9punkt - Die Debattenrundschau

Wenn man die Neuronen im Kopf komplett ersetzt

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.03.2023. Die Nordstream-Saga ist wie eine Netflix-Serie, findet die FR, eine, die von Gier handelt. Die Zeit erzählt, wie eine mecklenburg-vorpommerische Finanzbeamtin einige brenzlige Akten um die "Klimastiftung" in den Kamin ihrer Mutter warf. Und wurde die Pipeline dann auf Geheiß der Ukraine ins Wasser gejagt? Die FAZ lässt den Computer mit dem  australischen Philosophen David Chalmers zu Bewusstsein kommen. Die SZ fragt: Was ist in der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung los? Dieser so vornehmen und stinkreichen Institution mit leichter Schlagseite nach rechts?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.03.2023 finden Sie hier

Europa

Die Medien rätseln über eine medienübergreifende Recherche (unser Resümee), nach der eine der Ukraine nahestehende Gruppe von sechs Personen, die in einer Jacht unterwegs war, die Nordstream-Pipline ins Wasser gejagt hätte. Als deutsches Medium war unter anderem die Zeit an der Recherche beteiligt. Insgesamt soll es es sich um eine Gruppe von sechs Personen gehandelt haben, zwei Taucher sollen Dutzende Kilo Sprengstoff in achtzig Meter Tiefe an die Pipelines angebracht haben. Und das Ganze auf Initiative der Ukraine? In der SZ wägt Christoph Koopmann das Für und Wider ab: "Ob die ukrainische Regierung oder proukrainische Gruppen wirklich noch im Herbst 2022 die Ostseepipelines sprengen wollten, bezweifeln .. einige Beobachter. Auch müsste die Ukraine befürchten, dass Deutschland und andere westliche Partner ihre Unterstützung für den Kampf gegen Russland überdenken, sollte bekannt werden, dass ukrainische Akteure die Pipelines gesprengt haben."

Auch der Skandal um die Korruption deutscher Politik durch Gazprom und Nordstream köchelt auf kleiner Flamme weiter. Cicero berichtete vor einigen Tagen, dass eine Finanzbeamtin Akten zur "Klimastiftung" verbrannt haben soll, mit der Mecklenburg-Vorpommern amerikanische Sanktionen gegen Nordstream umgehen wollte. Die Stiftung war zu hundert Prozent von Gazprom finanziert. 20 Millionen Euro bekam sie von Gazprom geschenkt, für die Finanzbeamten war die Frage zu klären, ob Schenkungssteuer anfiel. Aber die Akten verschwanden! Martin Nejezchleba hat für die Zeit das zuständige Finanzamt von Meck-Pomm besucht, wo man folgende Geschichte erzählt: "Über Umwege seien die gesuchten Dokumente von der Poststelle nicht zum zuständigen Sachbearbeiter gelangt, sondern zu einer jungen Kollegin. Die habe die Papiere dann doch noch gefunden, angeheftet an andere Unterlagen - kurz nachdem sie unterzeichnet hatte, die Steuererklärungen der Stiftung nicht zu besitzen. Nun sei die Beamtin panisch geworden. Habe die Erklärungen kurzerhand mitgenommen. Und in den Kamin ihrer Mutter geworfen."

In der Nordstream-Saga ist dringend weitere Aufklärung nötig, schreibt Andreas Niesmann im Leitartikel der FR. Und er malt sie sich als eine Netflix-Serie mit sämtlichen Zutaten aus: "Man würde mit dem märchenhaften Winterpanorama auf einem Landsitz westlich Moskaus beginnen, wäre Zeuge, wie zwei Staatsmänner nebst Ehefrauen im Pferdeschlitten durch den Schnee stieben, könnte verfolgen, wie deutsche Chemie- und Energiebosse alle Bedenken über Bord werfen, nur um an billiges Gas zu kommen." Und deutsche Politiker, besonders von der SPD, natürlich.

Wenn auch nicht nur von der SPD:

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Stichwörter: Nordstream, Korruption, Netflix

Religion

Ob Papst Franziskus seinen jüngsten Coup überlebt? Die Mieten von Priesterwohnungen sollen künftig nach Marktpreisen berechnet werden, berichtet Andreas Englisch in der Zeit. "Insgesamt besitzt der Vatikan rund um den Petersdom 3.600 Wohnungen, davon werden nur 14 Prozent auf dem freien Markt vermietet, die restlichen 86 Prozent stehen Klerikern zur Verfügung. Bisher zahlten Kardinäle bis an ihr Lebensende außer Strom, Gas und Wasser gar nichts. Das galt auch für Bischöfe, allerdings nur solange sie ein Amt bekleideten. Untere Ränge, etwa Priester, die beim Heiligen Stuhl oder beim Vatikanstaat arbeiteten, konnten sich darauf verlassen, stark verminderte Mietpreise zu zahlen."
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Stichwörter: Vatikan, Papst Franziskus

Politik

Als eine Art Shakespeare-Drama schildert die israelische Autorin Zeruya Shalev in der Zeit, was sich gerade in Israel abspielt. Netanjahu sei eigentlich ein Gebildeter, ja Liberaler, der sich mit den extremsten Kräften Israels zusammengeschlossen habe. Um selbst der juristischen Verfolgung wegen Korruption zu entgehen, richte er das Rechtssystem des Landes für seine Belange zugrunde und gebe den Extremen alle Lizenzen. Seitdem, so Shalev, herrscht das absolute Chaos: "grausame Anschläge von Palästinensern, eine Racheaktion von rund 400 Siedlern in dem arabischen Dorf Hawara, ungebremste verbale Gewalt, Entlassungen von Fachleuten, die Ernennung von Regierungstreuen in leitende Positionen, Versuche, sich kultureller Einrichtungen zu bemächtigen, die massive Abwertung des Schekels - und es sieht nicht so aus, als könne Netanjahu, der an der Spitze dieser Regierung steht, dieses verheerende Feuer noch stoppen. Er ist Geisel seiner Koalitionspartner, seiner Frau und seines Sohns, die von Hass und Rache getrieben sind. Ein Familienroman, wir sagten es schon."

Im Zeit-Dossier schildert Moritz Aisslinger die niederschmetternd trostlose Lage von einer Million Rohingya, die nach der Flucht vor den Massakern in Birma vor gut fünf Jahren im größten Flüchtlingslager der Welt in Bangladesch leben, wo sie ebenso unterwünscht sind, wie überall sonst auf der Welt. Seit der Ermordung ihres Anführers Mohib Ullah, "steigen immer mehr Rohingya aus Kutupalong auf klapprige Holzboote, um dem verzweifelten Leben im Lager zu entkommen. Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen meldete für vergangenes Jahr im Vergleich zum Vorjahr einen Anstieg der Rohingya-Bootsflüchtlinge um 360 Prozent. Sie wollen nach Malaysia, Vietnam oder Indien. Diese Staaten aber wollen sie nicht. Und so treiben die Menschen teils wochenlang auf hoher See, richtungslos und ohne Aussicht. Manchmal verdursten sie auf den Booten. Manchmal kentern sie. Dann spült sie das Meer zurück, tot oder lebendig, an den Ort, an dem sie nie sein wollten."

Flüchten wollen auch viele Kubaner aus ihrem Land, berichtet Shoko Bethke in der taz. 21.821 Menschen waren es 2021 laut Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen. Die Gründe: keine Demokratie, keine Meinungsfreiheit, kein Geld, keine Waren. "Viele junge Kubaner:innen entscheiden sich gegen Che und für den Strand: Sie setzen sich in Schlauchboote, um damit das Meer in Richtung USA zu überqueren, rund 180 Kilometer sind es bis zur Küste Floridas. Es ist die Hoffnung, aus dem vermeintlichen Paradies irgendwie wegzukommen."

Außerdem in der Zeit: Xifan Yang unterhält sich mit der politischen Ökonomin Yuen Yuen Ang, die über Chinas wirtschaftlichen Aufstieg forscht.
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Geschichte

Die Historikerin Alexandra Bleyer und der Literaturwissenschaftler Jörg Bong haben Bücher zur 48er-Revolution vorgelegt, die vor 175 Jahren niedergeschlagen wurde (hier und hier). In der Zeit legen sie ihre Positionen zu diesem Ereignis dar, das im deutschen Bewusstsein eine so geringe Rolle spielt. Aber selbst wenn der erste Anlauf scheiterte, die Ideen waren in der Welt, sagt Bleyer in dem von Christian Staas moderierten Gespräch. Bongs Resümee klingt bitterer: "So wahr es ist, dass die Ideen von 1848 nicht erschossen werden konnten, war die blutige Niederschlagung dieses demokratischen Frühlings nicht nur ein Scheitern, sondern eine Katastrophe, eine katastrophal verpasste Gelegenheit. Der Dichter und Revolutionär Georg Herwegh sprach von 'verpfuschter' Geschichte. Womöglich wäre die deutsche Geschichte tatsächlich anders, weniger fürchterlich verlaufen, wenn der Aufbruch gelungen wäre."

Auch Arno Widmann erinnert in der FR an den Anlass: "Am 9. März des Jahres 1848 beschließt der Bundestag des Deutschen Bundes in Frankfurt am Main: Die Farben Schwarz-Rot-Gold sind die Bundesfarben. Das ist der Sieg der Revolution."
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Gesellschaft

Am Montag hatte die grüne EU-Parlamentarierin Hannah Neumann in der Welt davor gewarnt, dass der Freiheitskampf der Iranerinnen im Westen teils missbraucht werde, "um überholte anti-muslimische und anti-feministische Ressentiments zu schüren", so Neumann, die kein Problem hat, die Protestierenden im Iran mit den Kopftuchbefürworterinnen im Westen gleichzusetzen. "Wer seine Leidenschaft für Frauenrechte und Gleichberechtigung nur beim Thema Kopftuch entdeckt oder wenn es (scheinbar) gegen den Islam geht, der lebt aber einfach nur seine Islamophobie - und, ja, auch seine patriarchalen Fantasien - aus: Es wird sich ein Weltbild zurechtgeruckelt, in dem böse muslimische Männer ohnmächtige Frauen unterdrücken, die der weiße Mann dann befreien muss. Doch das verkennt völlig die Lage. Denn es sind die Frauen im Iran und aus der Diaspora, die die Proteste anführen. Und sie kämpfen dafür, dass keine Religion und kein Mann ihnen mehr sagt, wie sie sich zu kleiden haben. Sie wollen selbst entscheiden, ob sie ein Kopftuch tragen - oder eben nicht. Und genau das wollen Frauen hierzulande auch."

Darauf antwortet heute Frederik Schindler, ebenfalls in der Welt: Neumann blende aus, "dass auch das gegensätzliche Phänomen stark verbreitet ist. Kritikwürdig sind nämlich auch diejenigen, die ihre Leidenschaft für Gleichberechtigung plötzlich ausblenden, wenn es um Islam und Islamismus geht. Die zwar - zu Recht - weiterhin vorhandenen Sexismus, Frauenhass und häusliche Gewalt im Westen skandalisieren, aber zum Kopftuchzwang und der Geschlechtertrennung im Iran, zum Schulverbot für Mädchen in Afghanistan, dem Jungfrauenwahn in vielen konservativ-muslimischen Familien oder Zwangsverheiratungen, Morden im Namen der 'Ehre' und Genitalverstümmelungen in Deutschland plötzlich nichts mehr zu sagen haben. Genau das ist antimuslimisch und antifeministisch, weil Mädchen und Frauen, die von solcher häufig islamisch begründeten Gewalt betroffen sind, durch dieses Schweigen im Stich gelassen werden."

Im taz-Interview mit der Sozialwissenschaftlerin Jennifer Eckhardt erfährt man, dass eine erstaunlich große Anzahl von Menschen in Deutschland keine staatliche Hilfe beantragen, obwohl sie einen Anspruch darauf hätten. Eckhardt macht dafür hauptsächlich die "Zumutungen" der Ämter verantwortlich: "Eine Person hat mir erzählt, dass sie im Jobcenter als Missgeburt bezeichnet worden sei, als zu alt, als zu kaputt für den Arbeitsmarkt. Einer anderen Person, einem gelernten Feinmechaniker, sei gesagt worden, er habe nichts gelernt, er sei zu alt. Er hat eine schwere Depression und das auf seinen Kontakt mit dem Jobcenter zurückgeführt. Diese Menschen haben durch den Verzicht der Zumutung ein Ende gesetzt und sich ihrer eigenen Menschenwürde wieder versichert." Solche Einzelfälle erklären aber wohl kaum, dass rund 40 Prozent der Anspruchsberechtigten allein auf das ihnen zustehende Arbeitslosengeld II verzichten.
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Ideen

Im Interview mit der FAZ ist sich der australische Philosoph David Chalmers sicher, dass KI mal ein Bewusstsein entwickeln wird: "Searle kommt zu dem Schluss, dass die menschliche Biologie etwas ganz Besonderes ist. Ich kann nichts in der menschlichen Biologie erkennen, das wir nicht in relevanter Weise in Silizium nachbilden könnten. Stellen Sie sich vor, man würde einige Neuronen des Gehirns durch Silizium-Chips ersetzen. Wird das Bewusstsein allmählich verschwinden, wenn man die Neuronen im Kopf komplett ersetzt? Ich denke, das Ausschlaggebende ist nicht die menschliche Biologie. Es ist die Art und Weise, wie Informationen verarbeitet werden. Wenn das auf relevante Weise in einem Computer geschieht, entsteht auch da Bewusstsein."

In der NZZ porträtiert Thomas Ribi Jürgen Habermas als "public intellectual", dessen Prämissen im Ukrainekrieg nicht so recht weiterführen: "Aus den Windungen, in denen sich Habermas' Appell zu Verhandlungen verliert, ist das Unbehagen des Professors zu spüren, der weiß, dass der 'herrschaftsfreie Diskurs', den er in seinen theoretischen Arbeiten als Grundlage für Entscheidungsverfahren postuliert hat, unter den zurzeit gegebenen Umständen eine Illusion ist. Und dass die Regeln der Vernunft nichts mehr gelten, wenn der Gegner in Divisionen denkt."
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Kulturpolitik

Wer einen Vortrag in der stinkreichen Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung hielt, musste sich danach an folgendes Zeremoniell halten: Er musste an mehreren Gemälden vorbei im vornehmen Kavaliershaus gegenüber dem Nymphenburger Schloss ins Büro des einstigen Vorsitzenden Heinrich Meier schreiten, der ihm 5.000 Euro in kleinen Scheinen überreichte, "während er dem Referenten die Schwächen seines Vortrags darlegte", erzählen Jörg Häntzschel und Felix Stephan in der SZ. Die mit 642 Millionen Euro ausgestattete Stiftung, vor der alle in Ehrfurcht erschauern, kommt nun ins Gespräch nachdem ihr neuester Vorsitzender Marcel Lepper fristlos entlassen wurde, der die unschön ins Rechtsextreme lappende Vergangenheit seiner Vorgänger Armin Mohler und Meier hatte aufarbeiten wollen. Lepper will zwar nicht reden, "er verweist auf eine gütliche Einigung, die er mit der Stiftung erzielt hat". Aber die Artikelautoren haben einige interne Dokumente der Stiftung bekommen. Für die läuft es nicht mehr so gut: "Erste Konsequenzen seiner Demission zeichnen sich bereits ab: In einer ersten Reaktion haben mehrere Institute der Ludwig-Maximilians-Universität ihre Kooperationen mit der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung eingestellt."

Heute hat Georg Friedrich von Preußen zu einer Pressekonferenz in Berlin eingeladen, um "neueste Forschungen zur Geschichte des Hauses Preußen im 20. Jahrhundert" vorzustellen, berichtet Andreas Kilb in der FAZ. "Schon gestern hat Georg Friedrich allerdings die seit Langem spannendste Neuigkeit in der Hohenzollerndebatte verkündet. 'Als Chef des Hauses Hohenzollern', erklärte er in einem sehr untertänig geführten Interview der Welt, verzichte er auf Kunstwerke und Ausgleichszahlungen für Immobilien, die nach 1945 in der sowjetischen Besatzungszone aus dem Besitz seiner Familie enteignet wurden." Bleiben noch ein paar tausend andere Objekte, über die er gern noch mit der Politik diskutieren würde.

Außerdem: Im Tagesspiegel berichtet Nicola Kuhn über eine Tagung in Berlin, die sich mit dem Raubzug deutscher Truppen in China 1900 und der dabei erbeuteten Kunstobjekte beschäftigte.
Archiv: Kulturpolitik