9punkt - Die Debattenrundschau

Death Valleys für Frauenrechte

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.03.2023. Am Weltfrauentag wird über Feminismus gestritten: Sollte er universal sein oder intersektional, ist er eine Frage der Haltung oder des biologischen Geschlechts? In der NZZ begrüßt die italienische Schriftstellerin Lidia Ravera die Wucht, mit der sich Giorgia Meloni und Elly Schlein, designierte Vorsitzenden der Partito Democratico, Zutritt zum "Männerklub der Politik" verschafft haben. In der Welt fordert der Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann gleiche Diskursmacht für Ossis wie Wessis.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.03.2023 finden Sie hier

Ideen

Im Leitartikel der FR schreibt Sereina Donatsch ein Plädoyer für intersektionalen Feminismus. Von einem universalen Feminismus will die deutsche Autorin - anders als ihre iranische Kollegin Gilda Sahebi gestern in der taz (unser Resümee) - nichts wissen: "Diskriminierungserfahrungen haben oft unterschiedliche Ursprünge, überschneiden und verflechten sich: Während schwarze Männer von Rassismus betroffen sind und weiße Frauen von Sexismus, sind schwarze Frauen beiden Unterdrückungsformen ausgesetzt. Ein Mensch kann aus vielen verschiedenen Gründen diskriminiert werden. Die 'intersektionale Brille' bringt diese Komplexität zum Vorschein. Im Gegensatz zu einem weißen, bürgerlichen und elitären Feminismus will ein intersektionaler, inklusiver Feminismus alle Menschen erreichen, mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen. (…) Diese Lebenserfahrungen werden aber durch Feministinnen, die an einer universellen Vorstellung festhalten, unsichtbar gemacht. Weiße Akademikerinnen halten Vorträge über Emanzipation und bestimmen die Debatten. Ihre Ziele sind dementsprechend auch stärker vertreten."

"Feminismus des Jahres 2023 ist viel mehr eine Frage der Haltung als des biologischen Geschlechts. Solidarität muss deshalb denen gelten, die sie brauchen und nicht denen, die sie missbrauchen", kommentiert Kia Vahland in der SZ: "Radikale Politikerinnen wie Marine Le Pen, Alice Weidel oder Sahra Wagenknecht profitieren vom Feminismus; politisch aber untergraben sie ihn. Und, leider: Jeder ukrainische Soldat, der eine Straße befreit, tut mehr für die Sache der Frauen als in diesen Wochen Alice Schwarzer. Die Publizistin setzt ihre lange erworbene Autorität momentan dafür ein, voreilig auf einen Despoten zuzugehen, der seinen Angriffskrieg mit einer Vergewaltigungsmetapher einleitete und seine Soldaten diese nun wahr machen lässt."

Politikerinnen sind wie Politiker, es gibt solche und solche, erkennt Eva Ladipo in der FAZ. Der grundlegende Unterschied ist, dass Frauen im Amt viel stärker bedroht werden und größerer Hetze ausgesetzt sind, schreibt sich mit Blick auf Jacinda Ardern, Nicola Sturgeon, Angela Merkel, Sanna Marin, Renate Künast oder Alexandria Ocasio-Cortez: Es ist also "ihre Außenwirkung, die Reaktion des Publikums, die Frauen nach wie vor benachteiligt. Aus irgendeinem Grund reagiert die Öffentlichkeit heftiger, wütender und gewalttätiger auf Frauen an der Macht als auf Männer. Und damit ist nicht nur das männliche Publikum gemeint, wie der Twitter-Angriff auf die amerikanische Vizepräsidenten Kamala Harris zeigt. Es war eine berühmte Journalistin, die sie öffentlich bezichtigte, sich 'nach oben geschlafen' zu haben. Die gute Nachricht ist, dass Frauen trotzdem weitermachen. Sie haben offensichtlich gelernt einzustecken und sind härter im Nehmen, als selbst Vorreiterinnen ihnen zugestehen."

Helena Schäfer stellt in der FAZ die Frauenrechtlerinnen Katharina Oguntoye und Chandra Talpade Mohanty vor, die schon in den achtziger Jahren versucht haben klarzumachen, "dass 'das andere Geschlecht' nicht nur die weiße, heterosexuelle Bürgerstochter ist" und sich erst von der jetzigen jungen Generation der Feministinnen verstanden fühlt, die "im Angesicht der Klimakrise und globaler Ausbeutung den Kapitalismus infrage stellt. Für Mohanty ist er mit einer feministischen Vision unvereinbar, weil diese das Gegenteil anstrebe: 'Wir suchen etwas, das sich gegen Gier und Individualismus wendet.' Der Feminismus dagegen setze sich für Gemeinschaft ein."

"Weltweit gesehen ist die Wahrscheinlichkeit, dass Männer Zugang zum Internet haben, 21 Prozent höher als bei Frauen - in Ländern mit niedrigem Einkommen sogar über 50 Prozent höher", schreibt UN-Generalsekretär António Guterres, der in der FR über eine Frauenquote in Wissenschaft und Technologie nachdenkt. "Big Data ist das neue Gold und Grundlage für Entscheidungen in Politik und Wirtschaft. Doch werden dabei geschlechtsspezifische Unterschiede oft ignoriert - oder Frauen absichtlich ganz ausgeblendet. Wir alle sollten alarmiert sein, wenn Produkte und Dienstleistungen durch ihre Gestaltung die Ungleichheit der Geschlechter zementieren und Patriarchat und Frauenfeindlichkeit in der digitalen Welt fortführen. Die Silicon Valleys dieser Erde dürfen nicht zu Death Valleys für Frauenrechte werden. Medizinische Entscheidungen, die auf Daten zum männlichen Körper fußen, können für Frauen nicht nur schädlich, sondern tödlich sein."
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Politik

Im November letzten Jahres wurde die Synagoge von Essen beschossen, ein antisemitischer Terrorakt, der die daueraufgeregte deutsche Öffentlichkeit nicht allzu lange in Atem hielt. Loveday Morris und Souad Mekhennet bringen nun in der Washington Post eine Recherche, nach der der "Hell's Angel" Ramin Yektaparast, ein Deutsch-Iraner, sehr konkret der Tat verdächtigt wird. Die Reporter beziehen sich auf deutsche Sicherheitskräfte, die anonym bleiben wollen. Der einschlägig bekannte Rocker soll auch bereits für die Rockerbande gemordet und Leichen zerstückelt haben. Yektaparast soll in diesem Fall direkt auf Weisung aus Teheran gehandelt haben. "Diese Anschläge sind Teil dessen, was die deutschen Sicherheitsdienste als einen Anstieg der Aktivitäten des iranischen Regimes betrachten, die auf jüdische Ziele und die iranische Diaspora in Deutschland abzielen. Dies würde sich mit den Berichten über eine Zunahme iranischer Mord- und Entführungsdrohungen in Europa und den Vereinigten Staaten decken. Analysten zufolge geht der Iran angesichts der Proteste im eigenen Land zunehmend gegen das vor, was er als ausländische Bedrohung des Regimes ansieht, und setzt kriminelle Banden ein, um sich einen Deckmantel der Abstreitbarkeit zu verschaffen." Es möge auf den ersten Blick befremden, dass der Iran mit Rockerbanden zusammenarbeitet, so die Autoren weiter, aber der Einsatz krimineller Gruppen diene der "Plausible Deniability".

Europa hat auch nach dem Zweiten Weltkrieg schon nicht mehr die Welt gepägt, schreibt Thomas Schmid in einem von der Welt übernommenen Artikel in der Zeitschrift Internationale Politik. Und friedlich war diese Welt schon gar nicht, betont Schmid mit Blick auf die Kriege des späten 20. Jahrhunderts in Korea, Vietnam, Biafra, Kongo, Algerien, Iran und Afghanistan meint: "Der Glaube war irrig, Demokratie, Marktwirtschaft und Freihandel würden ein derart attraktives Ensemble bilden, dass dessen Ausbreitung unaufhaltsam sei. Wir leben nicht in einer anderen, sondern in einer bekannten Welt." Nun seien eben "neue Bündnisse, neue Allianzen nötig. Um nur einige zu nennen: Staaten wie Kanada, Australien, Taiwan, Südkorea, Japan, Indonesien, Namibia, Ghana, Chile verdienen eine entschieden größere politische und diplomatische Aufmerksamkeit als bisher. Freilich nicht in dem Sinne, dass sie an die Kernstaaten der freien Welt einfach nur angedockt würden. Die neue freie Welt, die auf der internationalen Tagesordnung stehen sollte, kann nicht die Verallgemeinerung der alten freien Welt sein. Sie müsste etwas Neues werden. Vielleicht ist es an der Zeit, der durch Russland in Misskredit gebrachten Idee des Multilateralismus eine neue Chance zu geben."
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Europa

Die Wucht, mit der sich Giorgia Meloni Zutritt zum "Männerklub der Politik" verschafft hat, war beeindruckend, auch wenn sie rechts ist, schreibt die linke italienische Schriftstellerin Lidia Ravera in der NZZ. Und was kann besseres passieren, als dass ihr nun mit Elly Schlein, der designierten Vorsitzenden der Partito Democratico, eine Frau gegenüber steht? "'Es ist nicht nur die Geschichte des Partito Democratico, der Linken, die sich hier ändert', sagt die Journalistin und Schriftstellerin Concita De Gregorio. 'Das Szenario ändert sich, die Politik ändert sich, die kartesische Achse der Realität dreht sich. Plötzlich, über Nacht, wird die neue Frau, Giorgia Meloni, wieder zu dem, was sie ist: die letzte Erbin einer Partei des 20. Jahrhunderts, einer alten Geschichte. Meloni wird alt in der Gegenwart einer Frau, die noch in den Dreißigern ist und die nicht aus dem Kommunismus stammt wie Meloni aus dem Faschismus.'"

Auf 17 Minuten Lesezeit schätzt die Welt das Interview, das Michael Pilz mit dem Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann über dessen neues Buch "Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung" geführt hat. Schon im 19. Jahrhundert erscheine der Osten als "Welt der Zurückgebliebenen, der Barbarei", klagt er in dem Gespräch, in dem es im Wesentlichen um die Diskriminierung Ostdeutscher, aber auch um die Frage, ob der Osten nicht auch den Westen zum anderen macht, geht: "Das wird sicher gemacht. Aber im öffentlichen Raum spielt es keine Rolle. Um diesen öffentlichen Raum geht es mir aber beim sogenannten Othering, wenn der Osten bequemerweise immer dann aufgerufen wird, wenn es um Fehlentwicklungen der Gesellschaft geht. Der Osten hat keine gleichwertige Diskursmacht in dieser asymmetrischen Kommunikation. Wenn womöglich am Abendbrottisch vom 'Wessi' geredet wird, entfaltet das keinerlei Macht. Es betrifft bestimmte Formen der Kommunikation und mitunter das Handeln im Kleinen. Ich weiß zum Beispiel, dass es Leute in Markkleeberg bei Leipzig gibt, die Wohnungen, Häuser und Grundstücke nicht an Westler verkaufen, weil in Leipzig schon 90 Prozent des Wohneigentums dem Westen gehören. Aber das ist zu vernachlässigen. Die Medien- und Diskursmacht liegt im Westen. Der Osten kann sagen, was er will. Es ist wie ein vergebliches Rufen im Wald."

Sanktionen schädigen die russische Wirtschaft zwar massiv, aber sie stärken das Regime auch relativ zu seinen internen Gegnern, schreiben die beiden Wirtschaftswissenschaftler Reiner Eichenberger und David Stadelmann in der NZZ. Unter anderem "verkaufen ausländische Firmen, die sich aus Russland zurückziehen, ihre Einrichtungen und Beteiligungen. Über die notwendigen Geldmittel und Bewilligungen zum günstigen Kauf der offerierten Beteiligungen verfügen vor allem regimenahe Kreise." Außerdem "werden der persönliche Austausch mit und die Auswanderungsmöglichkeiten in den Westen eingeschränkt, was die Bürger noch stärker dem Regime ausliefert." Das Putin-Regime müsse daher direkt geschwächt werden, etwa durch Emigrationsförderung oder Kronzeugenregelungen."

Laut einer medienübergreifenden Recherche führen die Spuren des Sprengstoffanschlags auf die Pipelines Nordstream 1 und 2 zu einer Yacht, "die von einer Firma mit Sitz in Polen angemietet worden sei, die offenbar zwei Ukrainern gehört", meldet unter anderem Holger Stark auf ZeitOnline: "Die Geheimoperation auf See soll den Ermittlungen zufolge von einem Team aus sechs Personen durchgeführt worden sein. Es soll sich um fünf Männer und eine Frau gehandelt haben. Demnach bestand die Gruppe aus einem Kapitän, zwei Tauchern, zwei Tauchassistenten und einer Ärztin, die den Sprengstoff zu den Tatorten transportiert und dort platziert haben sollen. Die Nationalität der Täter ist offenbar unklar. (…) Auch wenn Spuren in die Ukraine führen, ist es den Ermittlern bislang nicht gelungen, herauszufinden, wer die mutmaßliche Tätergruppe beauftragt hat. In internationalen Sicherheitskreisen wird nicht ausgeschlossen, dass es sich auch um eine False-flag-Operation handeln könnte."
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Wissenschaft

In der FAZ verteidigt Thomas Thiel einen Artikel des Migrationsforschers Stefan Luft, der, neben anderen Autoren des "Netzwerks Wissenschaftsfreiheit", in dem Band "Wissenschaftsfreiheit" die Einseitigkeit und ideologische Tendenzen der Migrationsforschung beklagt hatte. Dafür war das Netzwerk kürzlich im Tagesspiegel von den Kulturwissenschaftlern Simon Strick und Johanna Schaffer angegriffen worden: Es sei rechts. Zumindest was Luft angeht, findet Thiel diesen Vorwurf abwegig. "Die behauptete Einseitigkeit demonstriert Luft an den Publikationen und Projekten des Deutschen Zentrums für Integration und Migrationsforschung (Dezim), das 2017 gegründet wurde und vom Bundesfamilienministerium gefördert wird. Fast die Hälfte aller Projekte sei dem Jahresbericht 2020 zufolge dem Thema Rassismus gewidmet, kaum oder keine Forschung gebe es zu Islamismus oder der Bedeutung kultureller Prägungen für die Eingliederung. Beinahe alles werde unter die Perspektive eines ubiquitären Rassismus gestellt. So komme man zu der Schlussfolgerung, dass 'Rassismus für eine große Mehrheit der Menschen in Deutschland eine allgegenwärtige Erfahrung' sei. ... Die zitierten Aussagen machen den von Luft geäußerten Vorwurf plausibel, die Wissenschaft produziere hier jene 'Narrative', die von der deutschen Politik parteiübergreifend erwartet würden - und erhalte im Gegenzug reiche Förderung."
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Medien

Die Aufarbeitung des Fox-Skandals um Lügen über das Wahlergebnis in den letzten amerikanischen Präsidentschaftswahlen (unser Resümee) geht weiter. Jeremy W. Peters und Katie Robertson können in der New York Times durch geleakte Textnachrichten nachweisen, dass der berüchtige Anchorman Tucker Carlson, der die Lügen über den Sender intensiv weiterverbreitete, privat sehr genau wusste, dass es sich um Lügen handelte. Die Geschichte gibt auch anderweitig Aufschluss darüber, wie dieses Medium aus dem Murdoch-Imperium funktioniert: "Einige von Carlsons privaten Äußerungen über Trump lassen sich nur schwer mit dem Lob in Einklang bringen, das er dem ehemaligen Präsidenten öffentlich zuteil werden ließ. Manchmal scherzten der Moderator und seine Produzenten über die Frage, wie ein Nachrichtenzyklus ohne Trump aussehen würde. Und sie sagten fröhlich seine schwindende Macht als politische Kraft voraus."
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