9punkt - Die Debattenrundschau

Chaos ist einfach nur Chaos

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.03.2023. Der Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs macht Wladimir Putin zum Paria, stellt ZeitOnline fest, Straffreiheit kann es für ihn nun nicht mehr geben. Die SZ sperrt sich gegen Russland-Exegesen, die dem Land Nihilismus und Mongolenherrschaft in die DNA einschreiben. In der FAZ bewundert Zaal Andronikashvili, wie die georgische Jugend für Europa auf dem Strahl der Wasserwerfer tanzt. Vor zwanzig Jahren traten die USA und Britannien den Krieg gegen den Irak los, Guardian und SZ ziehen eine deprimierende Bilanz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.03.2023 finden Sie hier

Politik

Vor zwanzig Jahren begannen Amerikaner, Briten und ihre Alliierten den Irakkrieg mit dem berüchtigten Shock-and-Awe-Angriff auf Bagdad. Der Guardian umreißt recht bündig die verhängnisvolle Bilanz des Krieges: "Die Invasion machte die Hoffnungen auf eine Stabilisierung Afghanistans zunichte, indem sie Aufmerksamkeit, Ressourcen und Truppen abzog. Sie hat den Iran gestärkt und ermutigt. Sie bestärkte Nordkorea in seiner Überzeugung, dass der Erwerb und die Verteidigung von Massenvernichtungswaffen unerlässlich sind. Er beschleunigte das Ende des kurzen unipolaren Moments und untergrub die Visionen einer auf Regeln basierenden globalen Ordnung. Ein militärisches Abenteuer, das von vielen Akteuren nach den Anschlägen vom 11. September als dreiste Stärkung der Vormachtstellung der USA gedacht war, hat das Land nur geschwächt und unterminiert - umso mehr nach den Schrecken von Abu Ghraib und der allgemeinen Brutalität gegen Zivilisten. Russland und China haben dies zur Kenntnis genommen."

In der SZ ergänzt Dunja Ramadan, dass die USA mit dem Krieg ihren moralischen Kredit in den Ländern des Globalen Süden verspielt haben: "Ihr Eindruck ist: Wenn es um westliche Interessen geht, ist das Völkerrecht beliebig interpretierbar. Sie geben deshalb nicht viel darauf, wenn die USA plötzlich auf das Völkerrecht beharren. Natürlich taugt ein früherer Angriffskrieg nicht zur Rechtfertigung des eigenen Angriffskriegs. Doch für viele Menschen im Nahen und Mittleren Osten sind die Amerikaner nicht die Anführer der 'freien Welt', sondern verhasste Besatzer, die ihr Land ins ewige Chaos gestürzt haben."

Guardian-Kolumnist Jonathan Freedland zieht aus dem Desaster zwei Konsequenzen: "Ein ehemaliger hochrangiger Geheimdienstoffizier drückte es mir gegenüber diese Woche so aus: 'Wie abscheulich ein Regime auch sein mag, Chaos und Unordnung sind schlimmer'. Zumindest könne man ein abscheuliches Regime zur Rechenschaft ziehen und Maßnahmen dagegen ergreifen, erklärte der Ex-Spion und nannte das heutige Russland als Beispiel. Aber Chaos ist einfach nur Chaos. Eine zweite Lektion: Wenn es um klassifizierte Geheimdienstinformationen geht, sollte man skeptisch sein. Als Blair die Gründe für den Krieg darlegte, legte er großen Wert auf die Geheimdienstinformationen, die seiner Meinung nach 'keinen Zweifel' daran ließen, dass Saddam Massenvernichtungswaffen besaß. Das stellte sich bekanntlich als völlig falsch heraus: Es gab keine Massenvernichtungswaffen. Die Chilcot-Untersuchung ergab, dass der damalige Premierminister die Bedrohung absichtlich übertrieben hatte und 'eine Gewissheit behauptete, die nicht gerechtfertigt war'. Allein diese Tatsache reicht aus, um Blair in den Augen der Geschichte zu verdammen."

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Bei Staatsbesuchen im Westen mögen Georgiens Politiker noch proeuropäische Masken aufsetzen, aber in Tiflis selbst schlagen sie unverhohlen andere Töne an, schreibt der Literaturwissenschaftler Zaal Andronikashvili in der FAZ und feiert die Proteste gegen die Regierung des moskautreuen Oligarchen Bidsina Iwanischwili: "Auch die bisher als apolitisch geltende Generation Z nahm aktiv an den jüngsten Protesten teil. Für viele junge Menschen, die der georgische Ministerpräsident nur 'als Satanisten verkleidet' nennt, war das ihre erste Demonstration. Salome Kenchiaschwili etwa wurde als 'das Mädchen, das mit dem Wasserstrahl tanzt' schlagartig berühmt, nachdem ein Video viral ging, auf dem zu sehen ist, wie sie minutenlang um den Strahl eines Wasserwerfers der Polizei mit der georgischen Fahne herumtanzt. Die Minderjährige wurde von der Polizei gewaltsam festgenommen, ließ sich aber nicht einschüchtern. Salome ist eine Sportlerin, ihr Geld verdient sie als Verkäuferin. Sie wird wiedererkannt und als Heldin gefeiert, doch als Heldin sieht sie sich nicht. Dem Sender Radio Free Europe Georgien sagte sie, dass sie protestieren ging, weil sie nicht eines Tages in Russland aufwachen wollte."



In der FR fragt sich die Susan Neiman, Philosophin und Direktorin des Einstein Forums, warum Deutschland Benjamin Netanjahu nicht auf höfliche Art ausgeladen hat. Beschönigung können doch die Deutschen: "Deutsche Medien berichten zwar von 'regelmäßigen Großdemonstrationen'. Was nicht berichtet wird: dass tausende Demonstranten die Wege zum Flughafen blockierten, als Netanyahu letzte Woche nach Italien zum Staatsbesuch bei Giorgia Meloni fliegen wollte. Netanjahu musste per Helikopter zum Flughafen gebracht werden. Allerdings wurde er mit einem Polizeihelikopter geflogen, statt wie üblich mit einem der Luftwaffe. Traute er der Luftwaffe nicht, da viele ihrer Piloten verkündet haben, gar nicht zu fliegen, falls das geplante Justizgesetz verabschiedet wird? Schon davor haben sich die Piloten von El Al, der nationalen Fluggesellschaft, geweigert, ihren eigenen Premierminister zu fliegen; die Manager der Gesellschaft mussten selbst die Kontrolle übernehmen. Sieht das wie eine normale Demonstration aus, egal welcher Größe?"

Im FR-Interview mit Michael Hesse glaubt die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur überhaupt nicht, dass der Aufstand der Iranerinnen schon vorbei sei. Und vor allem betont sie, dass sich jetzt auch die einfachen und konservativen Milieus den Protesten angeschlossen haben: "Es gibt Umfragen, die sogar vom Regime selbst in Auftrag gegeben wurden, die sagen, dass selbst in den religiösen Zentren Irans es ebenso viele Gegner wie Befürworter des Kopftuchs gibt. Das ist eine immens hohe Zahl für diese Zentren. Manch eine mag ja sagen, dass sie persönlich ein Kopftuch tragen würde, was aber falsch sei, ist der staatliche Zwang im Iran, das Kopftuch zu tragen. Ich würde daher eher annehmen, dass hier 90 Prozent der Bevölkerung diese Einstellung haben. Davon abgesehen, geht es gar nicht um das Kopftuch als solches, es geht um das Kopftuch als Symbol der islamischen Republik."
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Europa

Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat Haftbefehl gegen Wladimir Putin und seine Beauftragte Marija Lwowa-Belowa erlassen, nicht wegen Führung eines Angriffskriegs, sondern wegen der Deportation ukrainischer Kinder nach Russland. Das Verbrechen ist bestens dokumentiert, das Verfahren juristisch gut vorbereitet, räumt Andrea Böhm auf ZeitOnline ein. Aber ist es klug? "Mit dem größten Nachbeben des Haager Beschlusses werden nicht die Juristen, sondern die Politikerinnen und Politiker umgehen müssen. Als mutmaßlicher Kriegsverbrecher rutscht Wladimir Putin in den Status eines Parias - jedenfalls für all jene, die sich klar auf die Seite der Ukraine gestellt haben. Das wird Verhandlungen, wann immer sie anstehen werden, nicht einfacher machen. Straffreiheit, das ist für den russischen Präsidenten nun endgültig klar, wird es für ihn nicht geben."

Dir russische Armee begeht in der Urkraine schwere Kriegsverbrechen. Aber führt sie auch einen Vernichtungskrieg? In der taz sieht Konstantin Sakkas das nicht so. Die Wehrmacht hat einen Vernichtungskrieg in Osteuropa geführt oder Scipio Africanus gegen Karthago (als er die Erde mit Salz vernichten ließ). Sakkas legt Wert aufs Unterscheiden: "Ein Vernichtungskrieg ist es, wenn etwa befohlen wird: alle Akademiker, alle Offiziere ab einem bestimmten Rang, alle erwachsenen Einwohner mit so und so viel Vermögen oder Eigentum, alle Ingenieure oder Journalisten oder Feuerwehrleute werden aufgesucht und getötet. Oder Soldaten, die sich bereits ergeben haben, sollen systematisch 'im Kampf erledigt' werden."

Der in Potsdam lehrende Historiker Christian Th. Müller empfiehlt ebenfalls in der taz, vor weiteren Debatten über Waffenlieferungen erst mal Clausewitz zu lesen: "Ohne den Krieg zunächst politisch zu denken, die politischen Verhältnisse zu analysieren und die politischen Zwecke festzulegen, ist die Entwicklung einer Strategie, die zum gewünschten politischen Ergebnis führt, logischerweise nicht möglich. Mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet dies, dass es höchste Zeit ist für eine umfassende Debatte darüber, wie dieser Krieg beendet und wie die sicherheitspolitische Ordnung in Osteuropa sowie das Verhältnis zu Russland künftig gestaltet werden soll."
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Ideen

In der SZ opponiert Sonja Zekri gegen neue Russland-Exegesen, die dem Land Imperialismus, Nihilismus, Alkoholismus und Mongolenherrschaft quasi in die DNA schreiben. Sie nennt Historiker wie Karl Schlögel oder Gerd Koenen, Publizisten wie Jörg Himmelreich und Michael Thumann, die in diesem Frühjahr wichtige Werke vorlegen: "Die Bonner Osteuropa-Historikerin Katja Makhotina sieht die versprochene Umdeutung der Vergangenheit ohnehin skeptisch. Man könne nicht ohne neue Quellen jedes Mal die Historie umschreiben, wenn es die Tagespolitik erfordere. Ebenso wenig dürfe man neuzeitliche Konzepte von Staatlichkeit oder Nationalismus dem jahrhundertelangen hochkomplexen Aushandlungsprozess in Osteuropa aufstülpen. Noch größer sind ihre Vorbehalte gegenüber der Vorstellung, dass Russland oder zumindest Putin unter dem Eindruck eines 'postimperialen Syndroms' gar nicht anders handeln könnten: 'Putin versucht auf rhetorischer Ebene, seine Handlungen historisch zu legitimieren. Doch nicht die Rhetorik ist handlungsleitend, sondern umgekehrt: Politische Praxis ruft die Rhetorik hervor', sagt sie: 'Begriffe wie Syndrom, Komplex, Trauma haben nichts verloren in unserer kognitiven Auseinandersetzung mit Quellen und Empirie.'"
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Geschichte

Willy Brandts Ostpolitik, die Anerkennung von Polens Westgrenze, war politisch und historisch richtig, schreibt Joachim Käpnner in der SZ: "Die Probleme, die in die Verkennung des Putin'schen Imperialismus führen sollten, begannen erst viel später. Schon in der Ära Kohl fiel es der nun wieder in die Opposition verbannten SPD auffällig schwer, sich mit den Bürgerrechtsbewegungen in Osteuropa, selbst in der DDR, solidarisch zu zeigen. Sie schienen die Realpolitik zwischen Staaten und Blöcken zu gefährden. Der Fehler der deutschen Russlandpolitik nach dem Zerfall der Sowjetunion war es dann aber nicht, überhaupt einen Kurs der Entspannung zu verfolgen. Was anderes hätte man denn versuchen sollen? ... Das Problem war, diesen Kurs nach der Annexion der Krim und des Donbass 2014 fortzusetzen, als sei sie blind und taub zugleich für das Abgleiten Putins in neoimperialistisches Weltmachtgebaren."
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