier der linke Feminismus, dort Rechte, "Antidemokrat*innen und religiöse Fundamentalist*innen" und alle anderen. Sandra Ho macht das klar, wenn sie den Begriff Antifeminismus definiert, der weiter gefasst sei als der gute alte Sexismus: "Hinter antifeministischen Angriffen stecken fast immer organisierte Akteur*innen, die eine politische und ideologisch motivierte Botschaft senden", erklärt sie. "So können verschiedenste Akteur*innen unterschiedlicher Ideologien einen gemeinsamen Nenner in ihren antifeministischen Einstellungen finden. Wissenschaftler*innen, die auf längst widerlegten Biologismen beharren, teilen mit rechten Politiker*innen cis-heteronormative Geschlechtervorstellungen, die Geschlechterrealitäten außerhalb gewisser traditioneller Normen diskriminieren." Und schwupps hat man Feministinnen, deren Meinung einem nicht passt, in einer Ecke mit Rechten und religiösen Fundamentalisten.

Mit dem Argument, man müsse die "Kultur" anderer Länder respektieren, drücken sich westliche Linke gern davor, die Proteste gegen das Kopftuch in Afghanistan oder im Iran zu unterstützen, kritisiert Gilda Sahebi, aus deren Buch "Unser Schwert ist Liebe" die taz einen Ausschnitt vorabdruckt: "Ausgerechnet diejenigen, die vorgeben, antikolonialistisch und antiimperialistisch zu denken, verfallen in eine in der Konsequenz rassistische Argumentation. Denn wenn die Befreiung vom Kopftuch eine 'westliche' Idee ist, sind auch die Selbstbestimmung der Frau und die Gleichberechtigung der Geschlechter 'westliche' Werte. Kulturrelativismus bedeutet eben auch einen Relativismus der Werte. Bestimmte Werte gibt es in dieser Logik nur im Westen, Frauen im sogenannten Nahen Osten haben damit nicht dasselbe Bedürfnis nach Freiheit wie Frauen im Westen." Diesen Vorwurf bestätigt indirekt auch die Theologin Gunda Werner, wenn sie in der taz den christlichen Kirchen vorwirft, ihr konservativer Antifeminismus sei Grundlage ihrer Gender-Kritik, von anderen Religionen aber schweigt.

Der Autor Fikri Anıl Altıntaş beklagt in der taz, "toxische Männlichkeit" werde in Deutschland immer nur migrantischen Männern zugesprochen. Aber das Männlichkeitsproblem lasse sich nur in einem größeren Kontext lösten: "Wir stehen vor einem Problem und müssen uns als Gesellschaft verändern. Das heißt aber auch zu realisieren, dass mit Rassismus noch nie feministische Utopien gelungen sind. Alle Männer, und besonders 'migrantische', müssen verstehen, dass intersektionaler Feminismus auch für sie ein Ausweg sein kann. Weniger Druck verspüren, ständig hart sein zu müssen, weniger gewalttätig zu sein, mehr Zärtlichkeit in sich und mit anderen finden. Gleichzeitig gehört der Kampf gegen Rassismus eben auch dazu und auch, Teil feministischer Kämpfe zu werden."

Außerdem im taz-Dossier: Im Interview mit der taz spricht die Historikerin Ute Planert über Antifeminismus im Kaiserreich und Parallelen zur Gegenwart.

In Afrika werden Homosexuelle noch immer fast durch die Bank weg kriminalisiert, berichtet Claudia Bröll in der FAZ anlässlich eines Urteils in Kenia, das Abhilfe schaffen wollte und dafür massiv kritisiert wird. "Homosexualität gilt nicht nur im Osten Afrikas als Verbrechen. Von den 69 Ländern, die gleichgeschlechtliche Beziehungen unter Strafe stellen, befinden sich nach Angaben der Organisation 'Human Rights Watch' 33 in Afrika. Nur in einem afrikanischen Staat, in Südafrika, sind gleichgeschlechtliche Ehen erlaubt. ... Zur Rechtfertigung verweisen Befürworter regelmäßig auf die Bibel, den Koran und den angeblichen Schutz traditioneller Werte. Auch das Argument, Homosexualität sei 'unafrikanisch' und ein 'westliches' Phänomen ist immer wieder zu hören. Es trifft vor allem in den Bevölkerungen auf positive Resonanz, die sich von westlichen Regierungen weiterhin bevormundet fühlen."
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Europa

Die in Russland geborene Schriftstellerin Irina Rastorgujewa hat für die NZZ einen Monat lang die wahnsinnigsten Meldungen aus russischen Medien zusammengefasst. Unter anderem erfahren wir von in Cherson gestohlenen und an Russinnen verschenkte Pelzmäntel, von gestiegenem Wodkakonsum, einem Höchststand an Scheidungen in Russland und von brutalen Repressionen: "In der Region Tula malte eine Schülerin im Unterricht ein Antikriegsbild - Frauen und Kinder unter der ukrainischen und der russischen Flagge. Von der russischen Seite fliegen Raketen auf die auf der ukrainischen Seite befindlichen Menschen zu. Überschrift: 'Kein Krieg - Ruhm der Ukraine'. Die Lehrerin erstattete Anzeige. Polizei und Jugendschutz eilten zur Schule, das Mädchen wurde abgeführt und die Wohnung seines alleinerziehenden Vaters Alexei durchsucht. Auch er wurde wegen 'kriegsfeindlicher Äußerungen in den sozialen Netzwerken' strafrechtlich verfolgt. Während des Verhörs beim FSB wurde er mit dem Kopf gegen die Wand und auf den Boden geschlagen. Sollte der Fall vor Gericht landen, drohen dem Vater bis zu drei Jahre Gefängnis, die Tochter könnte in ein Waisenhaus gesteckt werden."
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Politik

In ihrem morgen erscheinenden Buch "Unser Schwert ist Liebe" listet die deutsch-iranische Journalistin und Ärztin Gilda Sahebi 489 Opfer auf, die während des Kampfs der Frauen im Iran starben. Im Interview mit Cornelia Geissler (Berliner Zeitung) fordert sie die Bundesregierung, aber auch die EU auf, mehr für die Menschenrechte im Iran zu tun: "Iran ist neben Nordkorea das meist sanktionierte Land der Welt. Wenn man sich die Sanktionen anschaut, dann treffen die vor allem die Bevölkerung, die bereits unter dem Regime leidet. Man sollte jedoch überlegen, wie man den Menschen helfen kann, indem man zum Beispiel Geld spendet, etwa für Streikkassen. Das ist nicht möglich, weil der Iran vom Swift-Abkommen ausgeschlossen ist. Die Sanktionen sind zu wenig gezielt. Die Liste, auf der Einzelpersonen und Organisationen stehen, wird alle paar Wochen um zwei Dutzend Leute erweitert, aber das bringt wenig. Das Regime ist eine Unterdrückungsmaschinerie, die besteht aus Tausenden von Menschen."
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Stichwörter: Iran, Sahebi, Gilda, Nordkorea

Geschichte

"280 Millionen Menschen weltweit haben in irgendeiner Form Deutsch gelernt oder sprechen es", in Frankreich wählen aber nur noch 15 Prozent Deutsch als Schulfach, schreibt der Sprachwissenschaftler Roland Kaehlbrandt, der in der SZ fordert, mehr für die deutsche Sprache zu werben und deshalb ihre Vorzüge preist: "Die deutsche Sprache wurde errungen, über Jahrhunderte, gegen Widerstände der Fürstenhöfe und auch gegen Teile der Wissenschaften und des Klerus. Oft war der Wunsch nach Exklusivität das Motiv, aus dem heraus die Elite-Sprachen Französisch und Latein der Volkssprache vorgezogen wurden. Diejenigen hingegen, die daran arbeiteten, das Deutsche als voll ausgebildete Sprache zu kodifizieren und durchzusetzen, hatten aufklärerische Absichten: Alle Bürger sollten die Sprache verstehen. Es war ein langer und steiniger Weg zur Hochsprache, immer wieder behindert durch Geringschätzung. Das Deutsche ist - anders als so manch andere Sprache - von unten, aus dem Volk heraus als Landessprache geformt und durchgesetzt worden."
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Gesellschaft

Überraschende Fürsprache bekommen die Aktionen der "Letzten Generation" von dem Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich im Tagesspiegel, der es für völlig "absurd" hält, den Aktivisten zu unterstellen, sie hätten etwas gegen Kunst oder gegen das Grundgesetz. "Wann gab es das schon mal, dass etwas beschmutzt wurde, nicht um es zu desavouieren, sondern um damit stellvertretend-symbolisch vor einem viel größeren Unheil zu warnen? Das, was man bewahren will, kontaminiert man mit dem Ziel, Verlustängste zu erzeugen, um auf diese Weise Kräfte zu mobilisieren, mit denen sich den Bedrohungen etwas entgegensetzen lässt. Die Aktionen der Letzten Generation entspringen somit einem im wörtlichen Sinne konservativen Geist. Sie sind das Gegenteil einer revolutionären Bilderstürmerei."

Anders als Ullrich sieht das der Rechtsphilosoph Uwe Volkmann, der den Klimaaktivisten in der FAZ nicht nur "schwer erträgliche Selbstgerechtigkeit" sondern auch unmoralisches Verhalten vorwirft, etwa mit Blick auf die "politische Gleichheit, auf deren wechselseitiger Anerkennung gerade die Demokratie überhaupt erst basiert. Gleichheit in diesem Sinne bedeutet, dass wir allen das gleiche Vermögen, politische Fragen zu beurteilen, zuerkennen, das wir uns selbst zuschreiben. Wer sich über die für alle geltenden Regeln hinwegsetzt, weil er sich dazu berufen sieht, setzt sich damit auch über das demokratische Gleichheitsversprechen hinweg: Man erhebt sich über die anderen und maßt sich ihnen gegenüber eine privilegierte Entscheidungsbefugnis in diesen Fragen an. Das wird man auch dann als ein Problem ansehen können, wenn man für die eigene Entscheidung tiefethische Motive, von der Verteidigung der Humanität bis hin zur Rettung der ganzen Welt, anführen kann."

Zum 175. Jahrestag der 1848er-Revolution ist von den Kulturprojekten Berlin unter anderem auch eine Barrikade an einem der Originalschauplätze, der Kreuzung Friedrichstraße/Jägerstraße geplant. Genial, meint Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung, denn: "ganz nebenbei zeigen die politischen Schwergewichte den vergleichsweise subtil vorgehenden Mitgliedern der Letzten Generation und ihren über alle verbalen Stränge schlagenden Widersachern, wo der Hammer hängt. Eure Sitz- und Sekundenkleberblockaden sind Kindergarten angesichts der revolutionären Wucht, mit der vor 175 Jahren gekämpft wurde. Ihr macht Glasscheiben vor Kunstwerken oder die Gesetzestafeln am Kanzleramt schmutzig, wo die, auf deren Barrikaden wir unsere Gesellschaftsordnung gebaut haben, alles in Scherben gelegt haben. Die anheizende Lektion dieses Reenactments lautet also: Weiter voran, und traut euch mal was, ihr Westentaschenrevolutionäre und Wochenenddemokraten! Aber auch: Habt euch nicht so, wenn ihr mal ein bisschen belästigt werdet, ihr Neobiedermeierluschen!"

Auf 54Books kritisiert Simon Sahner indes eine Radikalisierung der medialen und politischen Kritik an den Klimaaktivisten: "Mit Terrorist*innen wird nicht verhandelt und mit Extremist*innen auch nicht. Wenn man also Menschen mit diskutierbaren Forderungen zu Terrorgruppen und extremistischen Organisationen erklärt, schließt man sie damit aus dem offiziellen Diskurs aus und muss sich zumindest auf einer Sachebene auch nicht mehr mit ihnen auseinandersetzen."
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Medien

Der Stern darf bei Gruner + Jahr bleiben, aber die verkaufte Auflage sank in den letzten Jahren von 650.000 auf 325.000, das kostenpflichtige Digitalabo soll laut IVW bei 34.000 liegen, weiß Lisa Priller-Gebhardt in der SZ. Nun will Bertelsmann 30 Millionen Euro für Redaktion und Technik ausgeben und vierzig neue Stellen schaffen - als Ziel sind 100.000 neue Stern-Plus-Abonnenten in den nächsten zwei Jahren geplant: "Zu der neuen Strategie gehört wohl auch, die Trennung der Redaktionen von Stern.de und des gedruckten Heftes aufzuheben. Aus Hamburg ist zu hören, dass alle Inhalte künftig von einer großen Redaktion erstellt werden, in der nur noch Menschen mit Digitalkompetenz arbeiten sollen. Diese Fusion ist in den meisten anderen Medienhäusern vor Jahren vollzogen worden. Beim Springer-Verlag in Berlin gerade recht radikal, wo innerhalb von drei Jahren 100 Millionen Euro bei Welt und Bild eingespart werden sollen. Weil Papier, Distribution und Druckereien teuer sind, will man dort in absehbarer Zukunft die Papierausgaben einstellen und ausschließlich online publizieren."
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