9punkt - Die Debattenrundschau

Und dann gibt es keine Grenzen mehr

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.03.2023. Was zur Zeit in Israel geschieht, kommt einem Putsch von oben gleich, schreibt Yuval Harari in SZ online. Die taz gibt Entwarnung: Der Rassismus nimmt ab, es kommt halt drauf an, wie man rechnet. Die SZ erzählt, wie die Chinesen eine KI entwickeln, die nach Möglichkeit von vornherein innerlich gleichgeschaltet ist. Religion ist keine Privatsache, sagt die deutsch-iranische Schriftstellerin Noshin Shahrokhi bei hpd.de.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.03.2023 finden Sie hier

Europa

Nikolai Klimeniouk porträtiert für die FAZ den ukrainischen Komiker Serhiy Prytula, der in der Ukraine Spenden für Panzer sammelt und massive Erfolge hat: "Die Nachricht, dass die Stiftung mehr als hundert Transportpanzer gekauft hat, klingt nur wie eine Sensation. Das wirklich Sensationelle daran ist: Es ist nichts Außergewöhnliches passiert. Die Ukrainer geben alles, um ihr Land zu verteidigen. 94 Prozent von ihnen wollen laut der Umfrage des National Demographic Institute, dass ihr Land eine voll funktionsfähige Demokratie wird, 92 Prozent wünschen sich die Befreiung aller besetzten Gebiete und 82 Prozent lehnen einen Frieden um den Preis der Aufgabe der Krim und des Donbass ab."

In Frankreich findet gerade ein Psychodrama statt, kein Klassenkampf, erklärt der Soziologe Marcel Gauchet im Zeit-Interview die Proteste gegen die Rentenreform. "Die Rente ist ein Ersatz für den Sozialismus geworden, nach dem sich die Franzosen lange Zeit gesehnt haben. Ein Sozialismus, der sie davon träumen lässt, nur zwei, drei Stunden vormittags zu arbeiten. Frei von Zwängen, frei von Hierarchie, in einer Gesellschaft, die sehr antiautoritär ist. Sie wissen, dass es keinen Sozialismus geben wird, aber wenigstens gibt es die Rente. In Frankreich existiert eine besondere Tradition der Freizeit, des Familienlebens, die Enkelkinder werden oft von den Großeltern aufgezogen. Das alles ist Teil eines Mythos, der verlangt, dass man früh genug in Rente geht."
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Internet

Die Chinesen haben ein Problem mit der KI: das I darin darf nicht zu sehr hervortreten. Trotzdem wären sie gern Weltmeister auf dem Gebiet und entwickeln mit "Ernie" gerade eine Konkurrenz zu Chat-GPT, berichtet Kai Strittmatter in der SZ: Doch eine Furcht treibt "Zensoren und in ihrem Gefolge auch die Entwickler in China: Was, wenn die neuen Bots auch in China so außer Rand und Band geraten, wie sie das in den USA bisweilen tun? Was, wenn einer aus Versehen den Dalai Lama mag, Taiwan zu einem eigenen Staat macht oder das Leid der Uiguren beklagt? Die Erinnerung ist noch frisch an zwei chinesische Urahnen von Ernie und ChatGPT: Im Auftrag des Tencent-Konzernes beantworteten die Bots BabyQ und Xiaobing 2017 Nutzerfragen. Auf den Zuruf 'Lang lebe die KP' antwortete BabyQ mit einer Schimpftirade über das 'korrupte und unfähige' System, und Xiaobing fand, befragt nach Xi Jinpings Parole vom 'Chinesischen Traum', das sei wohl eher 'ein Albtraum'. Man hörte nie wieder etwas von den beiden."
Archiv: Internet

Gesellschaft

In der taz bringt Lea Fiehler eine erstaunliche Meldung. Die brandenburgische Initiative "Opferperspektive", die rassistische Gewalt im Land beobachtet, veröffentlicht eine Statistik, nach der die Zahlen rassistischer Straftaten gesunken seien und kritisiert die Polizei, die von höheren Zahlen berichtete - ungewöhnlich für eine Organisation, die an möglichst dramatischen Zahlen interessiert sein dürfte. Hintergrund ist ein Streit darüber, welche Taten als "rassistisch" einzustufen sind. Die Polizei bezieht sich nämlich auf das "PMK-Erfassungssystem" (Politisch motivierte Kriminalität), wo neuerdings auch "Deutschfeindlichkeit" neben "Fremdenfeindlichkeit" als Unterkategorie im Themenfeld "Hasskriminalität" eingeführt wurde. Das stört Anne Brügmann von "Opferperspektive": Taten, welche "dieser Logik zufolge nur deshalb fremdenfeindlich seien, weil Täter und Opfer unterschiedliche Nationalitäten haben, würden als rassistische Straftaten gewertet. 'Das hat die Statistik der Polizei nach oben getrieben', sagt Brügmann. … Von einem Rassismus gegen Deutsche zu sprechen, so Brügmann, das verkenne das Grundprinzip von Rassismus, der stets auf ungleichen Machtstrukturen beruht."

Im Interview mit hpd spricht die deutsch-iranische Schriftstellerin Noshin Shahrokhi über die Aufstände im Iran, den sie vor 36 Jahren verlassen musste, und ihren neuen Roman "So leicht kommst du nicht ins Paradies", der den Hintergrund für die Wut vieler Muslime auf Frauen aber auch für Anschläge wie den auf Salman Rushdie thematisiert: "Es ist mir wichtig, dass die Deutschen die kulturellen Hintergründe verstehen, warum bestimmte Menschen, ohne sein Buch gelesen zu haben, denken, dass sie verpflichtet sind, ihn zu vernichten. Wenn man versteht, findet man einen Weg. Aber wenn einem die Kultur und diese Taten fremd sind, kann man auch keine Lösung finden. Ich finde, viele Wege zur Integration in Deutschland sind nicht richtig. Viele Mädchen werden in den muslimischen Familien allein gelassen. Das Kindeswohl, über das man so viel spricht, gilt nicht für diese Mädchen, weil Religion als Privatsache angesehen wird. Wenn diese Religion aber so fundamentalistisch ausgeübt wird, dass Kinder darunter leiden, muss ihnen geholfen werden, und es ist keine Toleranz, sondern Ignoranz, zu sagen, das sei Sache der Familie.

Wenig bekannt ist die Geschichte von Säuglingsheimen, die sowohl in der DDR als auch in Westdeutschland in den Fünfzigern und Sechzigern boomten und in denen sich die Moralvorstellungen der Zeit grauenhaft ausprägten. Überlebende können nicht berichten, weil sie sich schlicht nicht erinnern können, schreibt der Historiker Felix Berth, der zum Thema forscht, in der FAZ. Meist richteten sich die Institutionen gegen alleinstehende Mütter: "Diese Frauen waren gezwungen zu arbeiten, hatten aber kein Netzwerk aus Großeltern oder Freunden, das ihnen bei der Kinderbetreuung geholfen hätte. Meist waren sie schlecht oder überhaupt nicht ausgebildet, waren häufig chronisch krank, und zumindest in Westdeutschland wurde ein Teil von ihnen in den Akten der Behörden als Prostituierte geführt. Das Säuglingsheim galt den Ämtern damals noch als Lösung dieser Probleme, weil Kinder dort alles erhielten, was man als wichtig ansah: ausreichend Nahrung, saubere Windeln und eine von Hygieneprinzipien geprägte Pflege durch rigides Personal, das man für professionell hielt."

Den Arbeitskräftemangel könnten wir ausgleichen, wenn mehr Frauen weniger Teilzeit und mehr Rentner arbeiten würden. Viele wollen auch, meint der Zukunftsforscher Daniel Dettling in der Welt, man muss sie nur lassen, und vor allem ersteren brauchen Unterstützung. Und nicht nur vom Staat, meint Dettling Richtung Arbeitgeber. "Von den 58.500 Kitas in Deutschland sind nur etwas mehr als ein Prozent Betriebskitas. Mehr Kitas in den Unternehmen hätten einen doppelten Effekt: zufriedene Beschäftigte und mehr Babys. Mehr Geschlechter- und Generationengerechtigkeit sind die Bedingungen für eine moderne Arbeitsgesellschaft. Hohe Teilzeitquoten von Frauen und Müttern und geringe Erwerbsquoten von Älteren sind Relikte einer Arbeitsgesellschaft, die demografisch auf Kosten der Zukunft gelebt hat. Tragen wir diese alte Arbeitsgesellschaft endlich zu Grabe."
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Ideen

In der NZZ verteidigt der Soziologe und Habermas-Biograf Stefan Müller-Doohm Jürgen Habermas gegen die Kritik in der NZZ (unser Resümee). "Die Praxis internationaler Politik, zu der auch Abschreckungsstrategien und die Ahndung des Bruchs des Völkerrechts gehören, hat für Habermas nichts mit dem Entwerfen von Utopien eines ewigen Friedens zu tun. Vielmehr macht er für sie den Maßstab intelligenten Handelns geltend, das nicht zuletzt darin besteht, für Konflikte denkbare Lösungsmöglichkeiten für Verhandlungsräume zu ersinnen und real zu schaffen."

Außerdem: In der taz schreibt Waltraud Schwab einen Nachruf auf die Berliner Feministin Irene Stoehr, die im Alter von 82 Jahren gestorben ist.
Archiv: Ideen

Politik

Was derzeit in Israel geschieht, kommt einem Putsch gleich, schreibt Yuval Harari in der SZ online, einem "Putsch von oben". Um einen solchen zu erkennen, müsse man sich die Frage stellen: "'Welche Grenzen werden der Macht der israelischen Regierung unter den neuen Regelungen noch gesetzt sein?' Angenommen, die Regierungskoalition beschlösse, den Arabern per Gesetz das Wahlrecht zu entziehen - existiert ein Mechanismus, der einen solchen Schritt verhindern kann? In anderen Demokratien gibt es viele Kontrollinstanzen, mithilfe derer man die Verabschiedung eines solchen rassistischen und antidemokratischen Gesetzes verhindern könnte. In Israel gibt es derzeit nur eine einzige solche Instanz - den Obersten Gerichtshof. Wenn eine Mehrheit der Knesset-Abgeordneten dafür stimmte, Araber zu entrechten, Arbeitnehmern das Streikrecht zu verweigern oder all jene Zeitungen zu schließen, die es wagen, die Regierung zu kritisieren, ist der Oberste Gerichtshof die einzige Institution, die befugt ist, einzugreifen und solche Gesetze zu kippen." Nach der "Rechtsreform" werde der Oberste Gerichtshof die Macht dazu jedoch verloren haben. Und dann gibt es keine Grenzen mehr für die Macht der Regierung. Kurz: es ist ein Putsch, so Harari.

Aus der historischen Verantwortung Deutschlands für den Holocaust konstruiert der israelische Politologe Roee Kibrik in der taz die Verpflichtung Deutschlands, Israel vor seiner Regierung zu retten: "Ohne Zweifel besteht in Berlin die Sorge davor, dass jede Kritik an Israel umgehend als Antisemitismus gebrandmarkt werden wird. Nicht Israel steht in der Kritik, sondern Israels Regierung. Deutschland trägt Verantwortung für die Existenz Israels und für die Demokratie. Alles andere wäre ein Betrug an den Lehren, die aus dem Holocaust gezogen wurden."

FAZ-Redakteurin Sandra Kegel lehnt die Forderung an Olaf Scholz, den Netanjahu-Besuch abzusagen, ab. Gefordert wird sie in einem Papier von tausend israelischen Intellektuellen, unter anderen David Grossman. Gerade jetzt sei doch das Gespräch nötig, so Kegel. Schließlich "erfordert gerade ein prekärer Zustand, wie er derzeit in Israel herrscht, das Gespräch mehr denn je. Die Unterzeichner verweisen auf die langjährige Unterstützung Israels durch Deutschland und darauf, dass diese 'Stimme' dringend gebraucht werde. Eben deshalb sollte jetzt nicht Cancel Culture à la BDS gepflegt werden."
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Medien

Der Zeithistoriker Paul Nolte greift in den Streit um die Staatsfinanzierung von Presseinstituten wie Sinn und Form ein, gegen die Lettre-International-Herausgeber Frank Berberich geklagt hat (unsere Resümees). Dem Professor missfällt Berberichs "Staatspresse"-Rhetorik. Nolte möchte den Staat nicht als Feindbild sehen und freut sich, dass die Fusion von Staat und Gesellschaft in Deutschland quasi längst stattgefunden hat: "Der Staat als Schirmherr, als Treuherr, gewiss auch als Finanzier und oft genug als Ermöglicher von Zivilgesellschaft, von Wissenschaft, von Kultur und Kreativität: Das ist Normalität in liberalen Demokratien, in freiheitlichen Gesellschaften. Ohne 'Staatsknete' keine freie Kulturszene. Und wer würde bestreiten, dass deren Freiheit uneingeschränkt gilt - oder handelt es sich vielmehr um 'Staatskünstler'?"
Archiv: Medien